4. KAPITEL

Realitätsverlust in Vollendung: Die Techno-Religion des Transhumanismus

»Ich beschwöre Euch, meine Brüder,
bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht,
welche Euch von überirdischen Hoffnungen reden!
Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.«

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Band 1, 1883

Die Ziele der Aufklärung und des aus ihr hervorgegangenen Humanismus waren es, den Menschen durch Chancengleichheit, Bildung und kulturelle Entfaltung zu sich selbst finden zu lassen. Demgegenüber ist der sogenannte Transhumanismus von der Vorstellung geleitet, die biologischen und geistigen Begrenzungen menschlichen Lebens vorrangig mit technologischen Mitteln zu überwinden und den Menschen dadurch in ein posthumanes Wesen zu verwandeln. Langfristig soll der Mensch, wenn möglich, durch eine unsterbliche digitale Simulation oder durch Künstliche Superintelligenzen ersetzt werden. Zu den Ideen, die den Transhumanismus heute ausmachen, haben in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Autoren beigetragen.143 Der Begriff des Transhumanismus geht auf Julian Huxley (1887–1975) zurück, der eugenischen Ideen anhing.144 Sein heutiges Gepräge erhielt der Transhumanismus durch den englischen Philosophen Max More (*1964), den US-amerikanischen Computerwissenschaftler Ray Kurzweil (*1948), Leiter des Bereichs Technische Entwicklung beim Technologiekonzern Google, durch den schwedischen, an der Universität Oxford lehrenden Philosophen Nick Bostrom (*1973) und zuletzt durch ein Werk des aus Australien stammenden, in New York lehrenden Philosophen David Chalmers (*1966). Es sind vor allem Werke dieser Autoren, auf die der derzeitige Diskurs zum Thema Transhumanismus Bezug nimmt. Speziell in Deutschland im Sinne des Transhumanismus einflussreich war auch der israelische Historiker Yuval Harari (*1976) mit seinem Werk Homo Deus.

Die Versprechen des Transhumanismus betreffen die Überwindung so gut wie sämtlicher geistiger und körperlicher Begrenzungen des Menschen. Dazu gehört in einer ersten Phase, in der wir uns bereits befinden, dass digitale Zusatzelemente unseren Geist leistungsfähiger machen sollen. Unsere Wahrnehmung soll durch eine digital angereicherte Realität (»Augmented Reality«) erweitert werden. Dies kann durch spezielle Brillen geschehen, die uns Informationen oder simulierte Gegenstände in unser Blickfeld einspielen. Zu dieser ersten Phase gehören auch genetische Eingriffe und weitere medizinisch-technologische Maßnahmen, die unseren Körper von Krankheiten, Alterung und Sterblichkeit befreien sollen. Das Ergebnis dieser ersten Stufe der Verbesserung wäre ein sogenannter Cyborg, ein Mischwesen aus einem Menschen und technologischen Elementen.

Doch die vom Transhumanismus ausgegebenen Vorhersagen und Ziele reichen weiter. Die bereits genannten Wortführer gehen davon aus, dass Lebewesen – und das Leben überhaupt – nach dem Prinzip von technischen Maschinen funktionieren. Das Verhalten des Menschen sei nichts weiter als das Ergebnis eines – wenn auch sehr komplexen – Algorithmus. Daher seien der biologische Körper und das Gehirn, einschließlich des Bewusstseins, digital simulierbar. Der menschliche Geist lasse sich in nicht allzu ferner Zukunft in einen Computer übertragen oder »uploaden«. Das damit ausdrücklich verbundene Versprechen ist nicht mehr und nicht weniger als die Unsterblichkeit. Ähnlich wie sich schon jetzt durch digitale Simulation künstliche Welten schaffen ließen, lasse sich auch der Mensch virtuell simulieren und in diese virtuellen Welten hineintransferieren. Künstliche Intelligenzen könnten aber auch unseren Planeten verlassen, um ferne Planeten zu besiedeln.

Die mit der Entwicklung digitaler Technologien verbundenen wirtschaftlichen Interessen und der Transhumanismus stehen in einem sich gegenseitig verstärkenden wechselseitigen Verhältnis. Da die Ideen des Transhumanismus den Einsatz gewaltiger digitaler Technologien vorsehen, finden sie in Investoren- und Unternehmerkreisen großen Anklang. Das liegt nicht nur an den gewaltigen Verdienstmöglichkeiten, sondern auch an dem Umstand, dass demokratische Prinzipien, insbesondere soziale Fairness und für alle zugängliche Bildungssysteme, nicht zu den Anliegen des Transhumanismus zählen, eher im Gegenteil. Zu den Sympathisanten und Förderern von Projekten, die sich am Futurismus des Transhumanismus orientieren, gehören einige der reichsten und einflussreichsten Menschen dieser Welt, unter ihnen – nur zwei Beispiele unter vielen – Elon Musk und Peter Thiel sowie einige von ihnen geförderte, vorzugsweise zur Republikanischen Partei der USA gehörende Politiker.145

David Chalmers’ Reality+: Ein Manifest des Realitätsverlustes146

Narrative können auch dann, wenn Zweifel an ihrer Richtigkeit angebracht sind, eine gewaltige Macht entfalten. Die Transfers unseres Lebens in die digitalen Räume, die ich im dritten Kapitel beschrieben habe, sind keine Nebenschauplätze. Dass sie Teil einer heraufziehenden neuen Sichtweise auf das sind, was wir bisher die Realität nannten, macht ein 2022 erschienenes Werk von David Chalmers deutlich.147 David Chalmers ist ein weltweit angesehener Philosoph und gehört zu den Denkern, die ich in der Vergangenheit immer wieder gerne zitiert habe. Der Grund war, dass sich seine philosophischen Überlegungen zur Natur des menschlichen »Selbst« überraschend gut mit Erkenntnissen ergänzten, die wir aus neurowissenschaftlicher Sicht über dieses »Selbst« haben.148 Doch darum geht es in seinem neuesten Werk nicht. Wenn ein Philosoph von seinem Kaliber unter dem Titel Reality+ ein Werk vorlegt, in dem er nicht nur auf ganzer Linie auf den Transhumanismus einschwenkt, sondern zugleich die Grenzen zwischen der analogen Realität und digitalen Simulationen auflöst, dann gleicht dies einem Erdbeben.

David Chalmers vollzieht die Auflösung der Grenze zwischen Realität und digitaler Simulation von beiden Seiten her: Er erhebt digitale Simulationen in den Rang einer vollwertigen Realität, zugleich hält er es für wahrscheinlich, dass die Welt der analogen Realität einschließlich aller naturwissenschaftlichen Tatsachen, derer wir uns bisher sicher waren, selbst eine digitale Simulation sei, die von einer uns unbekannten höheren Stelle aus inszeniert sei. Auch die Abläufe im menschlichen Gehirn lassen sich nach Chalmers’ Überzeugung digital simulieren, das menschliche Bewusstsein lasse sich auf einen Computer uploaden, Menschen könnten dadurch Unsterblichkeit erlangen. Wenn diese abenteuerliche Umdeutung der (bisherigen) analogen Realität als Simulation einerseits und die Aufwertung digitaler Simulationen zu einer gleichwertigen Realität andererseits von einem – bislang – so kritischen Geist wie David Chalmers vorgenommen werden, dann ist davon auszugehen, dass sich der in diesem Denken ausdrückende Realitätsverlust, zumindest in den USA, zu einer herrschenden Philosophie entwickeln wird oder schon entwickelt hat. Es kann uns in Europa, dem Kontinent der Aufklärung, nicht unberührt lassen, wenn in der westlichen Führungsmacht ein Denken die Oberhand gewinnt, das hinter die Aufklärung zurückfällt, die Grenze zwischen »Fake« und »Real« verwischt und einer digitalen Mystik das Wort redet.

Digitale Metaphysik I: Umdeutung von Simulation(en) zur neuen Realität

Die Beobachtung, dass die Nutzung von Videospielen ein Ausweichen in eine Ersatzwelt sein kann und dass der intensive Gebrauch virtueller Spiele im menschlichen Erleben zu einer Verwischung zwischen Realität und simulierter Scheinwelt führen kann (siehe Kapitel 3), findet in Chalmers’ Werk ihren philosophischen Nachvollzug. Tatsächlich lässt Chalmers seine Argumentation mit der Erwähnung des Metaversum-Vorläufers Second Life beginnen. Die virtuellen Fantasieräume von digitalen Spielen und die darin auftretenden Avatare seien vollständig real.149 Diesen Anspruch gründet Chalmers auf eine interessante, bei näherer Betrachtung aber etwas abenteuerliche Argumentation: Damit vor unseren Augen virtuelle Objekte erscheinen könnten, müssten diese zunächst durch Strukturen in Computer-Schaltkreisen (durch »Structures of bits«) als digitale Objekte erzeugt werden. Die in den Computer hineinprogrammierten und dort gespeicherten digitalen Objekte seien unzweifelhaft real, eine so weit sicher unbestreitbare Annahme.

Mit einem Konzept, das er »Virtuellen Realismus« nennt, überträgt Chalmers den Realitätsanspruch von digitalen Objekten (die im Computer als Programme verborgen sind) auf die virtuellen Objekte (die für uns am Bildschirm sichtbar sind).150 Damit verwechselt er den Werkstoff (das digitale Programm) mit dem Produkt (dem für unsere Wahrnehmung erzeugten Bild), so als würde man Pinsel, Farbe und zerlegte Teile von bemalter Leinwand mit einem gemalten Bild gleichsetzen. Wenn Chalmers ergänzend argumentiert, dass virtuellen Objekten, also den für unser Auge sichtbaren Scheinwelten, auch deswegen ein Realitätsanspruch zustehe, weil sie eine kausale Kraft (auf den Betrachter, aber auch auf andere virtuelle Objekte) ausüben könnten,151 wird ausgeblendet, dass diese »kausale Kraft« nicht im virtuellen Objekt selbst steckt, sondern ihr durch die Hand eines Programmierers und durch einen Stromanschluss verliehen wurde. Ein simulierter Gewitterregen macht weder den Computer noch den Bildschirm nass. Ein simuliertes schwarzes Loch zieht niemanden in den Computer oder in den Bildschirm hinein. Hinzu kommt die banale Tatsache, dass allen simulierten Objekten die behauptete »kausale Kraft« abhandenkommt, sobald man dem Computer oder dem Bildschirm den Stecker zieht. Mit der kausalen Kraft verschwindet dann auch die zur Realität hochgejubelte simulierte Schein-Realität.

Nicht nur Dinge und materielle Umwelten, auch Lebewesen lassen sich, Chalmers zufolge, perfekt digital reproduzieren. Das Leben sei nicht mehr als die in Lebewesen wirksame Chemie und Physik.152 Lebewesen sind in seiner Sichtweise biologische Maschinen, die sich mit einer ausreichend gut entwickelten Technologie durch Computer digital simulieren lassen, sodass sie vom Original nicht unterscheidbar sind.153 Nicht nur der menschliche Körper, auch das menschliche Gehirn sei eine »mechanische Maschine«, wenn auch eine komplizierte.154 Menschliches Verhalten folge algorithmischen Vorgaben des Gehirns, es sei daher davon auszugehen, dass der Mensch nicht über einen freien Willen verfüge.155 Innerhalb von weniger als hundert Jahren seien akkurate digitale Simulationen eines menschlichen Gehirns und seines Verhaltens möglich. Simulierte menschliche Gehirne könnten nicht nur über Intelligenz verfügen, sondern auch ein Bewusstsein besitzen.156 Man könne auch ohne Gehirn ein bewusstes Erleben haben: Als stoffliche Grundlage könnten anstatt eines Gehirns auch Silizium-Chips dienen.157 Damit entkoppelt Chalmers das menschliche Denken und Fühlen von seinen körperlichen Grundlagen und etabliert eine digitale Metaphysik. Eine perfekte Simulation des eigenen Körpers und des eigenen Gehirns werde sich genauso verhalten wie das Original.158

Digitale Metaphysik II: Menschlicher Geist, hochgeladen in eine Maschine und damit unsterblich

Da sich Gehirne simulieren ließen, seien die Voraussetzungen gegeben, den Geist und das Bewusstsein von Menschen in einen Computer zu übertragen, das schon erwähnte Mind Uploading.159 Dabei gehe man, so die geradezu fürsorgliche und erstaunlich detaillierte Empfehlung von Chalmers, am besten in kleinen Schritten vor und ersetze peu à peu Nervenzellen durch Chips.160 Dabei sei sicherzustellen, dass jeder neue Chip mit seiner Umgebung so interagiere, wie es die jeweilige Nervenzelle getan habe, die ersetzt worden sei.161 Dann sei es möglich, »dass die originale Person stirbt und eine neue Person geschaffen wird«.162 Die transferierte Person habe Aussicht auf »immortality«, also auf Unsterblichkeit. Nun müsse sie nur noch mit einer virtuellen Welt verbunden werden: »Die virtuelle Welt ist eine Art Himmel, wo Menschen für immer leben können.«163

Die Sehnsucht nach virtuellen Ersatzwelten erinnert an das als Eskapismus bezeichnete Motiv, einer nicht mehr erträglichen realen Welt zu entkommen. Dieses Motiv war uns bereits im Zusammenhang mit den sozialen Medien, mit den Videospielen und mit dem Metaversum begegnet. Es wird durch David Chalmers bestätigt und ausdrücklich geteilt. »Es ist das Jahr 2095. Die Oberfläche der Erde ist ein Wrack, ein Opfer nuklearer Kriegsführung und des Klimawandels. Sie würden hier auf der Erde eine armselige Existenz führen. … Oder Sie könnten Ihren physischen Körper in ein gut geschütztes Lagerhaus verschließen lassen und in eine virtuelle Welt eintreten.« Chalmers fährt unmittelbar fort, uns die Sache wie folgt weiter schmackhaft zu machen: »Lassen Sie uns diese virtuelle Welt Wirklichkeitsmaschine nennen. In der Wirklichkeitsmaschine würden Sie sich viel komfortabler fühlen als in der physischen Realität. Diese Welt ist sicherer, für jeden gibt es unberührtes Land. Die meisten Ihrer Freunde und Familien sind schon hier. Sie haben die Chance, eine Gemeinschaft aufzubauen und etwas zu bewirken. Sie haben nun die Wahl. Würden Sie in die Realitätsmaschine eintreten?«164 Eskapismus reinster Art. Narrative dieser Art haben Effekte im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Sie stellen die reale Welt als nicht mehr lebenswert und nicht mehr rettbar dar. Sie betören und verführen den Menschen mit digitaler Mystik. Dass sie von einem angesehenen Philosophen des 21. Jahrhunderts vertreten werden, ist erstaunlich.

Angesicht der rosigen Versprechungen zum Leben im digitalen Jenseits lohnt es sich, auch bei David Chalmers das »Kleingedruckte« zu lesen.165 Wir hörten bereits das Versprechen, dass es in der virtuellen Realität »für jeden unberührtes Land« gebe. Die verlockenden Ansagen gehen noch darüber hinaus: »Die virtuelle Welt kann die Knappheit an vielen materiellen Gütern beseitigen. … Jedermann kann auf Wunsch eine eigene idyllische Insel haben. Auch der Hausbau ist nicht schwierig. Jedermann kann ein geräumiges, wunderschön gelegenes virtuelles Zuhause haben. Das Ergebnis kann virtueller Überfluss sein.«166 Der wie nebenbei eingestreute Hinweis, dass die Kosten gering seien, weist darauf hin, dass, wie schon beim Videospielen und beim Metaversum, auch im Jenseits bezahlt werden muss. Zur Frage, wie Einkommensschwache für ihre Ausgaben in der virtuellen Welt bezahlen sollen, schlägt Chalmers ein allgemeines Grundeinkommen vor.167 Etwas später werden die utopischen Versprechen dann aber wieder einkassiert: »Es ist leicht, sich vorzustellen, dass gegenwärtige Ursachen für gesellschaftliche Unterdrückung sich in die virtuelle Welt übertragen werden. Der Zugang zur virtuellen Welt dürfte für manche Gruppen viel leichter sein als für andere. … Wir können nicht erwarten, dass die virtuelle Welt eine egalitäre Utopie werden kann.«168 Es haben also nicht alle gleichen Zugang zum digitalen Himmelreich, und Geld entscheidet: die Rückkehr des mittelalterlichen Ablasshandels.

Die Nähe zu einer neuen, hinter die Aufklärung zurückgehenden Mystik muss den Vertretern des Transhumanismus nicht angedichtet werden, sie bringen sie ganz unverhohlen selbst zum Ausdruck. Die Vision, digitale Lebenswelten erschaffen zu können, in denen bewusstseinsfähige digitale Simulationen von Menschen ihr Leben verbringen, lässt Fantasien aufscheinen, die man heutzutage eher in einem Kinderbuch als in einem philosophischen Werk erwarten würde. »Wenn wir selbst simulierte Welten erschaffen, werden wir die Götter dieser Welten sein. Wir werden, soweit es diese Welten betrifft, allmächtig und allwissend sein. Wenn die simulierten Welten komplexer werden und simulierte Wesen mit eigenem Bewusstsein beinhalten, dann wird es eine gewaltige Verantwortung sein, Gott einer simulierten Welt zu sein.«169 Vorstellungen dieser Art sind ein Kennzeichen der Spiele, die Kinder mit Figuren spielen. Hier sind sie Teil eines philosophischen Werkes und werden ohne jede Ironie vorgetragen. Wir sollten sie ernst nehmen. Der reale, wahre Kern hinter diesen Ausführungen wird deutlich, wenn wir sie mit dem kritischen Verstand der Aufklärung reflektieren: In den Tech-Konzernen, die virtuelle Welten für Videospiele und das Internet entwerfen und weitergehende künstliche Welten planen, konzentriert sich eine derart umfassende Macht, wie es sie nur im Feudalismus und in der mittelalterlichen Kirche gab. Diese Macht bedarf einer Konfrontation, einer neuen Aufklärung und einer demokratischen Transformation.

Digitale Metaphysik III: Der Ausverkauf der Realität oder Die reale Welt sei Simulation

Seine Vollendung findet der Realitätsverlust in der Annahme, unsere reale analoge Welt sei eine Simulation. Der unseren Planeten umgebende Kosmos, unsere natürliche Umwelt, die biologische Existenz von Pflanzen und Tieren und nicht zuletzt die vom Menschen entwickelten Wissenschaften und technischen Errungenschaften seien das Werk eines Simulators. Auch diese Vorstellung ist natürlich keineswegs neu, sondern war – hinsichtlich der Bilder und der Sprache etwas anders zum Ausdruck gebracht – der Glaubenskern der großen Religionen.170 Bei Chalmers, einem angesehenen Philosophen des 21. Jahrhunderts, begegnet uns die Vorstellung unter neuem Vorzeichen. Ausgangspunkt ist ein fundamentaler Agnostizismus,171 der dann aber zur Grundlage weitreichender spekulativer Ausführungen wird. Man könne nicht wissen, was die Welt um uns herum wirklich sei.

Hinter der physischen Welt verborgen sei, so Chalmers, eine digitale Realität: Hinter den physischen Dingen, hinter der Materialität der Welt stünden digitale Informationen und Programme. Hinter jedem »It« (Ding) stehe ein »Bit« (eine digitale Information). Hinter den physikalischen, chemischen und biologischen Elementen, die in unserer materiellen Welt vorzufinden seien, stünden digitale Algorithmen.172 Die Bestandteile der physikalischen Welt – Quarks und Photonen – spielten in diesem Modell eine Art Theaterrolle, die ihnen vom dahinterstehenden Algorithmus zugewiesen worden sei.173 David Chalmers belässt es nicht bei der Möglichkeit, dass wir in einer simulierten Welt leben, sondern bekennt sich klar. »Wir sind wahrscheinlich Simulationen.«174 Er stellt sich dabei ausdrücklich an die Seite des bereits erwähnten Nick Bostrom, einer der Väter und eine Autorität des modernen Transhumanismus.175 Im gleichen Sinne geäußert hat sich auch Elon Musk.176 Dass wir uns in einer simulierten Welt befänden, firmiert bei Chalmers sogar als »Entdeckung« (»discovery«),177 was der Spekulation eine gewisse Faktizität verleihen soll.

Wenn Menschen in dieser Welt angeblich in einer simulierten Realität leben, zugleich aber in der Lage sind, ihrerseits simulierte Welten zu erschaffen, dann entsteht das Bild einer mehrstufigen Schöpfungshierarchie. So sieht es auch David Chalmers. Die Simulatoren unserer Welt könnten ihrerseits Produkte einer hierarchisch über ihnen angesiedelten Welt sein. Lediglich die »top level population« sei nicht künstlich geschaffen worden.178 Es sei sehr wahrscheinlich, dass es an der Spitze der Schöpfungshierarchie eine Ebene mit »unsimulierter Realität« und einem »unsimulierten Simulator« gebe.179 Andererseits könnten, wenn man in der Hierarchie abwärtsschaue, in einer von uns geschaffenen simulierten Welt die dort lebenden bewusstseinsfähigen Akteure ihrerseits simulierte Welten produzieren, die dann unter ihnen angesiedelt wären. Da jede Ebene wahrscheinlich mehrere simulierte Welten entstehen lasse, sei davon auszugehen, dass es viele Universen gebe.180

Digitale Mystik: Angriff auf die Realität, Rückkehr hinter die Aufklärung

David Chalmers’ Werk Reality+ bündelt die transhumanistischen Tech-Ideologien. Die wesentlichen, aufeinander aufbauenden und miteinander verbundenen Glaubenssätze dieses Manifests betreffen das Wesen des Lebens und der Realität.

Die Realität betreffend, unternimmt Chalmers einen Angriff an zwei Fronten:

Diese vier Grundaussagen sind ein fundamentaler Angriff und beinhalten einen umfassenden Machtanspruch. Soweit sie das Leben betreffen, deuten sie das Verhalten des Menschen zu einem mechanischen, algorithmisch gesteuerten Ablauf um, geben die biologische Existenz des Menschen für technische Manipulationen frei und sprechen dem Menschen seinen intrinsischen Anspruch auf eine unantastbare Autonomie und Würde ab. Von Chalmers ausdrücklich formulierte Pflichten zu einem verantwortlichen, ethischen Umgang – zum Beispiel mit den durch Simulation erzeugten Menschen – können diesen Zugriff und Angriff auf das Leben bestenfalls paternalistisch kaschieren.

Soweit sie die Realität betreffen, sind die angeführten Grundaussagen der Versuch, die Einmaligkeit, Unersetzlichkeit und Unverfügbarkeit des Planeten anzugreifen und die Erde, jenes der Menschheit durch die Evolution zugewiesene Biotop, als durch Simulation ersetzbar darzustellen. Beides, sowohl der Angriff auf das Leben als auch der auf die Unersetzlichkeit unseres Planeten, ist der Versuch, das Leben und unseren Planeten dem Zugriff, der Kontrolle und den Geschäftsinteressen der Digitalkonzerne zu unterwerfen. Mit einer absurden Mystik soll die Menschheit in einen Zustand zurückversetzt werden, in dem sie vor der Aufklärung über viele Jahrhunderte hinweg gelebt hat.

Darstellungen, die dem Leben das Lebendige und der Realität die Wirklichkeit absprechen, gehen über die genannten politischen Effekte noch hinaus. Sie betreffen das Lebensgefühl von Milliarden Menschen, sie werden deren psychische Befindlichkeit und das Zusammenleben der Menschen verändern. Zwischen der psychischen Gesundheit des Menschen und der Gewissheit einer verlässlichen Realität besteht ein wechselseitiger Zusammenhang. Umwelten, in denen wir leben, bilden sich vor allem in den Jahren der Kindheit und Jugend in uns ab und leisten durch ihre Konstanz und Verlässlichkeit einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung eines stabilen Selbst. Umgekehrt befestigt die sozial geteilte, gemeinsame Wahrnehmung der uns umgebenden Welt die Gewissheit, dass es so etwas wie Realität gibt.

Die Erfahrung einer sozial geteilten Wahrnehmung der Realität ist eine entscheidende Voraussetzung für die Entstehung und den Erhalt zwischenmenschlicher Bindungen. Ein Zusammenbruch dieser Gewissheiten kann, wie sich bei Erdbebenopfern, aber auch bei Kindern beobachten lässt, deren Familie zusammengebrochen ist, schwere psychische Störungen nach sich ziehen. Ein Wegfall der sozial geteilten, gemeinsamen Wahrnehmung der uns umgebenden Welt kann schwere Entfremdungsgefühle bis hin zur Psychose zur Folge haben.181

Obwohl ich seine Thesen für falsch und gefährlich halte, bin ich David Chalmers dankbar für Reality+, weil sein Werk die impliziten Überzeugungen und expliziten Glaubenssätze der digitalen Tech-Bewegung und des Transhumanismus, welche bisher heterogen in den westlichen Gesellschaften verstreut waren, in einem systematischen Werk zusammengefasst hat. Anstatt nur zuschauen zu müssen, wie transhumanistische Überzeugungen wie eine um sich greifende Trance in unsere Gesellschaften sickern, kann man mit Reality+ ein zusammengefasstes, explizites Bekenntnis dessen lesen, woran maßgebliche und tonangebende Vertreter der Tech-Bewegung glauben. Ohne ein solches Werk fehlte eine entscheidende Voraussetzung, um sich mit der im Transhumanismus verborgenen digitalen Mystik auseinandersetzen zu können.

David Chalmers’ Buch ist der philosophische Überbau eines zivilisatorischen Trends, der mit der Entwicklung der sozialen Medien, der Videospiele und des Metaversums seinen Anfang nahm, dessen Ziele aber weit darüber hinausreichen und dessen Effekte darin bestehen, menschlichem Leben die analoge Realität unter den Füßen wegzuziehen.