Das war die Geschichte der Königstochter Jasmin, die durch das Geschichtenerzählen geheilt wurde. Erzählen ist Leben, und Schweigen gleicht dem Tod. Scheherazade hat mit ihren Erzählungen einen kranken König von seinem Hass und Misstrauen gegenüber Frauen geheilt und Hunderten von Frauen das Leben gerettet.
Den Roman Wenn du erzählst, erblüht die Wüste habe ich den Erzählabenden meines Großvaters Karam nachgebildet.
Sein Haus stand, zumal er wohlhabend war, immer offen für Gäste. Jede Nacht habe ich aufgeschrieben, was er seinen Gästen erzählt hat. Ein gutes Gedächtnis habe ich bis heute. Als ich ihm ein halbes Jahr später die Geschichten vorlas, lächelte er nachsichtig, aber er hörte tatsächlich bis zum Ende zu. »Zu mager«, sagte er, »du hast die mündliche Form festgehalten. Das ist nicht schlecht, doch alle Geschichten, die man mündlich erzählt, leben von der Spannung des Augenblicks. Sie berücksichtigen die Aufmerksamkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer. Das macht sie reizvoll und unsterblich. Aber du musst nach den Ursprüngen dieser Geschichten suchen. Sie sind, sagt man, in genau hundert Büchern enthalten. Suche diese Perlen und schreibe sie in voller Länge ab, hierin liegt das zauberhafte Geschenk der Schrift. Wenn dein Buch eine Fülle von Erzählungen bietet, können die mündlichen Erzählerinnen und Erzähler genug Stoff daraus schöpfen, um damit phantasievoll und spannend ihr Publikum zu unterhalten. Die Zuhörerinnen und Zuhörer werden den Ort des Erzählens verlassen und die Helden der Geschichten überallhin begleiten. Darin liegen Schönheit und Zauber des Mündlichen. Suche diese Geschichten, und wenn meine Vermutung stimmt und du die letzte Geschichte im hundertsten Buch findest, so lege mir eine rote Rose auf mein Grab. Es kann sein, dass du dann ein Lachen aus der Tiefe hörst«, sagte er und lachte.
Ich bin, wie mein Vater, Arzt von Beruf, doch das Erzählen ist meine Leidenschaft seit der Kindheit. Und nicht selten half es mir sogar bei der Behandlung meiner Patienten.
Sieben Jahre lang las ich in jeder freien Minute. Hunderte von Büchern waren das. Viele versprachen mit vielen Worten eine reiche Ernte, gaben aber nichts her, andere, scheinbar unauffällige Bücher schenkten mir zwei, drei Perlen. In der Tat fand ich die letzte Geschichte im hundertsten Band.
Ein Buch über die Fortsetzung der Geschichte des Landes Sitt Hudud, und seiner Königin Jasmin, das mein Großvater am Ende seines Lebens immer wieder erwähnt hat, fand ich hingegen nirgends. Aus welchen Gründen auch immer, vielleicht ist das Buch bei den vielen Kriegen und Naturkatastrophen wie Tausende andere verlorengegangen. Oder hat mein Großvater geflunkert? Gab es das Land Sitt Hudud wirklich, oder war es das Land seiner Sehnsucht? Leider konnte ich niemanden danach fragen. Meine Eltern hätten mir sicher Antwort geben können. Wenn ich meine Tante danach fragte, rief sie Allah zu Hilfe, um meine Seele vor Großvaters Lügen zu schützen. Ich habe sie nach einer Weile nie wieder gefragt. Unsere Geschichtsbücher erwähnten das Land mit keinem Wort, doch sie verschwiegen auch die Räterepublik der Qarmaten, die über 150 Jahre in Bahrain geherrscht hatte. Dafür haben sie uns von jedem Furz eines Kalifen ausführlich berichtet. Nein, die arabischen Geschichtsbücher sind nicht glaubwürdig.
An einem sommerlichen Nachmittag legte ich eine rote Rose auf Großvaters Grab. Ich weiß nicht warum, aber trotz des Lachens, das ich zu hören glaubte, weinte ich an jenem Tag lange. Was für ein Universalgelehrter dieser Großvater war! Sein Tod ist wie ein Brand, der eine ganze Bibliothek vernichtet.