Gegenwart

Freitag, 24 . Januar, 14 :20 Uhr

D oris Seidel keuchte und verlangsamte ihr Tempo. Seit einem halben Jahr fühlte sich jeder Tag an wie ein immerwährender Herbst, der die Feuchtigkeit in alle Ritzen trieb. Die Sportkleidung war wie vollgesogen, und während sie innerlich kochte, fror sie gleichzeitig. Wieder einmal gab es keine Spur von Schnee, nicht einmal in den Höhenlagen, aber vermutlich kam der dann, wenn es auf Ostern zuging. Verrückte Zeiten. Sie drehte sich um und erhaschte einen Blick auf die Stadt, die in der Nachmittagsdämmerung lag. Keine Spur mehr von Festlichkeit. Das herbeigesehnte neue Jahr war bereits nach wenigen Tagen in denselben Trott verfallen wie das alte. Mit einem Schlag vermisste sie ihren Mann, ihre Tochter und natürlich die Kanarischen Inseln, wo sie noch vor Kurzem mit den Zehen im Sand gemalt hatten. Elisa war nun schon neun Jahre alt. Urlaube waren nur noch in den Schulferien möglich und kosteten seither das Doppelte. Sie waren gerade aus einem solchen Urlaub zurückgekehrt. Peter hatte Sandburgen mit Elisa gebaut, nur um anschließend das Monster zu mimen, das die Prinzessin in ihren Gemächern bedroht. Wie ausgelassen die beiden miteinander gelacht hatten. Wie schnell würde diese kindliche Leichtigkeit vergehen. Schon jetzt erkannte man zuweilen, wie sich in dem Mädchen etwas Frauliches rührte. Wie sich ihre Sprache veränderte, wie sie mit ihren Mitschülerinnen umging. Viel zu schnell musste man sich heutzutage weiterentwickeln. Viel zu früh.

Die Kommissarin nahm wieder Tempo auf. Drei Kilometer. Sie hatte versprochen, nicht erst bei Dunkelheit nach Hause zu kommen. Die Ereignisse, die sich über die Weihnachtsferien in der Stadt abgespielt hatten, saßen noch tief. Dabei war der Täter längst in Haft, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Julia Durant und ihr Team hatten einen harten Kampf ausgefochten und dabei Federn gelassen. Eine Kollegin lag im Koma. Ein anderer Kollege fügte sich nur schwer ins Team ein. Bald würde der Chefsessel neu besetzt werden. Allein diese Gedankengänge ließen die Sehnsucht nach den Kanaren erneut aufflammen.

Seidel bog in einen einsamen Weg ein. Für ihre heutige Runde hatte sie sich das ehemalige Flugplatzgelände zwischen Bonames und Kalbach auserkoren. Bisher hatte der Weg kaum Steigungen gehabt, diese würden auf dem Nachhauseweg auf sie warten. Vorbei an zwei Spielplätzen, der Reitsportanlage, dann unter der Autobahn 661 hindurch und später über die Gleise. Wenige Menschen, lediglich ein paar Halbstarke, die am Spielplatz herumgelungerten. Dann verschwanden die Häuser, und wie auf Knopfdruck befand sie sich in der Natur. Inmitten von Wiesen und Sträuchern das alte Rollfeld, das bei schönem Wetter von unzähligen Menschen bevölkert wurde. Heute herrschte hier Leere. Bis auf einen etwas verborgen gelegenen Bereich, von wo sie Stimmen und herumrollendes Glas vernahm. Seidel näherte sich, es blieb ihr auch nichts anderes übrig. Sie war durch die Bäume gelaufen, wollte vom westlichen Ende der Rollbahn den Trampelpfad in Richtung Nidda-Ufer nehmen.

Sie sah drei Männer. Alkoholisiert, wie ihre Stimmen und Bewegungen verrieten. Jetzt entdeckten die Männer auch sie. Bloß nicht einknicken, mahnte sie sich. So weit kam es noch! Vor vielen Jahren hatte sie den schwarzen Gürtel erlangt. Sie mochte auf den ersten Blick nicht so aussehen, doch hinter der eher zierlichen Frau mit den feinen Gesichtszügen steckte eine durchsetzungsfähige und durchtrainierte Person. Doris Seidel war nicht nur hochintelligent und analytisch, sie wusste sich durchaus auch körperlich zu verteidigen.

Sie beschleunigte das Tempo und taxierte die Gruppe. Nur zwei von ihnen schienen sich für sie zu interessieren und glotzten sie mit glasigen Augen an. Muskulöse Kerle Anfang zwanzig mit Undercut. Das verbleibende Haar militärisch kurz. Zwei Hänflinge und ein Fleischiger, allesamt in Trainingshosen und den dazugehörigen Flatterjacken. Wodka, Bier und Energydrinks. Während sie ihren Weg durch das Spalier nahm und bereute, nicht doch einfach umgekehrt zu sein, als es noch möglich war, meinte Doris schon zu spüren, wie sie nach ihr grapschten.

Stattdessen hörte sie nur ein lüsternes Grunzen, den Playboy-Pfiff und ein paar Worte, deren Sprache sie zwar nicht verstand, aber deren Tonfall eindeutig war. Es roch nach Haschisch. Dann befand sie sich auch schon auf dem schmalen Pfad und hatte den Testosteron-Club hinter sich gelassen. Erst nachdem sie das Ufer erreicht und sich für den Weg nach links in Richtung Brücke entschieden hatte, fühlte sie sich ein wenig sicherer. Doch die Kommissarin brauchte weitere zweihundert Meter, bis sie schließlich stehen blieb. Sie hielt sich am Geländer fest. Dehnte sich. Der Atem ging schwer, und sie spürte, wie ihr Herz bis in die Kehle hämmerte. Für eine Sekunde dachte sie, ob sie die Kollegen verständigen sollte. Möglicher Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz? Doch wer nahm das in diesen Zeiten denn noch ernst? Sollte sie nicht lieber dankbar sein, dass nichts Schlimmes passiert war?

Schritte näherten sich.

»Verzeihung.« Die braunhaarige Frau mit dem Pferdeschwanz wippte auf der Stelle und deutete in Richtung Brücke. Sie war vielleicht halb so alt wie Doris und sah so aus, als könne sie einen Halbmarathon absolvieren und danach fitter aussehen als sie selbst nach dreieinhalb Kilometern. »Darf ich mal durch?«

Automatisch wie eine Supermarkttür schob Doris sich zur Seite und blickte ihr nach. Die Brünette nahm denselben Weg, den sie hergekommen war, und war schon hinter der ersten Uferbiegung verschwunden. Doris setzte sich ebenfalls in Bewegung, direkt in Richtung des anderen Endes der Rollbahn. Man sollte das Schicksal nicht zweimal herausfordern, dachte sie und ertappte sich noch mehrere Male dabei, wie sie das Kinn über ihre linke Schulter drehte. Doch die junge Frau war nicht mehr zu sehen. Vermutlich lief sie am Ufer entlang bis nach Heddernheim. Auch eine Strecke, auf der sie gerne joggte. Abseits des Nidda-Radwegs, auf dem man im Sommer nur selten ungestört war.

Als sie nach Hause kam, setzte schon fast die Dämmerung ein. Der Zähler auf der Smartwatch zeigte acht Kilometer, und sie gönnte sich eine lange, warme Dusche.

Von dem Angstmoment, den sie durchlebt hatte, erzählte die Kommissarin niemandem.