Die Nacht war mild, und die Sterne funkelten über der Stadt. Überall sah man Menschen an großen Tischen essen, lachen und laut miteinander reden.
Karam fand neben seiner Tante Samia und dem Bettler Nader keinen Platz. Sie bemerkten ihn nicht, denn sie waren ins Gespräch vertieft, deshalb ging er mit dem gefüllten Teller in der Hand weiter. Viele wollten für ihn zur Seite rücken, aber trotz aller Freundlichkeit und Zuneigung gab es keine Möglichkeit, da die Bänke zu voll waren.
Endlich stand an einem Tisch ein Paar auf, verabschiedete sich und ging. Karam setzte sich mit seinem Teller, auf dem mehrere kleine kalte Vorspeisen lagen, dorthin. Ein bärtiger Mann ihm gegenüber erhob sich. »Soll ich dir einen Wein holen?«, fragte er freundlich.
»Ja, bitte, einen roten, wenn es geht«, sagte Karam dankbar.
Vor dem ersten Schluck hob er sein Glas, um dem Mann gegenüber zuzuprosten, der sein Glas ebenfalls in der Hand hielt. Erstaunt bemerkte er, dass auch am benachbarten Tisch alle Frauen und Männer die Gläser hoben und »Bi Sahtak«, Prost, riefen. Er lachte.
Nach dem guten Verlauf des Abends verspürte Karam zum ersten Mal wieder Appetit, nachdem er tagelang voller Kummer gewesen war. Er aß genüsslich, und unauffällig brachte ihm der Mann gegenüber einen zweiten Wein. Er hieß Gamil und war Kalligraph. Da die Moscheen und die reichen Leute ihm mehr als genug Aufträge gaben, lebte er nicht schlecht von seiner Kunst.
Als Karam sich satt gegessen hatte, brachte er seinen leeren Teller weg und holte sich ein Schälchen Pistazien zum dritten Wein.
Irgendwann stand er auf, um nach Hause zu gehen, da sah er zu seiner Überraschung, dass seine Tante Samia und der Bettler Nader Hand in Hand vor ihm gingen. Er freute sich wie ein Kind für seine Tante, die in Nader verliebt zu sein schien, und beeilte sich, die beiden einzuholen.
Am nächsten Tag wachte er spät auf. Als er in die Küche kam, tranken Samia und Nader gerade Kaffee.
»Da kommt der Meister!«, rief Nader.
»Wir wollten dich nicht stören. Du hattest gestern einen anstrengenden Abend«, ergänzte die Tante.
»Nein, es war ein Vergnügen, alle Sorgen sind von mir abgefallen«, sagte Karam und schenkte sich einen Kaffee ein. »Ich war wie betäubt vor Glück, dass Jasmin nun endlich ihr Zimmer verlassen hat und den ganzen Abend die Geschichten hörte.«
»Das hast du hingekriegt, alle Achtung«, sagte Nader.
Im Stadtparkt fand Karam einen ruhigen Platz und konnte alles gut vorbereiten. Er war gerührt, wenn Menschen vorbeigingen, ihn nur dezent grüßten und nicht weiter stören wollten.
Mittags kehrte er nach Hause zurück, Samia und Nader waren nicht da. Der Tag war sehr heiß. Karam fühlte eine lähmende Müdigkeit und legte sich hin.
Als er nach der Siesta aufwachte, wollte er zu Sadeks Café schlendern und danach zum Schlossgarten, wo er Nura zu treffen hoffte.
Doch der Wirt hielt ihn auf. Er war schön angezogen, ließ sich und Karam zwei Mokka-Tässchen und etwas Gebäck servieren und lächelte.
»Feierst du heute Hochzeit?«, fragte Karam.
»Das ist mein erster freier Tag seit drei Monaten. Ich möchte zu eurem Erzählabend kommen. Ich habe von einem Gast gehört, dass die Leute heute über Mut und Feigheit erzählen werden. Mir fehlt es oft an Mut, vielleicht helfen mir die Geschichten.«
»Alle Achtung«, rief Karam. »Ich werde dafür sorgen, dass du einen Platz neben Samia und Nader in der ersten Reihe bekommst.«
»Danke«, sagte Sadek, »dafür bist du jetzt mein Gast und darfst den Mokka nicht bezahlen.«,
Bald machte Karam sich auf den Weg.
Nicht nur am Abend hatte Karam erlebt, wie frei die Menschen hier erzählten, sogar in Anwesenheit des Königs, auch an den vielen Tischen, beim Essen und Trinken, im Park sprachen sie laut und deutlich. Was für ein Geschenk der Freiheit! In seinem Land liefen die Menschen bekümmert mit ängstlichen Gesichtern herum. Farida hatte sogar mit ihren Vertrauten geflüstert, wenn sie über Hunger und Not im Land sprachen.
Plötzlich tauchte das Gefängnis in seinem Gedächtnis auf, und er sah vor seinem inneren Auge, wie wunderbare Menschen zusammengebrochen und elend gestorben waren.
Karam schüttelte den Kopf und ging weiter. Bei diesen Erinnerungen wollte er nicht mehr verweilen. Er schaute neugierig ein paar spielenden Kindern zu und war bald wieder im Hier und Jetzt.
Er schlenderte durch die Stadt zum Palast und war neugierig, wie das mit dem Nacherzählen im großen Palastgarten klappte. In vier Ecken, weit genug voneinander entfernt, hockten, saßen und lagen Hunderte von Menschen auf dem Rasen und lauschten den Geschichten. Es war ein phantastischer Eindruck. Vor jeder Zuhörerschaft standen zwei oder drei Erzählerinnen, die sich perfekt abwechselten, um den Abend möglichst lebendig wiederzugeben. Karam winkte ihnen diskret aus der Ferne zu und ging rasch weiter, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und nicht von den Geschichten abzulenken. Ein paar Schritte von der letzten Zuhörergruppe entfernt traf er Nura.
»Das hast du klug geplant«, sagte er und setzte sich mit ihr auf eine Bank. Sie schien sehr glücklich zu sein.
»Ja, ich bin auch froh, dass alles so gut läuft«, sagte sie.
»Die Erzählerinnen nehmen ihre Aufgabe sehr ernst, wie ich beobachtet habe«, lobte Karam.
»Und wie! Sie haben alles minuziös vorbereitet.« Nura rückte näher. »Sie haben den Erzählnachmittag dreimal geprobt und ihre Rollen vorher verteilt, damit es vor dem Publikum nicht zu Leerlauf oder Durcheinander kommt«, flüsterte sie.
»Alle Achtung!«, rief Karam respektvoll. Die beiden unterhielten sich lange. Als Karam aufstand und sich von Nura verabschiedete, hielt diese seine Hand fest und schaute ihm lange in die Augen.
»Du tust viel für uns«, sagte sie. Karam wurde verlegen. Aber als er von ihr wegging, fühlte er, dass er noch Stunden mit dieser jungen Frau hätte verbringen können.
»Heute soll es«, begann Karam nach der Begrüßung, »wie ich gestern angekündigt habe, um das Thema ›Mut und Feigheit‹ gehen. Ich fange ohne weitere Vorrede an.«
Karam erzählte:
In einem fernen Land lebte einst ein junger Mann namens Amer. Er wuchs in Armut auf. Amer liebte die Bienen und wollte eine kleine Imkerei gründen. Am Anfang schien er damit erfolgreich zu sein, doch plötzlich, innerhalb weniger Wochen verendeten all seine Bienen durch eine Krankheit. Man munkelte, dass Neider die Bienen vergiftet hätten. Abergläubische Nachbarn hingegen glaubten fest daran, dass ein böser Geist die Bienen getötet habe, weil er sie hasste.
Als Amer nach dieser herben Niederlage keine andere Arbeit in seiner kleinen Stadt fand, beschloss er auszuwandern.
Seine Mutter weinte tagelang in der ärmlichen Hütte, bevor er sie verließ. Die mütterlichen Tränen lähmten Amer, aber mithilfe seines Vaters konnte er ihr erklären, dass es keinen anderen Weg gab. Der Vater konnte kaum von dem leben, was er als Hilfsarbeiter verdiente, und die Mutter war als Wäscherin bei mehreren Familien tätig. Sie liebte Amer sehr. Er war ihr einziger Sohn.
Als sie sich schweren Herzens von ihm verabschiedete, übergab sie ihm ein schönes, scharfes Schwert. »Das soll dich auf deinen Wegen schützen, wie es meinen Großvater und Vater geschützt hat. Es ist aus Damaszener Stahl geschmiedet.« Amer wusste, wie teuer Schwerter aus Damaszener Stahl waren, und wunderte sich, dass seine Mutter das Schwert nicht verkauft hatte.
Und wie Mütter nicht selten die Gedanken ihrer Kinder lesen können, sagte sie: »Dieses Schwert darfst auch du nicht verkaufen, denn es ist dein Schutzengel, den ich dir als Begleiter mit auf den Weg gebe.«
Amer wanderte lange. Als er am späten Nachmittag eine kleine Oase in der Ferne sah, freute er sich, da er sehr müde war. Dort angekommen, fand er frisches Wasser und einen schattigen Platz unter einem Baum. Er war so müde, dass er bald einschlief.
Nach dem Aufwachen erfrischte er sich an der nahen Quelle und stillte seinen Hunger aus der bescheidenen Provianttasche, die ihm seine Mutter gepackt hatte: ein Stück Brot, ein Stück trockener Schafskäse und ein paar Oliven. Während er aß, beobachtete er eine Ameise, die einen Halm schleppte, der dreimal so groß und schwer war wie sie. Die Ameise stolperte mehrmals auf dem schrägen Weg zum Ameisenhügel hinauf, kullerte ein Stück abwärts, aber sie richtete sich jedes Mal wieder auf und zog den Halm ein Stück weiter. Sie kämpfte so lange, bis sie nach fast einer halben Stunde den Eingang ihrer Behausung erreichte.
Zweifel und Verzweiflung, die Amers Seele bis zu diesem Augenblick gequält hatten, waren wie von Zauberhand verschwunden. Er erhob sich und machte sich auf den Weg Richtung Hauptstadt.
»Ist das schöne Schwert zu verkaufen?«, fragte ihn ein vornehmer Herr, der an ihm vorbeiritt.
»Nein«, antwortete Amer. Der Reiter beäugte bewundernd das Schwert.
»Auch nicht für hundert Dinar?«
»Nein, mein Herr. Ich verkaufe es nicht. Es ist ein Erbstück.«
»Schade«, sagte der Reiter und ritt davon.
Je näher Amer der Hauptstadt kam, umso lieblicher wurde die Umgebung. Er wanderte vergnügt durch die grünen Täler und Hügel, bis er das nördliche Tor der Hauptstadt erreichte. Sein Proviant war aufgegessen, und er spürte einen brennenden Durst im Hals. Eine alte Frau saß im Schatten vor ihrem Haus. Er bat sie um Wasser. Die Frau lächelte ihn an, eilte ins Haus und kam bald mit einem Tonkrug zurück.
»Trink langsam, mein Junge. Du bist erhitzt.«
Amer trank das wunderbar kühle Wasser mit Bedacht.
»Was für herrliches Wasser!«, rief er und gab ihr den Krug zurück.
Die alte Frau schüttelte bedauernd den Kopf. »Herrlich, ja, aber wir zahlen dafür einen teuflischen Preis.«
»Was für einen Preis?«, fragte Amer verwundert.
Die alte Frau zögerte einen Augenblick. Trauer überzog ihr Gesicht.
»Oben auf dem Berg herrscht ein Riese über die Quelle, die der Stadt seit Jahrtausenden Wasser spendet. Er fordert jeden Tag eine Jungfrau, sonst sperrt er uns das Wasser ab. Dreimal hat die Armee schon versucht, ihn zu besiegen. Er hat alle ihre Truppen vernichtet.
Jeden Tag wird eine Jungfrau ausgewählt, und jeden Abend bei Sonnenuntergang begleiten die Eltern ihre arme Tochter bis zum Berg, dann muss sie allein zu dem Riesen hinaufsteigen. Über hundert Frauen hat er schon gefressen.
Und heute ist die Enkelin einer Freundin von mir an der Reihe. Ihr Vater ist ein armer Bäcker und ihre Mutter Putzfrau. Die Tochter heißt Farha, Freude. Seit ihrer Geburt ist sie eine einzige Freude, so schön, witzig und klug, aber was hilft das? Heute muss sie zu dem Riesen hinauf … verstehst du? Ich habe oft daran gedacht, die Stadt zu verlassen, aber ich will meine Freundinnen und Freunde nicht mit ihrer Trauer im Stich lassen.«
»Wie kann ich zu der Jungfrau gelangen?«
»Die Eltern begleiten Farha bis zum Berg am südlichen Eingang der Stadt. Aber warum willst du dein Leben gefährden? Das hat keinen Sinn. Ich habe dir doch gerade gesagt, der Riese hat die Truppen des Königs dreimal vernichtend geschlagen.«
Amer schnallte sich das Schwert um und lief rasch zum südlichen Tor der Stadt. Da sah er die Eltern der Jungfrau bereits auf dem Rückweg. Sie weinten und klagten herzzerreißend über ihr Unglück. Amer eilte den Berg hinauf. Als er sich Farha näherte, bemerkte sie ihn. Sie blieb stehen und bat ihn umzukehren. Amer versuchte, sie zur Flucht zu überreden, doch sie war entschlossen und bereit, sich für ihre Stadt zu opfern.
Amer wollte aber ebenfalls nicht umkehren und versprach ihr, er würde sie vor dem Riesen retten. Sobald sie oben wäre, sollte sie den Riesen auffordern, aus seiner Berghöhle, wo das Quellenwasser aus dem Felsen fließt, herauszukommen. Er solle sich ihr zeigen, denn sie wolle ihn wenigstens einmal gesehen haben, bevor er sie fräße, und in der Felsenhöhle wäre es zu dunkel. Auf dem Felsen, über dem Eingang der Höhle, würde Amer dem Riesen mit seinem Schwert auflauern und ihn mit einem Schlag köpfen.
Als Farha dort oben auf dem Berg ankam, rief der Riese ihr zu, sie solle zu ihm in die tiefe Höhle kommen. Doch Farha spürte einen eigenartigen Mut, wenn sie auf Amer blickte, der regungslos über dem Eingang der Höhle sein Schwert fest in beiden Händen hielt.
»Nein, du kannst mich doch auch hier draußen fressen. Ich will dich zuvor sehen«, rief Farha laut.
In dem Moment, da der Riese aus dem Eingang der Höhle trat, hieb ihm Amer mit einem kräftigen Schlag den Kopf ab, Kopf und Rumpf fielen seitlich herab und rollten den Berg hinunter, bis sie an einem großen Busch hängen blieben.
Farha rannte hinterher. In ihrer Freude, die immer noch mit Angst einherging, begann sie zu schreien. Amer wusch sein Schwert an der Quelle und machte sich langsam auf den Rückweg zu der alten Frau. Er fühlte ein Glück wie noch nie in seinem Leben.
Als Farha so unerwartet wieder nach Hause kam, glaubten die Eltern ihr nicht, was sie erzählte, sondern vermuteten, sie wäre geflüchtet. Sie fürchteten die gnadenlose Rache des Riesen, konnten die ganze Nacht nicht schlafen und fühlten mehr Scham wegen der Feigheit ihrer Tochter als Freude über ihre Rettung. Doch am nächsten Morgen floss das Wasser friedlich durch die Stadt und war wie immer kristallklar.
In aller Frühe stieg Farhas Vater zur Quelle hinauf, da sah er den toten Riesen hinter dem Busch liegen und in einiger Entfernung auch seinen Kopf.
Glücklich lief er zum Schloss und teilte den Wächtern mit, dass ein edler, mutiger Ritter seine Tochter gerettet habe.
Die Stadt feierte ein Freudenfest, und der König ließ verkünden, dass Farhas unbekannter Wohltäter als Dank für die Errettung der Stadt dreitausend Golddinare bekommen sollte.
Nach dieser Bekanntmachung behaupteten über dreißig Ritter und noch mehr starke Männer, sie hätten den Riesen umgebracht. Um zu zeigen, dass sie es waren, benahmen sie sich wie Leichenfledderer und schleppten Teile vom Körper des toten Riesen an. Doch der König wollte von all diesen schaurigen Beweisen nichts wissen.
Farha selbst wusste zwar, wie der mutige Retter aussah, und fühlte eine innige Zuneigung zu ihm, aber sie hatte keine Ahnung, wie er hieß. Daher empfahl ihr der Großwesir des Königs, auf einem Balkon im ersten Stock des Schlosses Platz zu nehmen, um sich die Männer anzuschauen und ihren Retter zu erkennen. Die Ritter und starken Männer, die sich als Befreier der Stadt ausgaben, sollten langsam vorbeidefilieren.
Nach und nach marschierten alle Männer vorbei, auch solche, die Angst vor einer Maus hatten, doch Farha zeigte an keinem von ihnen Interesse. Erst als Amer vorbeiging und sie anlächelte, erkannte sie ihn und sein Schwert.
»Das ist mein Retter«, rief sie.
Der König händigte Amer die Golddinare aus und wollte ihn zum Anführer seiner Leibgarde machen. Amer bedankte sich für die Ehre, erwiderte aber, er wolle lieber Bienen züchten.
Bald darauf verlobte Amer sich mit Farha. Er schenkte ihren Eltern und der alten Frau, die ihm zu trinken gegeben und von dem Riesen erzählt hatte, zum Abschied einen Teil der Golddinare, sattelte zwei edle Pferde und ritt mit seiner Verlobten nach Hause.
Farha fühlte sich bei Amers Familie sehr wohl. Sie spürte bald, welche Liebe in dieser Familie herrschte.
Das junge Paar heiratete feierlich, und Amer schenkte seinen Eltern Geld für ein neues Haus. Er schlug ihnen vor, sich mit ihm und Farha zusammen um die Bienen zu kümmern.
Bis an ihr Lebensende konnten Farha und Amer ihr Glück miteinander genießen. Es schmeckte fast so süß wie der Honig der Bienen.
»Ja, genau, so schmeckt die Liebe!«, rief eine junge Frau und genierte sich sogleich, dass sie ihre Gedanken so laut preisgegeben hatte. Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund und lachte. Ihr Mann klatschte heftig vor Begeisterung, und ihm folgten viele.
Da meldete sich der Wirt Salah zu Wort, ein etwa vierzigjähriger Mann, stämmig und mit einem rundlichen, freundlichen Gesicht. Sein Lokal »Karim«, der Großzügige, war stadtbekannt. Es gab nur etwa zehn Gerichte zur Auswahl, aber sein Name war Programm. Salah war der einzige Wirt, bei dem niemand hungrig nach Hause gehen musste. Hatte man sein Gericht aufgegessen und spürte noch Hunger, so musste man zum Diener nur, »Nachschlag, bitte«, sagen, und schon rückte er mit einer zusätzlichen, kostenlosen kleinen Portion an. Diese Tradition sollen Salahs Ururgroßeltern eingeführt haben, die vor über einhundertfünfzig Jahren als Fremde gekommen waren und das Lokal gegründet hatten.
Der Wirt Salah erzählte:
Es war einmal ein junger König, der mit seiner Frau nur eine einzige Tochter hatte. Er war erst zwanzig und liebte seine gleichaltrige Frau abgöttisch. Sie war klug und bildhübsch, und die Tochter sah der Mutter sehr ähnlich. Sie nannten sie Kamila, die Vollkommene. Als sie vierzehn wurde, starb ihre Mutter.
Der König trauerte ein Jahr lang, doch dann wollte er wieder heiraten. Aber keine der Töchter seiner Minister, auch keine Tochter der mit ihm befreundeten Könige gefiel ihm. Langsam entdeckte er den Grund. Er war verliebt in seine eigene Tochter, die allmählich ein Ebenbild seiner Frau wurde.
Kamila war völlig arglos und merkte nur gelegentlich, dass ihres Vaters Blick sich verändert hatte. Bald störte es sie wie nie zuvor, wenn er sie kräftig umarmte. »Vater, du drückst mich zu fest«, protestierte sie.
»Nenn mich doch nicht dauernd Vater, sondern Jusuf, denn so heiße ich.«
»Nein, du bist mein Vater und niemand anderes«, antwortete Kamila entschlossen. Sie war an dem Tag siebzehn geworden und sah aus wie zwanzig.
Der König schickte nach dem bekanntesten Religionsgelehrten, der zugleich der höchste Kadi in der Hauptstadt des Landes war, und fragte ihn: »Gehört ein Baum, den ich gezüchtet, gepflegt und beschützt habe, mir oder einem anderen?«
Der Kadi verstand wohl, was der König meinte. Der ganze Palast wusste von der Verliebtheit des Königs. »Majestät, der Baum gehört Euch, Ihr könntet ihn und seine Früchte genießen.«
»Bist du also bereit, die Ehe mit meiner Tochter zu segnen?«, fragte der König ohne Umschweife.
»Selbstverständlich, Majestät«, antwortete der Richter und bekam, wie er gehofft hatte, eine große Geldsumme dafür.
»Dann werden wir Anfang nächsten Monats heiraten«, sagte der König. Er ließ seiner Tochter ein traumhaft schönes Hochzeitskleid schneidern und schenkte ihr Juwelen und Goldringe, zehn goldene Armreife, Ohrringe, Perlenketten und noch mehr.
Zwei Tage vor der Hochzeit kam der König zu seiner Tochter und befahl ihr, das Hochzeitskleid anzuziehen und den Schmuck anzulegen. Sie tat, wie ihr geheißen. Als er sich ihr näherte, roch sie den Alkohol und bekam Angst, denn er grabschte ihr an Busen und Hintern.
»Willst du sehen, wie jung ich noch bin?«, fragte er und wollte sie aufs Bett werfen.
»Warte doch, ich muss kurz auf die Toilette«, rief sie.
»Und was ist, wenn du abhaust?«
»Binde mich doch an dieses Seil, dann kannst du sicher sein, dass ich noch da bin«, antwortete sie. Das Seil lag nicht zufällig dort. Der König band das Seil um ihren Arm und zog daran, da klingelten die Armreife wie kleine Glocken.
»Nun geh und beeile dich«, sagte er und zog sich aus.
Kamila eilte ins Badezimmer. Sie band das Seil an einen kleinen Gummibaum und hängte ein paar Goldreife daran. Der Vater zog bald noch einmal und hörte das Klingeln. »Nicht so fest«, rief Kamila. Sie schlüpfte in die Männerkleider, die sie im Bad versteckt hatte, und stieg aus dem Badfenster. Die Juwelen, Perlen und das Gold nahm sie mit. Ihr edles Pferd hatte sie an einen Baum in der Nähe gebunden. Sie bestieg es und ritt schneller als der Wind davon. Erst als sie weit weg war, atmete sie erleichtert auf.
Am späten Nachmittag kam sie in eine Stadt, ging zu einem Friseur und bat ihn darum, ihr die Haare so kurz wie möglich zu schneiden. Der Friseur wunderte sich, denn sie war gekleidet wie ein Mann, und doch hatte er das Gefühl, dass sie eine Frau war.
Das grobe Männerhemd hatte sie sich von einer klugen Schneiderin anfertigen lassen. Es war vorn auf der Innenseite mit einem dicken Stück Filz verstärkt, sodass ihre Brust so flach wie die eines Mannes aussah.
Kamila ritt lange, um eine Stadt im Norden des Landes zu erreichen, die sie als Kind einmal mit ihrer Mutter besucht hatte. Der Ritt ermüdete sie, denn die Sonne brannte erbarmungslos auf sie nieder. Kurz vor dem Haupttor der Stadt war sie so müde, dass sie vom Pferd stieg, um sich ein wenig auszuruhen, und im Schatten eines Baumes einschlief. Als sie wieder zu sich kam, war die Sonne schon fast untergegangen. Ihr Pferd und ihre kleine Tasche waren verschwunden. Sie besaß nichts mehr. Mit einem Schlag war sie hellwach. Traurig und hungrig lief sie durch die Straßen. Als sie ein prächtiges Haus sah, näherte sie sich dem Hintereingang. Da trug eine Bedienstete gerade ein großes Tablett heraus und wollte die Essensreste wegwerfen. Kamila bat sie darum, ihr die Abfälle zu überlassen. Die Küchengehilfin hatte Mitleid mit dem jungen Mann, reichte ihm das Tablett, und Kamila stürzte sich auf das Essen.
»Was ist dir denn zugestoßen?«, fragte die Frau, die erstaunt zuschaute.
»Ich wurde heute ausgeraubt. Mein Pferd und mein Geld sind weg.«
»Und was hast du vorher gemacht?«
»Ich war ein Bediensteter in einer Küche«, antwortete Kamila.
»Warte hier einen Moment. Wie heißt du denn?«
»Said«, antwortete Kamila.
»Warte, warte. Ich bringe dir etwas Besseres zu essen. Unser Koch sucht einen Gehilfen. Ich heiße übrigens Dunja«, sagte die Frau und eilte in die Küche. Bald kam sie zurück mit einem großen warmen Fladenbrot und zwei Tellerchen mit Oliven und Schafkäse zurück.
»Genieße es langsam und ruhig. Das Essen läuft dir nicht weg. Wenn du fertig bist, rufe nach mir, dann bringe ich dich zum Koch.«
Als Kamila aufgegessen hatte, wurde sie von der gutherzigen Küchengehilfin dem Koch vorgestellt. Er musterte den jungen Mann und stellte ihn ein. Kamila lernte schnell. Der Koch, Ismail, war ihr zugeneigt und führte sie in die Geheimnisse der Kochkunst ein. Doch bald spürte sie, dass er ihr gegenüber zu viel Zuneigung zeigte. Er war nicht aufdringlich, sondern machte eher schüchterne Andeutungen, dass er junge Männer liebe. Sie hatte großes Verständnis für ihn, aber sie konnte ihm keinen Schritt weiter entgegenkommen. Er tat ihr leid, weil er sie immer mit verliebten Augen anschaute und im Stillen litt.
Ein Jahr lang blieb sie in der Küche des vornehmen Hauses, dann wollte sie weiterziehen. Sie hatte genug Geld verdient, um etwas zur Seite legen zu können. Von den Ersparnissen kaufte sie einen Esel. Beim Abschied umarmte sie den Koch und flüsterte ihm zu: »Ich muss weiter, aber ich mag dich sehr, du bist ein guter Kerl. Ich aber bin eine Frau, die sich aus Angst vor ihren Verfolgern verkleidet hat.«
»Wirklich?« Der Koch schaute sie erschrocken an.
Kamila nickte mit Tränen in den Augen.
»Bist du etwa die Tochter des Königs?«
Kamila nickte. »Wie kommst du aber drauf?«, fragte sie.
»Unser Herr hat gestern beim Abendessen seinen Freunden belustigt erzählt, dass Spione des Königs die Stadt durchsuchen und überall nach der geflüchteten Tochter fragen.«
»Deshalb habe ich Angst«, sagte Kamila.
»Warte«, sagte der Koch und ging in die Ecke, wo seine Jacke hing. Er kam zurück und gab ihr einen Geldbeutel. »Nimm das als Geschenk für deine Tapferkeit«, sagte er.
Kamila umarmte ihn noch einmal und beeilte sich, die Küche zu verlassen.
Auf ihrem kräftigen Esel ritt sie durchs Land. Sie mied die Städte und übernachtete bei Bauern und Beduinen.
Eines Tages traf sie eine Bettlerin, die ihr Mitleid erregte. Sie gab ihr reichlich Geld. Das Gesicht der Frau war durch Warzen entstellt. Kamila gab sich wieder als Said aus, setzte sich zu ihr und unterhielt sich mit ihr.
Als es spät wurde, fragte die Bettlerin den fremden jungen Mann, wo er übernachten wolle.
»Das weiß ich noch nicht, auf jeden Fall nicht im Wald. Ich wurde einmal ausgeraubt. Das reicht.«
»Du kannst bei mir übernachten, wenn dich meine Armut nicht erschreckt«, antwortete die Bettlerin.
Gemeinsam gingen sie bis zum Rande des Dorfes, wo die Bettlerin in einer Hütte wohnte. Ein großer, furchterregender Hund bewachte Haus und Garten.
»Das ist mein Schutzengel gegen Diebe und Neugierige«, sagte sie und streichelte den Hund, der schwanzwedelnd seine Freude zeigte. Den Esel band Kamila an einen kleinen Apfelbaum im winzigen Garten der Hütte.
Aus den bescheidenen Vorräten der Frau bereitete Kamila ein leckeres Mahl. Die Bettlerin, sie hieß Aida, bewunderte die Kochkünste ihres Gastes, und sie aßen zusammen.
»Deine Stimme ist die eines Mannes, aber du bist kein Mann, auch wenn du dich gut verkleidet hast«, sagte Aida nach dem Essen.
»Das stimmt, aber ich bin auf der Flucht«, erwiderte Kamila und erzählte der Bettlerin ihre Geschichte.
Aida stand auf und verschwand kurz in dem Verschlag, der ihr als Bad diente. Als sie herauskam, erkannte Kamila sie kaum wieder. Sie hatte ein glattes, schönes Gesicht und schien mindestens zwanzig Jahre jünger als zuvor.
Kamila war sprachlos.
»Meine Großmutter und meine Mutter waren Bettlerinnen. Das ist auch meine Leidenschaft geworden. Ich verdiene nicht viel, aber ich kann davon leben.«
Beide lachten und fielen einander in die Arme. Kamila erzählte Aida auch, weshalb sie vor dem verliebten Koch geflüchtet war. Dann fragte sie neugierig: »Wie hast du denn die Warzen gemacht? Sie sahen fürchterlich echt aus.«
»Das kann ich dir zeigen, und wenn du sie auf deine Haut aufträgst, werden dich dein verbrecherischer Vater und seine Spione nie finden.«
Am nächsten Morgen verließ Kamila mit von Warzen entstelltem Gesicht die arme Hütte. In ihrer Satteltasche hatte sie eine Dose mit Warzen und eine Flasche mit einer Flüssigkeit, um sie wieder zu entfernen.
»Die Warzen und die Lösung reichen für ein Jahr. Danach wird dich niemand mehr suchen, von da an kannst du wieder überall dein Gesicht zeigen. Aber ich rate dir, dann einen anderen Namen anzunehmen, damit die Spitzel immer ins Leere laufen, wenn sie nach Kamila fragen. Der Name Karima, die Großzügige, würde zu dir passen.« Aida zögerte kurz. »Hier nimm das Geld. Du brauchst es für deine lange Reise«, sagte sie.
»Nein, ich werde als Koch und später als Köchin gut verdienen. Kochen ist meine Leidenschaft«, erwiderte Kamila und umarmte Aida. »Dich werde ich nie vergessen.«
»Ich dich auch nicht, tapfere Frau«, erwiderte die Bettlerin.
Kamila war nun durch die Warzen vor ihren Verfolgern sicher. In der nächsten Stadt suchte sie, Arbeit zu finden, doch viele Küchen der Reichen und Restaurants lehnten den hässlichen jungen Mann ab.
Verzweifelt setzte sie sich auf eine steinerne Bank gegenüber von einem herrschaftlichen Haus. Sie genoss die Ruhe und fütterte ihren Esel mit Wassermelonenschalen, die sie aus der Abfalltonne gefischt hatte.
Eine alte Frau schaute ihr neugierig dabei zu. Sie stand im Hauseingang und trug eine weiße Kochschürze.
»Dein Esel hat ja einen Riesenhunger, junger Mann«, bemerkte sie freundlich.
»Ja, das kann man wohl sagen, fast so groß wie meiner«, antwortete Kamila mit ihrer geübten tiefen Stimme.
»Wie kommt das denn? Ein kräftiger Mann muss doch in unserer Stadt nicht hungern. Was bist du von Beruf?«
»Ich bin ein erfahrener Koch, aber in eurer Stadt will man mich nicht, weil ich hässlich aussehe und die Leute sich angeblich vor mir ekeln.«
»Hässlich! Nein, kein Geschöpf Gottes ist hässlich. Und außerdem, was hat das Aussehen mit dem Kochen zu tun? Wenn du gut kochst, kann ich dich gerne bei uns anstellen. Wir brauchen Leute, die gut kochen können.«
Kamila bekam eine winzige Wohnung hinter der Küche, ihr Esel erhielt einen Platz unter den Pferden im vornehmen Stall. Die Köchin war äußerst beeindruckt von der Tüchtigkeit dieses fremden jungen Mannes.
Kamila war fleißig und wurde großzügig bezahlt.
Allmählich merkte sie, dass die Suche nach der Königstochter immer weniger ein Thema der Unterhaltung war. Es hieß, der König habe die Tochter eines seiner Wesire geheiratet. Trotzdem wollte Kamila kein Risiko eingehen und behielt ihre Tarnung ein Jahr lang bei.
Dann verabschiedete sie sich aus dem Herrenhaus und siedelte in eine ferne kleine Stadt um. Dort mietete sie eine Wohnung und fand bald Arbeit, nun ohne Warzen und Verkleidung, als Köchin Karima. Es vergingen keine drei Monate, bis sie sich in einen Koch verliebte, und der brannte nicht weniger nach ihr. Sie heirateten und führten eine glückliche Ehe.
Trotzdem hatte ihr Mann Sehnsucht nach der Stadt seiner Kindheit. Und das war keine andere als unsere Hauptstadt.
Damals kamen die Kaffeehäuser in Mode. Das erste Kaffeehaus der Welt wurde im Jahre 1530 in Damaskus gegründet, später verbreiteten sich diese Lokale über Aleppo und Istanbul nach Nordafrika und nach Europa. Oft wurden sie allerdings von fanatischen religiösen Eiferern wieder verboten. Soweit ich weiß, wurde das erste Lokal in unserer Hauptstadt Lulu im Jahre 1715 nahe dem Fluss eröffnet. Es hieß »Kahwet Chabbini«, Kaffeehaus Versteck mich, weil viele Männer von der Arbeit nicht nach Hause, sondern ins Kaffeehaus gingen. Ihre Frauen schickten dann die Kinder, um nach den Vätern zu suchen. Der Wirt aber pflegte zu sagen, er habe den Mann an dem Tag nicht gesprochen. Das war nicht einmal gelogen, denn der Wirt sprach niemanden an, bis die Männer zahlten und das Lokal verließen.
Das Ehepaar eröffnete also hier in der Hauptstadt ein Kaffeehaus, wo man Kaffee, Tee und Wein, Arrak und Erfrischungsgetränke genießen, Wasserpfeife rauchen und Häppchen essen konnte. Und sie ließen keinen hungrig nach Hause gehen. Sie bekamen nur ein Kind, einen Sohn, und das war mein Urgroßvater.
»Ich esse nur noch bei dir«, rief der Kutscher Isam, und viele klatschten zustimmend.
Der bekannte, etwa fünfzigjährige Dichter Yasser hob die Hand. Karam winkte ihm, er solle zur Kanzel kommen. Der Mann beeilte sich, und als er oben stand, rief er: »Ich bin Dichter und heiße Yasser. Wir leben, Gott sei dafür gedankt, in einem Land der Würde und Freiheit. Die Frauen werden bei uns geachtet. Aber das war nicht immer und überall so. Als junger Dichter war ich begeistert vom Gilgamesch-Epos. Gilgamesch war König der Sumerer. Er lebte im dritten Jahrtausend vor Christus und ist bis heute berühmt für seine Suche nach Unsterblichkeit. Auf der zweiten Tafel des Gilgamesch-Epos wird ganz offen berichtet, dass die Brautnacht dem König gehörte, und erst danach durfte die Braut mit ihrem Ehemann zusammen sein.
Nun will ich euch eine Geschichte erzählen, die vom sogenannten Recht des Herrschers auf die erste Nacht handelt.
Der Dichter Yasser erzählte:
Wie in vielen anderen Ländern war das Recht des Herrschers auf die erste Nacht mit der Braut, noch vor dem Zusammenliegen mit dem eigenen Bräutigam, auch in vielen arabischen Ländern verbreitet.
In einem dieser Länder wurde dieser schändliche Brauch besonders gepriesen und von den Religionsmännern als heilige Tradition der Väter gesegnet.
»Und wenn die Braut in dieser ersten Nacht schwanger wird, so sollte sich ihr Ehemann freuen, in seinem Stamm solch ein edles Blut bekommen zu haben. Nicht umsonst nennt man den Herrscher auch Landesvater«, sagte ein Gelehrter.
Eines Tages verliebte sich eine Frau namens Nadira in einen jungen Mann namens Malek. Das Glück war der Dritte im Bunde, denn die Eltern der Verliebten waren eng befreundet und freuten sich, dass nun die Freundschaft durch die Ehe der Kinder befestigt werden würde.
Nur Nadira war elend zumute, je näher der Hochzeitstag rückte. Sie flehte ihre Familie und die ihres geliebten Bräutigams an, dem Herrscher nicht das Recht der ersten Nacht zu gewähren, doch keiner war willig, ihr zuzuhören.
»Wenn ihr Männer Frauen wärt und wir dafür Männer, hätten wir dem Herrscher längst die Kehle durchgeschnitten, anstatt ihm unsere Frauen auszuliefern«, rief sie weinend. »Eine Schande ist das.« Sie flehte vergebens.
Eine Woche vor der Hochzeit ging sie mit drei Freundinnen zu einem Platz, wo ihr Verlobter und seine Freunde Wettkämpfe veranstalteten, um herauszufinden, welcher Mann der stärkste sei.
Die Frauen hockten sich mitten auf den Platz, so hatte es sich Nadira ausgedacht, hoben ihre Kleider bis zum Nabel und pinkelten lachend.
»Was macht ihr denn da? Habt ihr keine Scham mehr?«, fragte einer der Männer empört.
»Scham?«, erwiderte Nadira zornig, ihre Augen wurden schmal. »Wovor sollten wir uns schämen?«
»Vor uns Männern«, antwortete ein anderer Mann.
»Ich sehe hier keine Männer, sondern nur rückgratlose Kriechtiere. Welcher Mann mit Charakter würde es akzeptieren, dass seine Braut von einem Widerling vergewaltigt wird, nur weil er der Herrscher ist, und sie auch noch eigenhändig zu ihm bringen. Nein, das kann kein Mann sein, der das mit sich machen lässt«, schrie sie in die Runde.
»Du hast recht«, hörte man ihren Verlobten Malek rufen, »dieses Elend muss ein Ende haben!« Männer und Frauen setzten sich daraufhin zusammen und überlegten, wie sie den Herrscher künftig daran hindern könnten, Frauen und Männer zu demütigen.
Einen Tag vor der Hochzeit bekam der Herrscher einen Brief vom Bräutigam Malek, in dem dieser ihm im Voraus für die Ehre dankte, seiner schönen Nadira mit seinem edlen Geschlecht beizuwohnen. Dafür wolle seine Sippe für die Familie des Herrschers, seine Wesire und Leibgarde während dieser ersten Nacht ein großes Fest ausrichten.
Der Herrscher war begeistert von so friedlichen und gastfreundlichen Untertanen.
In der ersten Nacht wurde auf dem großen, feierlich geschmückten Platz vor dem Palast reichlich Essen und Wein für Hunderte von Gästen aufgetragen. Zwanzig Frauen begleiteten die völlig verschleierte Nadira bis zur Tür des Palastes. Es war damals Sitte und ist heute noch an manchen Orten Brauch, dass der Bräutigam der Braut in der ersten Nacht den Schleier abnimmt, wenn sie sich auf die Bettkante gesetzt hat.
Der Herrscher aß und zechte mit seinen Gästen, bis er satt und angetrunken war und seine Lust auf die junge Braut wilder als die eines brünstigen Stiers geworden war. Er ging in den Palast und schloss die Tür hinter sich. Niemand durfte im Haus sein außer ihm und der Braut.
Lachend und singend betrat er das Schlafgemach. Er warf seinen Herrscherumhang auf einen Sessel, legte sein Schwert ab und näherte sich der Braut. Als er ihr den Schleier vom Kopf nehmen wollte, traf ihn ein Stich mit einem großen Messer ins Herz. Erschrocken ging er rückwärts und wollte schreien, doch Malek stürzte sich auf ihn, stopfte ihm den Schleier in den Mund und stach mehrmals auf ihn ein.
Dann riss er das Fenster auf und rief: »Es lebe die Würde!«
Das war das verabredete Zeichen. Über hundert Männer und Frauen stürzten sich auf die betrunkenen Angehörigen des Königs, seine Wesire und seine Garde und erschlugen sie alle.
Malek wurde bald darauf zum neuen Herrscher gewählt. Die Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und viele Länder schafften dieses Recht der ersten Nacht ab.
An den Namen Nadira aber erinnert sich kaum noch jemand.
»Es lebe Nadira!«, riefen viele Frauen.
Eine Lehrerin hob die Hand und nahm sie gleich wieder herunter. Da sprang der Tischler Jusuf Ben Adib auf und meldete sich. Karam winkte ihn herbei.
»Aber ich war zuerst«, rief die Lehrerin empört.
»Leider hast du deine Hand wieder gesenkt und ich dachte, du willst doch nicht erzählen. Aber gut, nach dem Tischler bist du an der Reihe, und ich entschuldige mich bei dir für meine Übereile«, sagte Karam und seine Stimme klang aufrichtig.
»Ach, das macht nichts. Ich habe in der Tat gezögert und dachte, ich schaffe es nicht. Nun, ich werde nach ihm erzählen«, sagte die Frau und lächelte Karam an.
Der Tischler Jusuf erzählt:
In einem nicht allzu fernen Land herrschte vor nicht allzu langer Zeit ein launischer junger König. Seine wechselnden Launen machten ihn gefährlich und unberechenbar. Er gab Befehle und ließ ihre Ausführung durch Kontrolleure überwachen, und wehe, ein Untertan folgte dem Befehl nicht. Einmal verbot er den Wein, und um sicher zu gehen, ließ er alle Reben herausreißen.
Im Sommer aber ärgerte er sich, dass er seine Lieblingsfrucht, die Traube, nicht mehr fand, also befahl er, die Weinberge wieder zu bepflanzen. Ein anderes Mal verbot er den Knoblauch und erlaubte ihn wieder, als ihm sein Essen nicht mehr schmeckte. Dann wollte er die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht machen, deshalb befahl er, alle Leute sollten in der Nacht arbeiten und am Tag schlafen. So quälte er die Bevölkerung. Vor allem die Frauen. Sie durften nicht mehr aus dem Haus gehen. Sieben Jahre lang verbot er die Herstellung von Damenschuhen. Und noch jede Menge andere seltsame Befehle fielen ihm ein.
Eines Tages befahl er, die Hauptstadt solle in der Nacht absolut dunkel bleiben. Kein Licht in den Häusern, keine Fackeln, um die Wege zu beleuchten.
Begleitet von seinem Wesir und mehreren Wächtern ging er durch die Straßen.
Plötzlich sah er ein kleines Haus, und in einem Zimmer leuchteten Kerzen. Der König wurde sehr zornig.
Es war Sommer, und das Zimmerfenster stand offen. Der König lauschte dem Gespräch, das drinnen geführt wurde. In dem Haus wohnten drei arme Schwestern. Sie lebten vom Spinnen der Baumwolle zu Garn und arbeiteten Tag und Nacht an ihren Spinnrädern. Ihre Eltern waren zwei Jahre zuvor kurz hintereinander gestorben.
In jener Nacht unterhielten sich die Schwestern und erzählten einander von ihren Wünschen. Um die Zeit schneller vergehen zu lassen, plauderten sie und lachten dabei.
Die älteste Schwester rief: »Ich wünschte mir, ich könnte den besten Bäcker des Landes heiraten, um endlich satt zu werden und das beste Brot zu genießen. Ihr wisst, ich liebe Brot über alles. Und wenn dann mein Mann aus der Bäckerei kommt und nach Brot duftet, könnte ich mich wie im Paradies fühlen.«
Die mittlere Schwester sagte: »Ich liebe, wie ihr wisst, Fleischgerichte sehr, aber für das wenige Geld, das wir haben, bekommen wir mehr Fett und Knorpel als richtiges Fleisch. Also wünsche ich mir einen reichen Metzger zum Mann, bei dem ich immer satt werde und so oft ich will, zartes, mageres Fleisch essen darf.«
Die Jüngste aber lachte laut über ihre Schwestern. »Was für einfältige, bescheidene Wünsche! Ich habe nur einen Wunsch, ich möchte den König heiraten. Und wenn er sich hinunterbeugt, um mir meinen Schuh zu geben, den ich aus einer Laune heraus absichtlich verloren habe, kann ich ihm eine Ohrfeige geben. Vielleicht versteht er dann, wie bescheuert solche Launen sind, und ich kann ihn damit vielleicht heilen.«
Der König kochte vor Wut und wollte schon ins Haus stürmen und dieser frechen Frau ein paar Ohrfeigen geben. Doch sein Wesir bat ihn, sich zu beruhigen, er würde die Frauen am nächsten Morgen zu ihm bringen lassen. Er merkte sich die Lage des Hauses und gab dem Offizier der Wache den Befehl, die drei Frauen am nächsten Tag dem König vorzuführen.
Gesagt, getan!
Am nächsten Tag saß der König majestätisch in seinem Audienzsaal. Seine Mutter, die ihn sehr liebte und verzweifelt war, nichts gegen seine Launen tun zu können, saß neben ihm. Der König befahl seinem Wesir, die Schwestern eine nach der anderen hereinzulassen.
Als Erste trat die Älteste ein. Sie war ärmlich gekleidet, aber sehr hübsch. Ihr stolzer Gang und ihr starker Blick gefielen der erfahrenen Mutter, und sie wünschte, ihr Sohn würde sie heiraten wollen.
Der König fragte die älteste Tochter nach ihrem Wunsch, und sie wiederholte, sie wolle so gerne einen Bäcker heiraten. »Nur den besten«, betonte sie.
»Du heiratest meinen Bäcker. Er ist der beste und noch ledig!«, antwortete der König bestens gelaunt. Die Mutter war enttäuscht.
»Lass die Zweite herein«, befahl der König, während die erste Schwester zum Bäcker begleitet wurde.
»Und was ist dein Wunsch?«, fragte der König, obwohl er ihn ja bereits kannte. Die Mutter fand die zweite Schwester nicht schlecht, aber nicht so faszinierend wie die erste. Vielleicht war das ein Instinkt. Die Mutter war strenge Vegetarierin.
Die zweite Schwester sagte wieder, sie wünsche sich einen Metzger zum Mann.
»Leider ist mein Metzger schon verheiratet und noch dazu viel zu alt für dich«, erwiderte der König.
»Majestät«, rief der Wesir, »da gibt es noch einen sehr guten außerhalb deines Palastes, einen jungen Metzger namens Hamid, und er ist ledig.«
»Dann soll man die junge Frau zu diesem Metzger bringen und ihm befehlen, sie zu heiraten«, sagte der König, und die Frau strahlte übers ganze Gesicht.
»Nun lass die jüngste Schwester herein«, befahl der König. Als die jüngste Schwester den Raum betrat, war die Mutter begeistert von ihrer Schönheit und beschloss, egal, was das Mädchen sich wünschen sollte, würde sie dafür sorgen, dass ihr Sohn sie heiratete. Deshalb war sie nicht empört, sondern begeistert, als sie den Wunsch der jungen Frau hörte.
»Ich will dich heiraten«, sagte die jüngste Schwester. »Und dann werde ich dir eine Ohrfeige geben, damit du einen Befehl ausführst, der ähnlich absurd ist wie deine Befehle. Welcher Herrscher befiehlt schon, alle Lichter in der Stadt auszumachen?«
»Du wirst sterben, wenn du dich nicht sofort entschuldigst«, zürnte der König.
»Wofür soll ich mich entschuldigen? Du hast mich nach meinem Wunsch gefragt, und ich antworte ehrlich. Sollen auch unsere Wünsche durch Verstummen verderben?«
Die Mutter des Königs hatte Tränen der Rührung in den Augen angesichts der Tapferkeit und Aufrichtigkeit dieser Frau. Sie stand auf und bat ihren Sohn leise, der jungen Frau drei Tage Bedenkzeit zu gewähren. Vielleicht sei sie jetzt nur übermutig und würde vor der tödlichen Konsequenz zurückschrecken und vernünftig werden. Sie übernehme die Überzeugungsarbeit, denn die junge Frau sei ein Juwel.
Der König liebte seine Mutter sehr. Er stimmte zu und sprach ungerührt: »Ich gebe dir drei Tage, um deine Antwort zu überdenken. Wenn du so frech bleibst, bist du selbst schuld, dein Leben zu verlieren.«
Die Mutter des Königs nahm Alia, so hieß die jüngste Schwester, mit in ihren Palast. Er befand sich am anderen Ende des Schlossgartens. Dort angekommen, sagte sie zu ihr: »Wir wollen gemeinsam als vernünftige Frauen handeln, aber erst einmal erfrisch dich und erhol dich von dem Schreck.«
Zwei Dienerinnen begleiteten Alia ins Bad. Sie genoss die Wärme und die Düfte der edlen Essenzen. Als sie fertig war, stellte man ihr schöne Wäsche und Kleider zur Verfügung.
Zwei Stunden später begleitete sie eine Dienerin zur Mutter des Königs. Diese war glücklich, Alia so entspannt wiederzusehen.
»Nichts erfreut mich mehr, als deine Wünsche zu erfüllen. Mein Sohn ist launisch, und ich glaube fest daran, dass nur die Liebe ihn erziehen wird. Deshalb soll er meinen, du seist eine Prinzessin, und sich in dich verlieben. Danach können wir sehen, was zu machen ist. Jeden Nachmittag trinkt mein Sohn seinen Tee auf seiner Terrasse, die auf den Schlossgarten hinausgeht. Dort sollst du fern von ihm und doch gut sichtbar spazieren gehen, bis er dich bemerkt. Dann verschwindest du rasch in meinem Schloss. Viel Glück«, rief die Mutter und umarmte die junge Frau.
Alia ging in den Park und wanderte umher. Der König wurde auf sie aufmerksam und wunderte sich, dass eine Prinzessin zu Besuch bei seiner Mutter war, ohne dass er davon wusste. Er schickte einen seiner Diener, er solle sie zu einem Tee auf seine Terrasse einladen, doch als dieser den Schlossgarten erreichte, war die Prinzessin spurlos verschwunden.
Am nächsten Tag erschien die junge Frau in noch schöneren Kleidern. Wieder wanderte sie zwischen den Bäumen und Blumenrabatten hin und her, und als der Diener sie suchte, war sie nicht mehr zu finden.
Als die Mutter des Königs an diesem Abend in ihr Schloss zurückkehrte, war sie bester Laune und sagte zu Alia: »Er ist vollkommen verliebt in deine Erscheinung. Jetzt musst du den letzten Tag so bestehen, wie wir ihn geplant haben.«
Am dritten Tag ging die Prinzessin erneut spazieren, da stand der König auf und rief nach ihr. Sie näherte sich der hohen Terrasse und schaute hinauf.
»Komm hoch zu mir, ich möchte mit dir einen Tee genießen«, rief der König. Seine Stimme klang weniger wie ein Befehl als vielmehr wie eine Bitte.
Alia stieg die Treppe hinauf. Sie trank den Tee und genoss die Unterhaltung mit dem König. Der erkannte sie nicht, sondern war fasziniert von ihrer Stimme und ihrer Klugheit. Sie erzählte ihm, sie sei zu Besuch bei einer Kindheitsfreundin, da habe sie durch Zufall den Schlossgarten entdeckt, und seine Mutter habe ihr freundlicherweise erlaubt, in diesem Park spazieren zu gehen.
Unversehens glitt ihr das Teeglas aus der Hand, und der Tee benetzte ihr Kleid. Sie bat den jungen König um sein Taschentuch, trocknete den Fleck und steckte, wie sie es mit seiner Mutter vereinbart hatte, das Tüchlein in die Tasche.
»Darf ich Ihr Taschentuch behalten? Es ist wunderschön«, sagte sie mit so schmeichelnder Stimme, dass jeder Mann bereit gewesen wäre, ihr auch seine Augen zu schenken.
»Selbstverständlich, Prinzessin!«, antwortete der König. Bald darauf wollte die Prinzessin gehen. Der verliebte König begleitete sie, ihre Hand haltend, zur Treppe. Plötzlich aber stolperte sie, und ihr Schuh flog mehrere Stufen weit hinunter.
»Würdest du mir bitte meinen Schuh holen?«, bat Alia ihren Gastgeber.
Der König beeilte sich, ihr den Schuh zu bringen.
»Kannst du ihn mir auch wieder binden? Aber bitte, tu es mit der linken Hand, da es sich um den linken Schuh handelt, sonst bringt es Unglück.«
Der König hielt das zwar für Unsinn, aber er kniete vor ihr nieder und versuchte, mit der linken Hand den Schnürsenkel wieder zu binden. Es gelang ihm nicht. Die angebliche Prinzessin gab ihm einen zärtlichen Klaps auf die Wange, streichelte ihn dann und sagte: »Schau mal, wie ich es mache!« Und der König staunte, wie geschickt sie den Schuh band und wie ihr sogar eine schöne Schleife gelang.
Am Fuß der Treppe angekommen, umarmte sie den König zum Abschied. »Du bist ein feiner Mann«, sagte sie, »man muss gegen das eigene Herz kämpfen, um sich nicht in dich zu verlieben. Ich komme morgen wieder«, sie zögerte einen Moment, »… aber nur, wenn du es willst.«
Es war eine vorbereitete Rede wie der ganze Vorfall, dennoch spürte sie, dass sie dabei ehrlich war. Der junge König war hilflos wie ein Kind, das eine starke Hand braucht, und sie fühlte, dass sie diese starke Hand besaß.
Am nächsten Morgen betrat Alia den Audienzsaal. Wie bei der ersten Begegnung war sie ärmlich gekleidet. Die Königsmutter lächelte ihr zu.
»Nun, bist du zur Vernunft gekommen?«, fragte der König.
»Ja«, antwortete Alia. »Und da alle meine Wünsche bereits erfüllt sind, kann ich dich jetzt heiraten.«
Der König wollte sie wieder wütend beschimpfen, doch da wedelte die junge Frau ihm lachend mit seinem Taschentuch zu. »Und mit der linken Hand kann ich besser als du Schuhe binden«, rief sie freundlich.
Jetzt erkannte der König die Prinzessin. Er sprang auf und rannte zu ihr hin, nahm sie in die Arme und drehte sich mit ihr vor Freude im Kreis.
Alles lief so, wie die erfahrene Mutter des Königs es erhofft hatte. Alia machte den jungen König glücklich, und er vergaß seine Launen. Die Bevölkerung atmete erleichtert auf.
»Das ist eine wunderbare Geschichte!«, rief der König, seine Wesire aber lächelten nur schwach und gaben einen ersterbenden Beifall. Die Frauen im Saal dagegen ließen ihren Beifall zu einem Feuerwerk anschwellen. Am Fuß der Treppe angekommen, verneigte sich Karam dankbar.
Die Lehrerin meldete sich jetzt wieder zu Wort. »Ich bin Malika. Mich hat die Geschichte der mutigen Nadira an eine interessante Geschichte erinnert, die mir meine Mutter erzählt hat. Solche Geschichten über mutige Frauen werden oft unterschlagen, weil die Männer darin keine gute Figur machen.«
»Stimmt nicht!«, »Das ist nicht wahr!«, riefen mehrere Männer.
»Eine kleine Information möchte ich den Herren geben«, fuhr die Lehrerin fort. »Frauen haben zwei gänzlich unbedeutende Eigenschaften. Erstens stellen sie die Hälfte der Gesellschaft, und zweitens gebären sie und erziehen auch die andere Hälfte.«
Viele Frauen klatschten. Ein Mann aber rief zornig: »Du sollst nicht predigen, sondern eine Geschichte erzählen.«
Die meisten Männer klatschten und lärmten.
Als es Karam zu lang vorkam, stand er auf und hob die Hand. Die Leute wurden ruhig. Er richtete seinen Blick auf die Lehrerin und sagte mit freundlicher Stimme:
»Wir lieben interessante Geschichten, und wenn sie so selten sind, dann noch mehr.«
Die Lehrerin Malika erzählte:
Einst lebte ein junger Mann namens Omar mit seiner verwitweten alten Mutter am Rande der Wüste. Sie besaßen nur ihr Zelt und ein paar Ziegen, mit denen sie auf der Suche nach Weideplätzen durch die Steppe wanderten. Aus der Milch machte die Mutter guten Käse, und Omar verkaufte ihn auf den Dorfmärkten.
Doch in einem Jahr geizte der Himmel mit Regen, und die Ziegen gaben kaum noch Milch, um daraus Käse zu machen.
So musste Omar eine Ziege nach der anderen verkaufen, um mit seiner Mutter zu überleben.
Eines Abends machten vier Jäger bei ihm Halt. Sie waren müde und hungrig. Er bot ihnen ein paar Stückchen von ihrem wenigen Käse an, Oliven und das frische Brot, das seine Mutter für die kommenden Tage gebacken hatte. Dazu einen Teller voller Datteln. Die Männer waren dankbar für die Gastfreundschaft, zumal sie merkten, wie arm Omar und seine Mutter waren. Sie aßen und schliefen in seinem Zelt, das er für sie hergerichtet hatte. Er und seine Mutter lagen auf dünnen Decken unter freiem Himmel.
Omar aber konnte nicht schlafen. Was sollte er den vier Männern am nächsten Tag anbieten? Er beratschlagte leise mit seiner Mutter, und sie riet ihm, sich eines der Pferde der Gäste zu nehmen, hinauszureiten und nach etwas Essbarem zu suchen.
Er ritt, bis er die Zelte eines großen Beduinenstammes erreichte. Omar band sein Pferd an eine Palme und schlich in das erste große Zelt. Er hatte Glück. Es war das Vorratszelt dieser Sippe.
Dort wurden Mehl, Butterfett, Weizengrütze, Käse, Oliven und Datteln in großen Behältern aufbewahrt. Als Omar den Deckel eines Behälters abhob, fiel dieser krachend zu Boden, und er fuhr zusammen.
Durch den Krach geweckt, trat eine junge Frau ins Zelt. Sie erschrak bei Omars Anblick, doch der beruhigte sie und flehte sie an, ihm zu helfen. Die Frau lächelte und füllte ihm mehrere kleine Säcke und Töpfe mit Lebensmitteln. Dann bat sie ihn, schnell zu verschwinden, bevor jemand etwas merkte.
Er bedankte sich und ging hinaus.
Die junge Frau aber konnte nicht einschlafen, denn rings um das Lager der Beduinen gab es Fallen für Tiere und umherschleichende Diebe. Sie hatte Sorge, dass der Fremde in eine dieser Fallen geraten könnte. Deshalb stahl sie sich heimlich hinaus.
Und sie hatte sich nicht geirrt. Als sie zu einer der Fallen kam, sah sie, dass Omar unten in der tiefen Grube stand. Zum Glück war er nicht verletzt. Rasch holte sie ein Seil und warf es ihm zu. Sie versuchte, ihn damit heraufzuziehen, doch anstatt ihn zu retten, rutschte sie selbst ab und fiel auf ihn in die enge Grube.
Sie wusste genau, wenn das ihr Vater, ihre Brüder, die gerade unterwegs waren, oder einer ihrer Verwandten erführe, würde man ihre Erklärung nicht glauben und sie beide töten. Plötzlich standen sie und Omar sich nicht nur körperlich nahe. Ihnen drohte das gleiche Schicksal. Vor Angst umarmten sie einander fest, so wie ein Ertrinkender Rettung an einem Holzbalken sucht.
Aber sie hatten Glück, ein Schäfer, der seine Herde in der Morgendämmerung hinausführte, hörte ihr Geflüster und zog sie aus der Grube. Die junge Frau erzählte ihm, wie sie in die Falle geraten waren, und bat ihn, das Geheimnis zu hüten, um ihr Leben nicht zu gefährden.
Omar ritt schneller als der Wind zurück zu seiner Mutter, und am nächsten Morgen konnten sie den vier Gästen ein gutes Frühstück bereiten. Die Jäger genossen erneut die Gastfreundschaft, dann ritten sie davon. Nur einer wunderte sich, dass sein Pferd so verschwitzt war.
»Wer weiß«, sagte er und lachte, »vielleicht hat es im Traum an einem Pferderennen teilgenommen und verloren. Wie oft bin ich selbst nach einem Albtraum total durchgeschwitzt.«
Nun zurück zu der jungen Frau. Sie hieß Samar und zeigte sich sehr großzügig. Sie schenkte dem Schäfer, der sie gerettet hatte, immer wieder etwas, was er sich wünschte, und erfüllte ihm jede Bitte. Und sie erzählte ihren zurückgekehrten Brüdern, wie nett er sei, dass er mehrere Kinder habe und kaum von seinem Lohn als Schäfer eines reichen Beduinen leben könne.
Doch Geheimnisse brauchen einen starken Willen und ein Herz voller Aufrichtigkeit, und beides besaß der Schäfer nicht. Er begann, die junge Frau zu erpressen. Nun wollte er kein Geld und keine Kleider mehr, er wollte mit ihr schlafen. Samar erschrak sehr und lehnte ab.
Eines Tages schwafelte er ihrem ältesten Bruder etwas vor von Moral und Ehre und dass sie durch die Frauen manchmal in Gefahr gerieten. Samars Bruder langweilte sich und fragte den Schäfer, warum er ihm das erzähle. Da antwortete der Schäfer, er sei eigentlich schüchtern und wolle nicht petzen, aber eines Nachts habe er Samar zusammen mit einem Fremden gesehen.
Zum Glück stand Samar hinter dem Zelt und hörte alles mit. Der Schäfer setzte seine Erzählung fort und spickte sie mit Erfindungen, wie ihm die Zunge half. Samar aber sprang auf ihr Pferd und ritt davon.
Samars Brüder begannen sie in den Zelten zu suchen. Bald erfuhren sie von ihrer Flucht, und nun glaubten sie dem Schäfer. Sie schworen, sie würden sie finden und töten. Samar aber wusste, wo Omar mit seiner Mutter lebte, und sie erreichte deren Zelt, einen Tag bevor sie weiterwanderten.
Sie erzählte Omar vom Verrat des Schäfers und weinte. Er nahm sie in die Arme und küsste sie. Dann erzählte er ihr, wie arm er sei und dass er überglücklich wäre, wenn sie sein Leben mit ihm teilte, denn seit jener Umarmung in der tiefen Grube hatte er sie ins Herz geschlossen. Samar, die zwar in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen war, willigte ein. Von nun an zogen sie zu dritt durch die Steppe und machten immer wieder Halt an guten Weideplätzen für ihre Ziegen.
Ein Jahr später tauchten die vier Jäger, die schon einmal bei Omar zu Gast gewesen waren, wieder bei ihm auf. Sie brachten ihm sogar Geschenke mit. Diesmal seien sie nicht auf der Jagd, sagten sie, sondern suchten ihre Schwester, die ihre Ehre mit einem Fremden befleckt habe. Und sie seufzten, wie schwer es sei, die Ehre der Frauen zu beschützen.
Omar widersprach. Es gebe Frauen, die ein Herz hätten so groß wie die Erde. Sie könnten einen Fremden mit offenen Armen empfangen, nicht nur, ohne ihre Ehre zu beflecken, sondern sie würden dadurch noch mehr Ehre verdienen. Er könne ihnen von einer Frau erzählen, die ihn vor großer Schande gerettet habe, damals als sie ihn besuchten und er nichts mehr besaß, um sie am nächsten Tag zu bewirten. Und er erzählte ihnen von seinem nächtlichen Abenteuer mit der fremden jungen Frau, die ihm geholfen hatte, und wie sie in die Falle geraten waren und von einem Schäfer gerettet wurden.
»Erinnerst du dich, wie du dich letztes Jahr so gewundert hast, dass dein Pferd morgens sehr verschwitzt war?«, fragte einer der Jäger seinen Bruder.
Der andere Jäger nickte. »Natürlich«, sagte er und lächelte. Der älteste Jäger fragte Omar, wo dieser Ort sei, an dem er diese junge Frau getroffen habe. Omar beschrieb ihnen den Weg, und da erkannten die Jäger, dass die Frau niemand anderes war als ihre Schwester.
Samar, die mit Omars Mutter im Nachbarzelt saß, hörte das Gespräch. Sie kam mit dem Kaffee und begrüßte ihre Brüder stolz erhobenen Hauptes.
»Der Schäfer, der Omar und mir damals geholfen hat, verlangte immer mehr, und ich gab ihm immer etwas, damit er mich nicht verriet. Erinnert ihr euch?«, fragte sie. Die Brüder nickten. »Schließlich verlangte er etwas, das ich ihm verweigert habe. Er wollte mit mir schlafen.«
Die Brüder entschuldigten sich bei ihr. Sie sagten, sie hätten nun für ihr Lebtag gelernt, Frauen zu achten und deren Mut nicht in Abrede zu stellen. Sie gaben alles Geld, das sie bei sich trugen, Samar, Omar und seiner Mutter und ritten zurück zu ihren Zelten.
Der Schäfer musste nach ein paar Peitschenhieben vor dem versammelten Beduinenstamm zugeben, dass er gelogen und Samar erpresst hatte.
Er wurde aus dem Stamm verstoßen.
Der Beifall war, anders als Karam erwartet hatte, eher verhalten.
Der Stadtkutscher bat ums Wort. Die Leute lachten und klatschten begeistert, wie wenn sie seinen Entschluss begrüßen wollten.
Der Stadtkutscher erzählte:
Der zweite Kalif Omar (634—644) pflegte der Legende zufolge nachts durch die Stadt zu gehen und sich persönlich über seine Untertanen zu informieren.
Eines Nachts erreichte er ein Haus, in dem noch Licht brannte. Er hörte Lachen und Gesang, und bald konnte er durch ein niedriges Fenster beobachten, dass drinnen drei Männer Alkohol tranken.
Die Haustür war verschlossen. Er stieg über die niedrige Brüstung durchs Fenster und überraschte die Saufkumpane. »Ihr Sünder«, schrie er. Die Gäste konnten trotz des Schreckens schnell entkommen. Nur der Hausbesitzer sah sich gegenüber dem strengen Kalifen in der Falle. Dieser zeigte auf die Gläser.
»Du sündigst. Alkohol zu trinken ist streng verboten, deshalb verdienst du eine harte Strafe«, sagte der Kalif mit vor Zorn heiserer Stimme.
Der Gastgeber bat um Verzeihung, doch der Kalif bestand auf der Strafe. Da nahm der Sündige seinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Entschuldige bitte, ich habe einmal gesündigt, und du willst mich auspeitschen lassen. Aber du hast dreimal gesündigt …«
»Wieso habe ich dreimal gesündigt?«, fragte der Kalif verdutzt.
»Ja, du hast uns ausspioniert, und das ist im Koran streng verboten, du hast mein Haus ohne meine Genehmigung betreten, was ausdrücklich verboten ist, und du bist durchs Fenster bei uns eingestiegen, was Gott ebenfalls verboten hat. Hat nicht unser Prophet, Gott segne ihn, befohlen, Häuser nur durch die Tür zu betreten, und erst, wenn man die Hausbewohner begrüßt hat? Du bist weder durch die Tür gekommen, noch hast du uns begrüßt. Also!«
Der Kalif war beeindruckt vom Mut des Mannes und beschämt über seine Sünden. Er verließ schweigend das Haus, und der Hausbesitzer trank stillvergnügt den restlichen Wein aus.
Einige, die zum ersten Mal dabei waren, klatschten begeistert. Ihre Nachbarn flüsterten ihnen etwas zu. Der Kutscher schaute sie an. »Bitte nicht klatschen, dann verliere ich den Faden«, sagte er ernst.
Als Abraham auf Befehl des brutalen Königs Nimrod ins Feuer geworfen wurde, eilte ein Spatz zur Quelle und brachte in seinem kleinen Schnabel ein paar Tropfen Wasser, die er über dem Feuer fallen ließ. Dann flog er zurück zur Quelle. Unermüdlich flatterte er hin und her, während das Feuer von den Soldaten des Herrschers noch stärker entfacht wurde.
Ein anderer Vogel beobachtete ihn. »Was willst du mit deinem mickrigen Schnabel gegen das Feuer bewirken?«, rief er und lachte den Spatz aus.
»Ich weiß, dass meine paar Tropfen nicht viel ausrichten«, antwortete der Spatz, »aber wenn der Tag des Jüngsten Gerichtes kommt und ich gefragt werde, was hast du getan, als der große Prophet ins Feuer geworfen wurde, dann will ich nicht beschämt dastehen, sondern antworte dem Herrn der Welten: Ich habe getan, was ich konnte.«
Der Jugendfreund eines Gelehrten wurde aufgrund politischer Umwälzungen zum Kalifen. Der ehemals sanfte Gelehrte herrschte gnadenlos.
Nach einiger Zeit erinnerte sich der Herrscher an seinen klugen Freund, und ihm fiel auf, dass dieser ihn noch nie besucht oder ihm zu seinem politischen Erfolg gratuliert hatte. Der Kalif lud ihn ein. Der Gelehrte nahm die Einladung an, und beide freuten sich, nach so vielen Jahren wieder beieinander zu sein. Der Kalif fragte den Freund in vielen Angelegenheiten nach seiner Meinung, und der Gelehrte antwortete aufrichtig. Es gab einiges, was ihm an der Herrschaft des Kalifen nicht gefiel. Der Kalif aber leugnete die Untaten seiner Beamten, Polizisten und Soldaten gegen die hilflose Bevölkerung und nahm keinerlei Kritik an. Als der Gelehrte sich schließlich verabschiedete, wollte der Kalif ihm tausend Golddinare schenken. Der Gelehrte lehnte ab.
»Dann sage mir, was du dir wünschst, und ich schenke es dir«, sagte der Kalif.
»Dass du mich nie wieder zu dir rufst«, antwortete der Gelehrte ruhig.
»Warum nicht?«, fragte der Kalif.
»Ich strebe nicht nach einem besseren Diesseits, und meine Hoffnung auf ein gutes Jenseits kannst du nicht erfüllen.«
»Du könntest mich doch einfach begleiten und mir Ratschläge geben.«
»Wer auf ein besseres Jenseits hofft, begleitet keinen Herrscher, und wer auf ein besseres Diesseits Wert legt, gibt dem Herrscher keinen ehrlichen Rat.«
»Aber dann werden wir uns nicht mehr sehen«, sagte der Kalif traurig.
»Und das ist genau mein Wunsch«, antwortete der Gelehrte den Tränen nahe und verließ den Palast.
Ibn al Rumi war ein großer Dichter. Seine oft satirische Kritik machte ihn unbeliebt, ja, bei manchem Herrscher verhasst. So auch beim Großwesir Ibn Wahb, den der Dichter für seine hartherzigen Taten gnadenlos kritisierte. Dieser hatte davon erfahren und hasste den Dichter dafür, doch tat er so, als wäre er über Kritik und Satire erhaben. Zugleich lauerte er auf eine Möglichkeit, es dem Dichter heimzuzahlen. Die ergab sich, als der Kalif zu seinem Geburtstag die Gelehrten, Dichter und Philosophen einlud. Sie kamen alle, auch der Dichter Ibn al Rumi. Er setzte sich so weit entfernt vom Herrscher wie möglich. Er war nie ein Hofdichter gewesen und lebte in Armut.
Der Wesir beauftragte einen ihm ergebenen Diener, auf Ibn al Rumis Teller die Süßigkeit, die allen Gästen nach dem Essen gereicht wurde, zu vergiften. Ahnungslos aß der Dichter seinen Nachtisch, doch bald spürte er die Schmerzen, die das Gift in seinem Inneren auslöste. Er stand auf und verließ langsam den Audienzsaal. Die Gäste erstarrten, eine schwere Stille senkte sich über den Raum.
»Wohin gehst du?«, fragte der Großwesir Ibn Wahb und lachte dabei.
»Dorthin, wohin du mich geschickt hast«, antwortete der Dichter laut.
»Dann grüße meinen Vater und Großvater«, rief ihm der Großwesir zu.
»Ich gehe nicht in die Hölle«, antwortete der Dichter und verließ den Saal. Er starb, kurz bevor er sein Haus erreichte.
Einst wollte ein Bauer in der nahen Stadt einige notwendige Geräte und Lebensmittel kaufen, also ritt er auf seinem Esel hin, und sein vierzehnjähriger Sohn lief neben ihm her. Sie unterhielten sich, das Wetter war mild und die Landschaft schön. Da kamen ihnen zwei alte Frauen entgegen.
»Was für ein hartherziger Vater! Er sitzt mit seinem dicken Hintern auf dem Esel und lässt seinen Sohn laufen«, sagte die eine leise, aber so, dass der Bauer und sein Sohn es hören konnten.
»Schau, das Gesicht des Jungen ist blass vor Müdigkeit. Was sind das für Eltern!«
Der Bauer schämte sich. Er hielt an, stieg ab und ließ seinen Sohn auf dem Esel reiten. »Das Gehen tut mir gut«, tröstete er den Sohn. Nicht einmal fünfhundert Meter ritt der Sohn, da kamen ihnen drei Männer entgegen.
»Mein Gott, was für eine Jugend heutzutage! Der Sohn genießt das Reiten und lässt seinen armen Vater zu Fuß gehen!«
»So eine Unverschämtheit, und dafür ernährt und beschützt man die Jungen. Ich glaube, das ist ein Zeichen unserer verdorbenen Zeit«, sagte der dritte.
Der Sohn stieg ab.
Der Vater schlug vor, sie sollten zusammen auf dem Esel reiten. »Ich hätte früher darauf kommen sollen, dann werden weder alte Weiber noch angeberische Männer sich das Maul zerreißen.« Also saßen beide auf.
Da kamen ihnen ein Lehrer und seine Frau entgegen. »Was sehe ich da, das arme Tier! Ja, haben Sie denn kein Herz für Tiere, dass sie diesen kleinen Esel quälen?«
»Arme Tiere. Gestern habe ich gesehen, wie einer seinen Hund zu Tode geprügelt hat«, sagte die Frau.
Da stiegen Vater und Sohn ab und gingen neben dem Esel her. Doch nicht lange, da tauchte eine Familie auf.
»Schau mal die blöden Bauern! Sie gehen zu Fuß und schleppen den Esel hinter sich her«, sagte der Vater.
»Das arme Tier! Bei dieser Hitze!«, ergänzte die Mutter.
Vater und Sohn warfen sich einen verzweifelten Blick zu. »Es bleibt uns nur eins, den Esel zu tragen«, sagte der Vater.
»Nein, dann werden die Leute uns für verrückt halten. Am besten, du gehst allein zum Markt«, entgegnete der Sohn und eilte nach Hause.
An diesem Tag dachte der junge Mann noch lange darüber nach, warum sein Vater so viel Angst vor der Meinung anderer Leute hatte. Er beschloss, diese Angst abzuschütteln und nie wieder der Meinung anderer Beachtung zu schenken.
Der Kutscher genoss sichtlich den Beifall. Er blieb noch eine Weile auf der Kanzel stehen, verneigte sich dankbar in alle Richtungen und ging dann langsam die Treppe hinunter.
Ein Konditor namens Dimaschki hob die Hand. Er war vielen bekannt und berühmt für sein Gebäck, leckere Spezialitäten mit Pistazien und anderen Nüssen. Das Erstaunliche war, seine Süßigkeiten trieften nie vor Sirup, sondern man konnte alle Bestandteile einzeln auf der Zunge schmecken.
»Viele kennen meine Süßigkeiten, aber nicht so viele kennen mich«, begann der Konditor. »Meine Eltern stammten aus Damaskus. Ich muss jedes Jahr im Herbst einmal hinfahren, denn dann ist die Stadt am schönsten.
Die Damaszener lieben das Gespräch, und sie lieben das Feilschen. Fragt man jemanden, wie viel vier und vier ist, und er antwortet, ›Kommt darauf an‹, so ist er mit Sicherheit ein Damaszener.«
Der König und viele andere lachten.
»Ich könnte eine unglaubliche Geschichte erzählen«, rief der Konditor laut, »die vor ein paar Jahrhunderten in Damaskus passiert ist. Sie zeigt, wie fortschrittlich und offen die Damaszener damals waren.«
»Wir bitten dich darum«, rief ihm Karam entgegen. Der beleibte Konditor schritt durch die Reihen und alle, an denen er vorbeiging, atmeten genüsslich den süßen Duft ein, der hinter ihm herwehte.
»Ich könnte hineinbeißen«, rief der Kutscher, als der Konditor an ihm vorbeikam. Die anderen lachten.
Der Konditor erzählte:
In Damaskus lebte einst ein Richter, der bekannt war für seinen Humor und seinen Mut. Eines Tages suchte ihn ein armer Mann auf. Als der Richter ihn fragte, was er wolle, antwortete der Mann: »Ich komme, um Gott anzuklagen.«
»Gott anklagen?«, staunte der Richter.
»Ja, ich bin gläubig. Gott hat mich geschaffen, ohne mich zu fragen, ob ich es will. Und er hat zugelassen, dass ich mich in eine Frau verliebe, die bei jedem Kuss schwanger wird. Inzwischen habe ich so viele Kinder, dass ich mit ihnen eine Schule eröffnen könnte. Aber Gott hat mir keine Erbschaft zukommen oder mich eine vernünftige Arbeit finden lassen. All das hat er mir zugemutet, ohne dass ich irgendetwas Böses gemacht habe.«
»Gib mir Zeit«, sagte der Richter, »und ich werde dich zu einer Gerichtssitzung gegen Gott vorladen.«
Der Richter ging zum Bürgermeister und erzählte ihm, welche Klage der arme Mann erhoben hatte.
»Und was willst du machen?«
»Ich werde den Prozess führen, aber nur ausgesuchten Zuhörern erlauben, ihm beizuwohnen. Der Mann hat viel zu sagen, aber ich bin mir sicher, nur belesene, freigeistige Menschen, die außerdem gute Nerven haben, können diesen Prozess ertragen. Machst du mit?«
Der Bürgermeister lachte. »Klar, mache ich mit, so ein Prozess kommt in tausend Jahren nur einmal vor.«
Der Richter wählte fünfzehn Männer und fünf Frauen aus, die er gut kannte, und bat sie um absolute Diskretion. Denn wenn Fanatiker erführen, worum es in dem Prozess ging, würden sie den Ankläger und wahrscheinlich auch ihn selbst töten.
Zum vereinbarten Termin schickte er nach dem armen Mann. Als alle Zuhörer versammelt waren, eröffnete er den Prozess.
»Nun, guter Mann, brauchst du einen Rechtsanwalt?«
»Nein, ich habe selber Zunge und Hirn.«
»Kannst du mir den Angeklagten hierherbringen?«
»Er ist überall, auch hier«, erwiderte der arme Mann ganz ruhig. Und er führte wieder seine Beschwerde gegen Gott. Ein aufgeklärter, aber sehr gläubiger Gelehrter meldete sich als Verteidiger und rezitierte Sprüche über die Gnade Gottes. Der arme Mann ließ sich nicht beeindrucken.
»Das sind wohlgesetzte Worte, aber daraus kann ich keine Suppe kochen oder Kleider für meine frierenden Kinder nähen. Gott hat etwas gegen mich, und dafür klage ich ihn an. Ich habe ihm doch nichts Böses getan! Er soll sich gegen die Mächtigen wenden und nicht gegen die kleinen Leute.«
Der Richter war beeindruckt.
»Seit wann existiert diese Feindseligkeit zwischen dir und Gott?«
»Seit etwa zwanzig Jahren. Plötzlich wurden alle Türen vor mir zugeschlagen, und ich bekam keine Anstellung mehr.«
»Und heute erhebst du das erste Mal Anklage gegen Gott?«
Der arme Mann nickte.
»Warum bist du damit nicht zu einem meiner drei Vorgänger gegangen?«
»Weil keiner von denen so mutig und frech war wie du. Die anderen hatten Schiss vor Gott.«
Die Zuhörer lachten. Auch der Richter, den die Antwort sprachlos machte, lachte mit.
»Wärest du bereit, die Anklage fallen zu lassen, wenn ich dir einen guten Vergleich vorschlage?«
»Aber nicht, wenn ich dafür eine Reise nach Mekka bekomme! Davon haben meine Kinder nichts zu essen und meine Frau nichts zum Anziehen«, antwortete der Mann selbstbewusst.
Wieder erntete er Lachen. Man bewunderte den Witz des armen Mannes und die Geduld und den Humor des Obersten Richters.
»Nein, nein, du kannst dich auf mich verlassen. Ein Vergleich bedeutet, dass beide Seiten mit der Lösung zufrieden sind.«
»Wenn das so ist, stimme ich zu und ziehe die Anklage zurück.«
»Dann komm heute Abend zu mir. Hier ist meine Adresse.«
Der Gerichtsdiener übergab dem armen Mann einen Zettel mit der Anschrift.
Man ging heiter auseinander.
Abends kam der arme Mann zum Haus des Richters. Dieser gab ihm fünf Golddinare, Kleider, sackweise Mehl, Reis und Zucker, mehrere Flaschen Olivenöl und eine Kiste voller Kinderspielzeug.
»Hier ist die Adresse eines der Zuhörer im Saal. Er besitzt ein großes Anwesen und braucht dringend einen Hausmeister, der sich um Haus, Stall und Garten kümmert. Und jetzt unterschreibe mir diese Bestätigung.«
»Was für eine Bestätigung?«
»Du sollst mir bestätigen, dass ich den Vergleich zwischen dir und Gott gewissenhaft geführt habe. Den Zettel hebe ich auf bis zum Ende meiner Tage, und wenn mir der Herr der Welten dann irgendwelche Sünden vorhält, zeige ich ihm diese Bescheinigung und wir sind quitt.«
Der Mann unterschrieb. Vom nächsten Tag an arbeitete er fleißig als Hausmeister auf dem großen Anwesen und klagte Gott nie wieder an.
Manche, aber nicht viele waren begeistert von dieser Geschichte. Ein Vertreter der Humorlosen, ein Religionslehrer in der Nähe von Karam, sagte halb laut zu seinem Nachbarn: »Er soll lieber seine Süßigkeiten backen und den Mund halten … Gott anklagen! Das fehlte noch!«
Karam stand auf und drückte dem Konditor demonstrativ lange die Hand, dankbar für seinen Mut.
Eine Lehrerin meldete sich zu Wort.
»Ich heiße Nahla, bin Lehrerin und unterrichte die kleineren Kinder«, begann sie noch an ihrem Platz, »und immer wieder erzähle ich ihnen Geschichten, die sie zum Lachen bringen, aber ihnen auch die Werte der menschlichen Gesellschaft näherbringen sollen. Das versuche ich, eher beiläufig zu tun, ohne erhobenen Zeigefinger. Oft fragen mich die Eltern, ob ich manche Geschichte etwas milder formulieren würde, damit ich den Kindern nicht so viel Angst mache.« Die Lehrerin schaute um sich, und viele nickten.
»Selten tue ich das«, rief die Frau, »sehr selten sogar. Nur dort, wo Mord und Totschlag verherrlicht werden, wo Lug und Betrug gelobt werden, versuche ich, etwas abzumildern. Aber die Kinder sollen das Leben und keinen lächerlichen Ersatz davon kennenlernen, und je schneller, desto besser. Wenn ihr wollt, erzähle ich euch eine Geschichte, die meinen Schülern sehr gefallen hat.«
»Ich bitte darum«, rief Karam. »Nur wenn wir im Herzen Kinder bleiben, werden wir die Geschichten genießen und weise werden«, fügte er hinzu. Die Frau machte sich auf den Weg zur Kanzel.
Die Lehrerin Nahla erzählte:
Man erzählte von einer Maus, die in dem üppigen Garten eines fleißigen jungen Bauern lebte. Sie wohnte vergnügt in ihrem Mauseloch und hatte alles, was sie zum Leben brauchte.
Eines Tages entdeckte eine Schlange das Loch, fand die Behausung bequem und besetzte das gepflegte Heim der kleinen Maus.
Diese bekam große Angst, als sie bei ihrer Rückkehr die Schlange in ihrer Behausung entdeckte. Sie ging zu ihrer Mutter und erzählte ihr, was geschehen war. Der aber fiel nichts Besseres ein, als ihr eine Predigt zu halten.
»Kind, du hast bestimmt eine Sünde begangen. Deshalb hat Gott dir die Schlange geschickt, damit du Heim und Frieden verlierst. Du musst die Schuld nicht bei der Schlange, sondern bei dir selbst suchen.«
Die Maus überlegte lange, aber sie vermochte sich beim besten Willen an keine Sünde zu erinnern. Schließlich erkannte sie, dass ihre Mutter wohl aus Hilflosigkeit und Angst so reagiert hatte. Sie machte sich auf den Weg zum König der Mäuse, dessen Palast unter der Gartenmauer lag. Die Maus trug ihm ihr Anliegen vor und bat ihn um Hilfe, die Schlange zu vertreiben.
»Ach, nein«, rief der König, »schon oft habe ich gehört, dass du eine nachlässige Person bist. Wärst du daheim geblieben, hätte die Schlange keinen Platz bei dir gefunden.«
»Aber Euer Ehren, sie hätte mich gefressen«, widersprach die Maus in höflichem Ton.
»Gefressen oder nicht, das ist nicht sicher. Sicher ist, dass du selbst schuld bist, weil du dein Haus vernachlässigt hast.«
»Aber Majestät, mein Urgroßvater, mein Großvater und mein Vater haben deinen Eltern und Vorfahren gedient, und nun brauche ich einmal deine Hilfe …«
»Hilfe!«, schrie der König, »das nennst du Hilfe? Wenn ich mit meinen tapferen Soldaten die Schlange vertreibe, und das kann ich wohl, dann wird sie zu ihrem König gehen und mich anschwärzen, und dann greift er mein Königreich mit seiner fürchterlichen Armee an, und ich bin erledigt. Besser, du gehst in eine andere Ecke des Gartens und schaufelst dir ein neues Mauseloch. Es gibt Platz genug.«
»Das ist deine Antwort? Wenn du mir in dieser Notlage nicht hilfst, wann willst du es dann tun, und warum soll ich deine Untertanin bleiben?«
»So eine bist du also! Das habe ich mir schon gedacht. Verschwinde schnell, bevor ich dich der Katze übergebe«, rief der König.
»Auch das noch!«, schimpfte die Maus und rannte hinaus. Es war ein sonniger Frühlingstag. Der junge Bauer, der an dem Tag nichts zu tun hatte und sich freute, dass die Kälte und Nässe der letzten Tage vorbei waren, legte sich in der Nähe des duftenden Mandelbaums auf die Wiese. Auch die Schlange lag in der Sonne vor dem Mauseloch.
Die Maus zwickte den Bauern in den großen Zeh. Als er sich aufrichtete, entdeckte er sie. Sie blickte ihn frech an. Er lächelte und legte sich wieder hin. Die Maus schlich erneut zu ihm hin und biss ihn mit aller Kraft ins Ohrläppchen. Der Mann schrie vor Schmerz auf, fuhr hoch, nahm einen Stock und wollte die Maus erschlagen. Sie aber lief ganz langsam auf ihr Loch zu. Der Bauer kam immer näher, und als er sehr nahe an dem Mauseloch war, verschwand sie blitzschnell unter dem Jasminbusch. Da sah der Bauer die Schlange. Er konnte Schlangen nicht ausstehen, denn sie hatten immer wieder die Küken seiner Hühner gefressen.
Der Bauer erschlug die Schlange und warf das Aas seinem Hund vor. Dann legte er sich hin und genoss seine Siesta. Die Dankesworte der Maus: »Gut gemacht, Junge, ich ernenne dich hiermit zu meinem Leibwächter«, hörte er nicht mehr.
»Schön!«, riefen viele, auch der König, der sehr kräftigen Beifall gab. Dann schaute er auf seine roten Handflächen, lachte und zeigte sie dem Großwesir, Nuras Vater, neben ihm, und dieser lachte auch und zeigte dem König seine ebenfalls geröteten Hände.
Karam ging die Treppe hinauf zur Kanzel. Noch bevor er dort angekommen war, rief eine Frau: »Und morgen? Was für ein Thema soll morgen drankommen?«
Karam lächelte.
»Gnädige Frau, Sie sind jünger als ich und deshalb auch schneller. Morgen soll von Klugheit und Dummheit erzählt werden.«
»Oh, da brauchen wir zehn Abende dafür«, rief die Frau, und viele lachten.
»Meinetwegen«, setzte Karam seine Rede fort. »Klugheit und Dummheit sind eigentlich Gegensätze. Jeder von uns ist überzeugt, er könne leicht zwischen ihnen unterscheiden, doch abgesehen von ein paar offensichtlichen Fällen ist die Grenze zwischen beiden Eigenschaften fließend. Nicht selten begehen für klug gehaltene Menschen Dummheiten, die der dümmste Hornochse nicht fertigbringt.
Also seid morgen großzügig, schenkt uns Geschichten, die von beiden Extremen berichten.«
Sadek, der den ganzen Abend still in der zweiten Reihe gesessen hatte, kam auf Karam zu. »Ich habe heute einiges gelernt«, sagte er und drückte ihm zum Abschied dankbar die Hand. »In Zukunft werde ich mich mutiger verhalten, wenn es darum geht, mit Freunden offen zu sprechen und ihnen, wenn nötig, auch zu widersprechen. Kommst du morgen zu mir auf einen Kaffee? Wir können dann länger reden«, sagte er.
»Gerne«, erwiderte Karam. Er war gerührt, aber mehr konnte er nicht sagen, da er von Frauen und Männern umringt war, die sich ebenfalls dankend verabschieden oder einfach nur ein paar Worte mit ihm wechseln wollten.
Als sich Karam an diesem Abend von König Salih und von Jasmin verabschiedete, bedankte die Prinzessin sich sehr freundlich bei ihm.
»Ich habe schon lange nicht mehr so viel gelacht und gelernt wie heute«, sagte sie.
Er wollte sich auch von Nura verabschieden und reichte ihr die Hand, doch sie zog ihn an sich und umarmte ihn herzlich. Sie duftete nach Zimt und Koriander. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Warte auf mich, ich will mit dir essen gehen.«