J ulia Durant wog das Mobilteil in der Hand. Es war warm, sie hatte bis vor einigen Minuten damit ein nicht enden wollendes Telefonat mit einer Anwaltskanzlei in Norddeutschland geführt. Immer wieder waren ihre Gedanken dabei in Richtung Côte d’Azur entglitten. Zu ihrer Freundin Susanne Tomlin, bei der sie immer ein offenes Ohr und eine Schulter zum Anlehnen fand. Leider musste sie dafür tausend Kilometer reisen, aber dieser Umstand war schon seit vielen Jahren so und würde sich auch nicht ändern. Die beiden Frauen hatten sich damit arrangiert, und ihrer Freundschaft tat dies keinen Abbruch.
Die Kommissarin lehnte an der Arbeitsplatte ihrer Küche. Das Display war längst auf Standby gegangen. Im selben Modus fühlte sie sich selbst. Auf Stand-by. Im Wartemodus. Hab Acht, wie es in der Militärsprache hieß. Nur, dass Julia Durant sich nicht aufgekratzt und wachsam fühlte wie ein junger Soldat, der sich in Alarmbereitschaft befand. Stattdessen fühlte sie sich eher wie ein ausgespuckter Kaugummi. Schlaff, zäh und ausgelutscht. Kein angenehmer Gedanke, aber das traf es wohl am besten.
Julia fuhr sich durch das frisch getönte Haar. Knapp schulterlang und kastanienbraun. Sie hatte den Tod ihrer Freundin Alina Cornelius noch immer nicht verarbeitet. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie noch nicht einmal dazu bereit war, diesen Verlust zu akzeptieren! Alina und Susanne waren ihre beiden engsten Freundinnen. Nur dass Alina nicht eine Tagesreise entfernt gelebt hatte, sondern direkt hier in Frankfurt. Jederzeit greifbar. Immer nah. Vor einem halben Jahr war sie ermordet worden. Der Hass des Täters aber hatte ihr , Kommissarin Durant, gegolten. War es das, was die Sache unerträglich machte? Der Gedanke, dass Alinas Tod damit auch ihre Schuld war? Ob direkt oder indirekt – was spielte das schon für eine Rolle? Jetzt blieb nur noch Susanne in ihrem Mittelmeerparadies, das sich an einem Tag wie diesem unendlich weit entfernt anfühlte.
Das Gespräch mit dem Anwalt hatte sich um Alinas Nachlass gedreht. Die Wohnung, den persönlichen Besitz. All das musste abgewickelt werden. Und hier kam Julia Durant ins Spiel, denn offenbar war sie der einzige Mensch auf Erden, dem Alina nahegestanden hatte. Für das Erbrecht war das nicht relevant, aber Julia wollte nicht, dass das Hab und Gut von Fremden verramscht wurde. Außerdem hatte sie die Wohnung in der Nähe des Polizeipräsidiums kurzerhand einer schwangeren Alleinerziehenden überlassen, um sie aus der Schusslinie einer laufenden Ermittlung zu nehmen. Für den Umstand, dass es vorübergehend keinen Mann gab, war ebenfalls die Mordkommission verantwortlich. Die Kommissarin wusste natürlich, dass sie sich weder die Schuld noch die Verantwortung für alles Leid dieser Welt aufbürden konnte. Aber sie konnte wenigstens versuchen zu helfen, wo es ihr möglich war.
Es gab noch weitere Baustellen in ihrem Leben. Viel zu viele. Am liebsten hätte sie sich für ein, zwei Jahre an der französischen Riviera vergraben, aber das war nicht ihre Art. Eine Julia Durant lief nicht davon, eine Julia Durant gab nicht auf.
In diesem Moment vernahm sie Schritte an der Haustür, dazu eine Kinderstimme, gleichzeitig meldete sich ihr Diensthandy. Anstatt durchs Wohnzimmer in Richtung Eingang zu laufen, blieb sie an der Arbeitsplatte stehen und nahm das Gespräch entgegen. Die Handynummer des Anrufers war ihr unbekannt.
»Durant hier, hallo?«
»Ralph Angersbach, Mordkommission Gießen. Haben Sie kurz Zeit für mich? Es geht um einen Fall. Einen Cold Case, um genau zu sein.«
Angersbach. Sie erinnerte sich. Sabine Kaufmanns Kollege. Ein ziemlicher Stoffel, wie Sabine mal erzählt hatte. Allerdings klang er ganz sympathisch. Und hatte Sabine nicht erwähnt, dass es zwischen den beiden geknistert hatte? Oder war das nur ein flüchtiger Funke gewesen? Julia lenkte ihre Gedanken zurück. Von einer alten Ermittlung, die auch Frankfurt betraf, hatte sie nichts mitbekommen.
»Ja, natürlich. Haben Sie Details? Ich war bis vor Kurzem im Urlaub, deshalb frage ich.«
Die umliegenden Präsidien hatten erst unlängst zusammengearbeitet, da war es um sexuelle Übergriffe an Frauen gegangen. Außerdem war der Fall weitgehend gelöst, auch wenn am Ende ja immer Fragen offenblieben. Wenn sich nun weitere Fälle ergaben, die ins Tatschema passten, musste die Staatsanwaltschaft das wissen.
Angersbach unterbrach ihre Gedanken. »Nein, ich glaube nicht. Es geht um eine Tote, die letzte Woche aufgefunden wurde. In einem aufgegebenen Steinbruch bei Rosbach vor der Höhe. Wetteraukreis.«
»Kenne ich«, brummte Durant, ohne ihren Kollegen unterbrechen zu wollen. »Also ich meine, ich kenne Rosbach. Nicht den Steinbruch.«
»Wunderbar. Das Opfer weist Schädelfrakturen auf, die auf eine Gewalttat hindeuten. Wir können im Grunde ausschließen, dass es sich um eine reine Sturzverletzung handelt. Das Gelände dort ist heimtückisch, sagt man. Es liegt mindestens seit den Neunzigern brach, so genau konnte mir das noch niemand sagen. Und mindestens genauso lange ist es ein beliebter Treffpunkt für die jungen Leute aus der Umgebung. Rauchen, Trinken, was man da eben so treibt.«
»Bis jetzt war das alles noch kein Grund, weshalb es keine Sturzverletzung sein soll«, hakte Durant nach.
»Wie? Ach so. Es gibt zwei Aussichtspunkte, von denen es ziemlich steil hinuntergeht. Und auch ringsherum bieten sich da natürlich Möglichkeiten. Aber unser Rechtsmediziner ist sich sicher, dass es bei einem – gewaltsamen oder versehentlichen – Absturz weitaus mehr Knochenbrüche geben müsste. Hackebeil … « Angersbach stockte und räusperte sich. »Entschuldigung. Professor Hack hat sich intensiv mit den skelettierten Überresten befasst. Die Verletzung am Hinterkopf sowie das gebrochene Zungenbein lassen leider nur einen Schluss zu: Sie wurde geschlagen und gewürgt, und anschließend hat man sie verschwinden lassen.«
Durant dachte nach. »Sie sagten skelettiert und haben von einem Cold Case gesprochen. Von welchem Zeitraum reden wir da?«
»Dem Verwesungsgrad nach müssen wir von mindestens zwanzig Jahren ausgehen. Fingerabdrücke oder Haarproben sind aus demselben Grund leider keine Option mehr, aber Hack ist es gelungen, eine DNA -Probe zu erstellen.«
Durant rechnete nach. Zwanzig Jahre plus x. Wie groß sollten die Chancen da schon sein? Damals war man noch lange nicht so weit wie heute gewesen, geschweige denn hatte es eine Datenbank gegeben, bei der man sich darauf verlassen konnte, dass wirklich alle erfassten Proben abrufbar waren. So etwas gab es nur im Fernsehen.
Doch Angersbach war noch nicht fertig. Irgendeinen Ansatzpunkt für das K11 in Frankfurt musste er ja schließlich haben, sonst hätte er nicht angerufen. Machte er es gerne spannend? Das konnte sie nur bedingt leiden. Stoffelig allerdings fand sie ihn noch immer nicht.
»Kurz gesagt«, schloss er, »konnten wir die Probe tatsächlich einer alten Vermisstenanzeige zuordnen. Haben Sie einen Computer in der Nähe?«
»Jein. Moment.«
Durant hatte die Welt um sich herum vollkommen ausgeblendet, sie zuckte leicht, als sie aus der Küchentür trat und zwei Personen im Wohnzimmer standen.
»Es ist dienstlich«, flüsterte sie. Claus nickte und sagte etwas zu dem Kind an seiner Hand. Ein Bild, an das sie sich erst noch gewöhnen musste. Aber das gehörte jetzt nicht hierher. Die Kommissarin griff den Laptop, der die meiste Zeit auf dem Couchtisch lag, und kehrte in die Küche zurück. Dabei warf sie Claus einen Handkuss zu. Sie schaltete den Computer ein und beobachtete, wie der Startbildschirm sich regte.
»So gut wie bereit«, ließ sie ihren Kollegen aus dem nördlichen Nachbarkreis wissen.
»Fein. Wenn Sie so weit sind, rufen Sie mal die Vermisstenmeldungen auf.«
»Wie weit muss ich zurückgehen? Bis ins Jahr 2000 ?«
»1992 «, antwortete Angersbach, und Durant blies die Backen auf.
»Wow. Da war ich ja noch überhaupt nicht …«
Ihr Gesprächspartner unterbrach sie. »Ging mir auch so. Vermutlich den meisten von uns.«
Durant loggte sich ein und rief die entsprechende Benutzeroberfläche auf. »Ich wäre dann so weit.«
Ralph Angersbach nannte den Namen des Mädchens und das Datum ihres Verschwindens.
»Die Eltern haben den Kollegen damals persönliche Gegenstände zur Verfügung gestellt. Zunächst wegen der Fingerabdrücke, aber es gab auch eine ausgedehnte Suche von einer Staffel mit Spürhunden. Dort, wo sie verschwunden ist, ist eine Menge Wald und Dickicht.« Er seufzte. »Allein wegen dieser Gegenstände von damals haben wir heute überhaupt eine brauchbare DNA -Probe. Ich weiß nicht, ob man sie mit anderen Methoden so zuverlässig identifiziert hätte.« Er seufzte. »Es ist nicht mehr viel von ihr übrig, wie Sie sich vermutlich vorstellen können.«
Durant atmete ebenfalls schwer. »Steinbruch, sagten Sie. Wurde sie dort vergraben?«
»Versenkt. Wasser und Schlamm. Das ganze Areal gleicht einem Baggersee. Die meisten Stellen sind allerdings nicht tief. Laut den Kollegen handelt es sich um einen Bereich, wo selten jemand hinkommt. Verwuchert, sumpfig, das könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Täter ortskundig war.«
»Vermutlich. Wobei, wenn der Steinbruch derart bekannt ist …«
Die Kommissarin versuchte, parallel zu ihrem Gespräch die Fakten zu lesen, die der Bildschirm ihr preisgab. Neben dem Konterfei, das eine Sechzehn- bis Achtzehnjährige mit Schlafzimmerblick, schmaler Nase und einer dunkelblonden Pferdeschwanzfrisur zeigte, gab es ein ganzes Sammelsurium an Informationen. Eine Ermittlung, die in Durant keinerlei Erinnerungen wachrief. Das alles musste sich vor ihrer Zeit in Frankfurt abgespielt haben.
Angersbach räusperte sich. »Wie wollen wir es machen? Schauen Sie sich erst einmal alles an, und dann telefonieren wir noch mal?«
Sie bejahte und rechnete nach. Auch für Angersbach dürfte der Fall Neuland sein. Wie alt war er? Jedenfalls einige Jahre jünger als sie. Die Neunziger fühlten sich an wie eine ferne Erinnerung, auch wenn man nur das Radio einschalten musste, um sie wiederaufleben zu lassen. Die Musik. Die Kleidung. Automodelle der frühen Neunziger würden nach und nach das Oldtimeralter erreichen und avancierten längst zu Kultmodellen – selbst wenn man sich damals noch über sie lustig gemacht hatte. Retro, wohin man schaute. Der verzweifelte Versuch, die fliehende Jugend noch einmal einzufangen?
»Geben Sie mir ein wenig Zeit«, schlug Durant vor. »Ich bin eigentlich erst morgen wieder im Dienst, deshalb stehe ich hier in der Küche. Aber ich fahre sofort ins Präsidium und arbeite mich in die Sache ein.«
Wie immer, wenn ein Mensch gewaltsam zu Tode gekommen war, setzte sich bei ihr eine Gedankenmaschinerie in Gang. In diesem Fall kam hinzu, dass das Ganze eine halbe Ewigkeit her war. Lebten die Eltern noch? Waren sie in Frankfurt geblieben, oder hatten sie irgendwo anders einen Neuanfang versucht? »Wissen Sie schon, ob es Angehörige gibt?«
»Nein. In dem Moment, wo wir den Treffer hatten, der nach Frankfurt führte, habe ich Sie informiert. Eigentlich gehöre ich ja auch nach Gießen, das heißt, meine Anwesenheit in Rosbach ist auch eher zufällig. Kurz gesagt: Ich pfusche Ihnen da mit Sicherheit nicht in die Ermittlung. Bei uns gibt’s genug zu tun.«
Durant zog eine Grimasse, auch wenn niemand sie sehen konnte. »Verstehe. Dann vertagen wir uns mal auf später. Erreiche ich Sie unter dieser Handynummer?«
»Ja.«
Während sie erneut in das Gesicht des Mädchens blickte, fiel ihr etwas ein. »Eins noch. Sie haben da vorhin etwas von einem Hackebeil gesagt.«
»Wie?« Angersbach schien ein Kichern zu unterdrücken und geriet für ein paar Sekunden ins Schlingern. »Ach so. Na ja. Unser Rechtsmediziner, Professor Hack, ist ein Unikat. Ziemlich schwarzhumorig und manchmal recht schroff. Der Name Hackebeil trifft es also recht gut, und wenn man sich so was erst angewöhnt hat, dann rutscht es einem auch mal so raus. Verraten Sie mich also nicht, sonst bekomme ich seinen heiligen Zorn zu spüren.«
Julia Durant musste grinsen. Ein solches Original kannte sie ebenfalls. Dr. Andrea Sievers. Leiterin der Rechtsmedizin in Frankfurt. Sie war zwar nicht schroff und Furcht einflößend, doch eine zutiefst respektable Persönlichkeit. Und der pechschwarze Humor war unter Menschen ihrer Branche ohnehin verbreitet.
Nachdem das Gespräch beendet war, rief sie das Foto von Nicole Geßler noch einmal in voller Auflösung auf. Es handelte sich allem Anschein nach um ein Passbild, so wie man sie früher für den Personalausweis oder Führerschein verwendet hatte. Nicoles Augen wirkten müde, aber sie lächelte. Das war in Zeiten biometrischer Aufnahmen längst nicht mehr erlaubt. In ihrem Blick lag etwas Warmes, aber auch eine gewisse Scheu. Wie auf Bildern dieser Sorte üblich, sah das Mädchen in die Kamera. Dadurch blickte sie Julia Durant, die ihr am Bildschirm gegenübersaß, direkt in die Augen.
Sie schluckte. Es war beinahe, als würde Nicole ihr trotz aller Müdigkeit etwas sagen wollen.
Hilf mir.
Der frische Kaffee auf ihrem Tisch dampfte und erfüllte das Büro mit einem angenehmen Duft. Ihr Partner Frank Hellmer war unterwegs, also hatte Durant das gemeinsame Büro im vierten Stock des neuen Polizeipräsidiums an der Adickesallee für sich alleine. Neu … Ihre Gedanken entglitten in die Vergangenheit. Der Umzug aus dem Präsidium in der Friedrich-Ebert-Anlage war schon so viele Jahre her, und trotzdem würde der quadratische Bau auf dem alten PX -Gelände unter den dienstälteren Kollegen wohl stets das neue Präsidium bleiben. Dabei gab es kaum einen Grund, die ehemalige Dienststelle zu vermissen. Schlechte Substanz, ungünstige Raumaufteilung und ein enger Fahrstuhl, der einen jedes Mal ein Stoßgebet sprechen ließ, wenn die Türen sich schlossen. Das Gelände in der Nähe von Hauptbahnhof und Festhalle stand bis zum heutigen Tage leer. Denkmalschutz und die Statik des Untergrunds mussten für jeden Investor die Hölle sein. Aber irgendwann würde sich schon jemand finden, der einen weiteren Komplex mit Luxusappartements baute.
Genau das, was Frankfurt braucht, dachte sie bitter und nippte an ihrem Kaffee. Ihr Blick wanderte durch den Raum und verfing sich an einem herausgetrennten Kalenderblatt, welches die Frankfurter Hochhäuser vor einem verblichen blauen Sommerhimmel zeigte. Irgendwann hatte sie dieses Motiv einmal schön gefunden, dachte sie. Mittlerweile gab es einige neue Bauten und Baustellen. Nichts blieb, wie es einmal gewesen war. Im Grunde war das Foto reif für den Papierkorb.
Sie vernahm Schritte, aber niemand trat ein, sie eilten an ihrem Büro vorbei in Richtung Hochgräbes Dienstzimmer. Wieder drohten ihre Gedanken abzudriften. Es gab einfach zu viele Baustellen in ihrem Leben, doch sie waren alle miteinander verwoben wie ein gordischer Knoten. Claus Hochgräbe war das beste Beispiel dafür. Seines Zeichens ihr zukünftiger Ehemann, der scheidende Kommissariatsleiter und außerdem frischgebackener Großvater eines bereits vierjährigen Jungen. Doch das alles durfte im Augenblick keine Rolle spielen, weder die Hochzeitspläne für Mai noch die Nachfolgefrage auf dem Chefsessel. Und auch der Rest nicht. Denn da draußen gab es eine Tote, die vor fast dreißig Jahren zumindest bei der Polizei in Vergessenheit geraten war und der sie ein stilles Versprechen gegeben hatte.
Ich helfe dir.
Sie stand auf und wollte instinktiv in Claus’ Büro gehen. Doch dieser hatte frei. Er wollte sich den angesammelten Resturlaub nicht bis zum Schluss aufheben. Plötzlich, nach all den Jahren, in denen er kaum Hobbys gepflegt hatte und eigentlich immer im Dienst gewesen war, gab es Wichtigeres für ihn. Julia unterband es, sich tiefer in diesen Gedanken zu verlieren, und wählte seine Handynummer.
»Hey, Schatz.« Im Hintergrund waren Kinderstimmen zu hören.
»Hi. Seid ihr auf dem Spielplatz?«
»M-hm. Wenn es schon mal nicht regnet …«
Julia hatte ihren Verlobten nur flüchtig informiert, bevor sie ins Präsidium aufgebrochen war. Nun berichtete sie im Telegrammstil, was sie über den alten Fall wusste.
»Nicole Geßler, Jahrgang fünfundsiebzig. Vermisst gemeldet am 30 . Mai 1992 nach einer Party irgendwo im Hinterland bei Usingen. Also im Taunus. Eine Jagdhütte oder so was. Die Party war tags zuvor. Als sie dann nicht nach Hause kam, machten die Eltern sich Sorgen und verständigten irgendwann die Polizei. Es wurden jede Menge junge Leute befragt, darunter auch ihr Freund. Wobei dieser leugnete, fest mit ihr zusammen zu sein. Das habe ich aber auch alles nur oberflächlich betrachtet, dafür ist es viel zu viel Aktenmaterial. Kurz gesagt: Die Kollegen aus Mittelhessen haben ihre Leiche vor zehn Tagen in einem Steinbruch aufgefunden. Verwest, wie du dir denken kannst. Der Rechtsmedizin ist dennoch ein DNA -Abgleich gelungen, und dieser hat zu einem Treffer geführt.«
»Wahnsinn«, kommentierte Claus. »Wieso wurden ihre Überreste ausgerechnet jetzt entdeckt?«
»Das muss ich den Kollegen Angersbach noch fragen. Wir haben uns verabredet, ich wollte nur zuerst mit dir …«
»Warte.« Claus rief einen Namen. Und dass er gleich käme, nur eine Minute noch. Als ob Vierjährige schon einschätzen konnten, wie lange eine Minute dauerte. »Sorry. Lynel hält mich ganz schön auf Trab. Du willst dich der Sache also annehmen?«
»Ja. Zuerst noch ein Telefonat mit diesem Angersbach. Das ist übrigens der, von dem Sabine schon erzählt hat. Erinnerst du dich?«
»Gerade nicht, aber ich bin auch nicht bei der Sache.«
»Macht nichts. Jedenfalls würde ich gerne mit Nicoles Eltern reden. Das checke ich noch. Die beiden müssten um die siebzig Jahre alt sein. Hoffentlich gibt es die noch. Na ja, und dann dieser Ex-Freund oder was auch immer er für Nicole gewesen ist. Caspar Sonstwas. Der Name sagt mir was, aber nur dunkel. Da steckt eine Menge Arbeit drin, also brauche ich mindestens Frank oder Doris.«
»Oder Uwe«, erwiderte der Kommissariatsleiter, und Durant biss sich auf die Unterlippe. Uwe Liebig war neu im Team und Durants Empfinden nach kein sonderlich angenehmer Zeitgenosse. Bevor sie etwas sagen konnte, meldete sich Claus wieder zu Wort. »Keine Sorge«, sagte er, und das Grinsen war nicht zu überhören. »Such dir jemanden raus. Es steht ja gerade nichts anderes an, und du sollst deinen Boss nicht als Tyrann in Erinnerung behalten.«
Julia Durant musste ebenfalls grinsen, wenn auch nur kurz. Noch immer blickte Nicole sie an, und außerdem war das Thema mit dem neuen Chef noch nicht bis in alle Details geklärt. Mit solchen Störungen kam sie zurzeit überhaupt nicht gut zurecht, auch nicht im Angesicht der brutalsten Verbrechen.
Und zurzeit war Julias Haut sehr dünn.
Roland und Helga Geßler hatten sich Anfang der Siebziger ein Einfamilienhaus in Nieder-Erlenbach gebaut. Hatte die Gemeinde zuvor noch eigenständig im ländlichen Raum vor den Toren der Stadt gelegen, bildete sie seit der Gebietsreform von 1972 den nördlichsten Ortsbezirk der Stadt. Einer Stadt, die immer weiter wuchs. Dennoch war es ein ruhiges Wohnviertel geblieben, und man lockte hauptsächlich junge Eltern an, von denen der Vater zur Arbeit in die Innenstadt pendelte, während die Kinder in der Natur aufwachsen konnten.
Acht Jahre nach Nicoles Verschwinden hatten die Geßlers noch immer hier gelebt. Dann starb die Mutter, und das Haus wurde verkauft. Der Vater war unter einer neuen Adresse gemeldet. In einem Mehrfamilienhaus in Oberursel, etwa aus derselben Bauepoche wie sein Eigenheim. Die Fassade war wenig einladend, und doch wusste Julia Durant, dass es sich hier um eine der begehrtesten Wohngegenden handelte. In unmittelbarer Nähe zu Frankfurt auf der einen Seite, gleichzeitig nahe den weitläufigen Wäldern und Hügeln des Taunus.
Das Telefonat mit Ralph Angersbach hatte kaum Neues ergeben. Der Fund der sterblichen Überreste schien zufällig erfolgt zu sein. Mitglieder der örtlichen Naturschutzgruppe hatten einen Bereich des Sumpfgebiets pflegen wollen, um Brutmöglichkeiten zu erhalten und neue zu schaffen. Solche Eingriffe waren ein sensibler Vorgang, weshalb ihnen Ortsbegehungen und Expertisen vorausgingen. Ein Experte hatte sich bestimmte Bereiche des Steinbruchs genauer betrachtet und war im Zuge dessen sprichwörtlich über die Tote gestolpert. Zuerst die Plastikfolie und dann ein paar Knochen, bei denen er ziemlich schnell auf den Gedanken gekommen war, dass sie von einem Menschen stammen könnten.
Durant hatte nachgerechnet. Auch der Täter war seit damals drei Jahrzehnte gealtert. Er hatte seinen Lebensweg fortgesetzt, einen Beruf oder eine Berufung gefunden. Vielleicht hatte er ja auch so etwas wie ein spätes Gewissen bekommen und setzte sich nun für seine Mitmenschen ein. Oder für den Naturschutz.
»Wie alt ist unser Auffindungszeuge denn?«, fragte sie deshalb.
»Achtundsiebzig«, antwortete Angersbach. »Das hat er mehrfach betont. Aber springt herum wie ein junger Gott. Das ist echt beneidenswert. Wieso ist das Alter wichtig?«
»Ich dachte nur. Manchmal kehren Täter ja doch zum Ort ihrer Verbrechen zurück. Manche erst nach vielen Jahren.« Sie machte eine Pause. »Aber er war ja damals schon fast fünfzig. Tauchte so jemand in den Protokollen auf? Ein Kerl, der sich auf der Party oder in Nicoles Umfeld herumgetrieben hat?«
»Nicht dass ich wüsste.« Angersbach schnaubte. »Um ehrlich zu sein, passt das auch gar nicht ins Bild.«
»War nur ein Gedanke«, sagte Durant.
Die beiden verabschiedeten sich, und Angersbach wünschte ihr viel Erfolg mit den weiteren Ermittlungen. Sie solle ihn gerne kontaktieren bei Fragen, aber auch, wenn es einen Ermittlungserfolg gebe.
Julia Durant versprach es ihm und musste daran denken, was passieren würde, wenn die Presse von alldem Wind bekäme. Cold Cases waren ein gefundenes Fressen. Vermutlich würde sie bald gar nicht mehr dazu kommen, Informationen weiterzuleiten, weil man alles schon vorher als Spekulation in den Sensationsblättern lesen konnte.
Dann hatte sie die Adresse erreicht.
Roland Geßler stand bereits in der offenen Haustür, noch bevor sie das Gittertor in einem hüfthohen Holzlattenzaun geschlossen hatte, der das Grundstück zur Straße hin abgrenzte. Es blieb ihr keine Zeit, jetzt noch nach besseren Worten zu suchen als jenen, die sie sich auf der Fahrt hierher zurechtgelegt hatte.
Geßler überraschte sie mit einem aufgeschlossenen Lächeln und einer altmodischen Höflichkeit. Er führte sie in die Erdgeschosswohnung. Eine gerahmte Luftaufnahme hing an der Wand im Flur. Weiter hinten einige Familienfotos mit leicht verstaubten Rahmen.
Er bot ihr Kaffee und Tee an, sie lehnte dankend ab. Dann kam sie ohne Umschweife zur Sache. Zuerst reagierte Roland Geßler gefasst, dann brach er zusammen. Er entschuldigte sich, eilte hinaus, minutenlang herrschte Stille unter der holzverkleideten Decke. Irgendwann hörte Julia eine Toilettenspülung und den Wasserhahn.
Geßler schlurfte zurück auf den braunen Wohnzimmerteppich.
»So viele Jahre«, murmelte er und sank in einen Ledersessel, auf dessen Armlehne eine Fernbedienung lag. Er hatte geweint. Die Stimme war ein wenig nasal. Julia Durant hatte gehört, wie er sich geschnäuzt hatte. Er fuhr sich mit der faltigen Hand übers Gesicht. Der Handrücken trug zahlreiche Leberflecken in unterschiedlicher Größe. Sie musste unwillkürlich an ihren Vater denken, dessen Hände ähnlich ausgesehen hatten. Pastor Durant war ein Mann Gottes gewesen, sein Glaube hatte ihm auch in den schwierigsten Phasen seines Lebens Kraft gegeben. Wen aber hatte Roland Geßler?
Dieser nahm wieder Platz. »Entschuldigen Sie. Aber um ehrlich zu sein, habe ich es immer gewusst. Jedenfalls die letzten Jahre.«
»Dass Nicole nicht mehr am Leben ist?«
Er nickte langsam. »Helga konnte das nicht. Sie hat sich bis zu ihrem Tod an die Hoffnung geklammert, dass Nicole irgendwo ein Leben führt.« Er ergänzte leise: »Ein glückliches Leben.«
»Und bei Ihnen war das anders?«
Geßler hob die Schultern. »Wie soll das denn auch funktionieren? Sie verschwindet einfach so, schmeißt das Abi und geht irgendwo anders hin? Wohin denn? Mit welchem Geld? Sie hatte weder ihren Reisepass bei sich noch ihren heiß geliebten Discman, geschweige denn Hygieneartikel und Wechselkleidung. Nichts. Auch hinterher fehlte nichts. Die Mär vom weggelaufenen Mädchen wollte uns eine Polizeipsychologin schon damals verkaufen.«
»Also sind Sie von Anfang an von einem Verbrechen ausgegangen?«
»Ja. Und glauben Sie mir, das war schlimm. Aber ich bin Realist, vielleicht liegt das an meinem Beruf.«
Durant meinte, sich an irgendetwas mit Informatik zu erinnern. Das würde Roland Geßler zu einem Vorreiter seines Fachs machen, wenn man sein Alter betrachtete. Sie wollte ihn in diesem Augenblick nicht unterbrechen. Stattdessen lauschte sie seinen Worten, als er weitersprach: »Ich musste mit dem Gedanken leben, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist. Ein schreckliches Verbrechen. Das ist mir nie aus dem Kopf gegangen, und es tut verdammt weh, als Vater einer einzigen Tochter, wenn man sich vorstellt, was ein Monster meinem Mädchen angetan hat.«
Tränen rannen ihm über die Wangen, und die Stimme bebte. Er merkte es womöglich nicht einmal. Seine Finger waren tief in den Cordstoff seiner Hose gegraben, der im Oberschenkelbereich verschlissen war. Offenbar tat er dies öfter. Die Kommissarin beugte sich vor, unsicher, ob sie ihn berühren sollte. Bevor sie ihn erreichte, hob er die Hände.
»Vielleicht sähe sie Ihnen ja ähnlich«, sagte er kratzig. »Bitte entschuldigen Sie.«
Wieder eilte er aus dem Raum. Wieder schnäuzte er sich.
Gehörte er der Generation an, in denen es sich für Männer nicht ziemte, einer Frau gegenüber Gefühle zu zeigen? Oder hatte Roland Geßler sich einfach nur daran gewöhnt, mit seinen Problemen alleine klarzukommen? Wann hatte die Kriminalpolizei ihn zuletzt kontaktiert? Musste er nach so vielen Jahren nicht jegliches Vertrauen in die Behörden verloren haben?
Als er wiederkehrte, hatte er eine Flasche Mineralwasser in der Rechten, in der anderen Hand trug er zwei Gläser. Er stellte alles auf den Couchtisch. Ein achteckiges Modell, durchgehend mit schwarzen Kacheln überzogen, sogar der einzelne dicke Standfuß.
»Nehmen Sie sich bitte, wenn Sie schon sonst nichts wollen. Etwas anderes habe ich leider nicht. Ich vertrage keinen Saft und keine Limonade.«
Er setzte sich, während Durant sich bedankte, aber keine Anstalten machte, eins der Gläser zu greifen.
»Ist das auch der Grund, warum Sie weggezogen sind?«, wollte sie wissen. »Die schlimmen Gedanken? Die Erinnerungen?«
Geßler nickte. »Meine Frau wollte das nicht, aber ich konnte es nicht ertragen. Diese mitleidigen Blicke, das Tuscheln der Nachbarn. Jedes Mal hatte man das Gefühl, dass man nur noch darauf reduziert wird. Ach, die armen Geßlers. Wie schlimm das sein muss. Keiner konnte mehr normal mit uns reden, ständig schwang das mit, und das wurde im Lauf der Monate und Jahre nicht besser. Im Gegenteil. Na ja«, er schluckte, »und dann war da noch Nicoles Zimmer. Wie oft hat Helga da drinnen gesessen und die Wände angestarrt. Den Kuschelhasen umklammert. Ich konnte das nicht mehr ertragen. Es war, als lebe man in einem Mausoleum. Aber immer wenn ich etwas gesagt habe, bekamen wir Streit. Meine Frau beharrte darauf, dass wir das Haus nicht verkaufen dürften. Nicoles Elternhaus. Es war ihr ein Horror, sich vorzustellen, dass Nicole eines Tages nach Hause kommt und uns dann nicht vorfindet.« Leiser ergänzte er, nach einer kurzen Pause: »Ja. Meine Helga. So war sie. Bis zum Schluss.« Er sah Durant fest in die Augen. »Irgendwie tröstet mich der Gedanke, dass Nicole auf sie gewartet hat.«
»Als sie starb?«
Geßler nickte und schüttelte sich. »Genug davon. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber das Ganze hat mich doch ziemlich aufgewühlt. Außerdem muss ich bestimmt eine Menge organisieren. Eine Beerdigung zum Beispiel. Ich würde mich gerne etwas ausruhen. Oder haben Sie noch Fragen?«
»Ich wollte gerne noch über Nicoles Freund reden.«
Finstere Schatten jagten über das Gesicht des Mannes. »Welchen Freund?«
Verdammt! Ausgerechnet jetzt verweigerte Durants Namensgedächtnis seinen Dienst. Sie wollte vermeiden, in ihren Notizen herumzublättern, also nannte sie das, was sie parat hatte. Den eingängigen Vornamen.
»Na, dieser Kasper.«
»Ach. Caspar Bahl.« Geßler winkte ab und klang wütend, als er weitersprach: »Mistkerl! Aber der machte seinem Namen alle Ehre. Ein reicher Kasper, der über dem Gesetz steht. Der hat so viele illegale Sachen getrieben, von den Partys über Drogen und sonst was alles. Passiert ist da nie was. Aber wenn eine Familie reich und angesehen genug ist, dann sieht die Obrigkeit ja gerne mal weg. Nichts gegen Sie persönlich«, er schien sich wieder zu beruhigen, »aber von dieser Familie kam da nicht viel, was hilfreich war. Allerdings sag ich’s noch mal: Caspar war nicht Nicoles Freund. Sie hat ihn zwar angehimmelt, das war aber auch schon alles. Da war sie im Übrigen nicht die Einzige. Bei vielen galt er wohl eher als Sonderling, aber die Mädchen haben irgendwas an ihm gefunden. Das verstehe, wer will. Vielleicht ist es dieses Straßenkötersyndrom. Große Augen, strenger Vater, der alles, was er tut, missbilligt. Ein Rebell, der in seiner weiblichen Umgebung irgendwelche Sympathien auslöst. Wie sehr er das ausgenutzt hat … das weiß ich nicht.«
»Hat Nicole denn über solche Dinge offen mit Ihnen gesprochen? Normalerweise sind Mädchen in diesem Alter …«
»Tagebuch«, unterbrach Geßler sie. »Ihre Kollegen haben hier jeden Fitzel Papier untersucht. Graben Sie mal in den Akten.« Er kniff die Augen zusammen und neigte den Kopf. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
Durant zögerte kurz, weil sich in ihrem Unterbewusstsein etwas regte, das sie aber noch nicht in einen Gedanken fassen konnte. Also nickte sie. »Bitte.«
»Wie lange sind Sie schon bei der Kriminalpolizei? Waren Sie damals …«
Dieses Mal war Durant es, die den Satz abschnitt. »Nein. Ich bin erst später nach Frankfurt gekommen. Tatsächlich muss ich gestehen, dass mir der Fall völlig neu ist. Allerdings gehörte die Sache bis heute zu den Vermisstenfällen. Ich bin bei der Mordkommission.«
Roland Geßler schien ihr nur mit einem Ohr zuzuhören. »Sie sind also gar nicht von hier?«
»München«, antwortete sie knapp.
»Verstehe.«
Sie wusste nicht, was er daran zu verstehen glaubte. Julia Durant hatte ihre Polizeilaufbahn in der bayerischen Landeshauptstadt begonnen. Aufgewachsen war sie in einem Dorf vor der Stadtgrenze. Mit dem Ehebruch ihres ersten Ehemanns kam auch der Bruch mit ihrer Karriere und mit der Heimat. Frankfurt. Sittendezernat. Alle Uhren zurück auf null. Dann der Wechsel zur Mordkommission. Und auch wenn die Sehnsucht manchmal an ihr nagte, bereut hatte sie diesen Schritt nie.
Was auch immer sich zuvor in ihr geregt hatte, war nun wieder von den Schuttbergen ihrer Vergangenheit begraben. »Um noch mal auf diesen Caspar zurückzukommen. Stehen Sie in Kontakt mit der Familie?«
Geßler lachte bitter. »Sie sind wirklich nicht von hier.«
»Wie meinen Sie das?«
»Caspar Bahl ist längst tot. Wenn das nicht in Ihren Akten steht, dann wundere ich mich über gar nichts!«
»Ich sagte ja, ich habe noch nicht alles gelesen. Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen, damit Sie es nicht aus der Presse erfahren.«
Roland Geßler sank in sich zusammen. »Tut mir leid. Das ist alles zu viel für mich. Auch in mir hat es eine Spur von Hoffnung gegeben, das will ich nicht leugnen. Als Eltern hofft man doch immer … mit der Gewissheit um Nicoles Tod ist diese letzte Hoffnung nun ebenfalls gestorben.«
Er unterdrückte seine Tränen, und die Kommissarin entschied, dass sie das Gespräch besser vorerst beenden sollte.
Sie stand auf. »Herr Geßler, ich lasse Sie jetzt in Ruhe. Noch mal mein tiefes Beileid.«
Geßler stemmte sich ebenfalls in die Senkrechte, und sie drückten einander die Hände.
»Danke«, antwortete er kehlig. Seine Knie zitterten, Durant konnte es deutlich sehen.
»Nur eine letzte Frage noch«, sagte sie. »Haben Sie denn jemanden, mit dem Sie das alles durchstehen können? Die kommenden Tage werden sicher vieles hervorholen, und das kann hart werden. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.«
»Danke«, er lächelte matt, »ich habe jemanden.«
An seinem Blick glaubte die Kommissarin zu erkennen, dass er damit eine Frau meinte. Gleichzeitig strahlte ihr ein gewisser Trotz entgegen, vielleicht war das nicht ganz der richtige Begriff, aber es war eine Art Selbstbestätigung, dass man nichts Falsches tat. Helga war lange tot. Der Verlust des einzigen Kindes eine Bürde, wie man sie sich schwerer nicht vorstellen konnte. Aber musste man deshalb ein Leben in Sack und Asche führen? Durfte man nicht lieben, auch wenn es vermutlich niemals der Liebe zu Frau und Tochter gleichwertig wurde?
Sie entschied, dass es ihr nicht zustand, darüber zu urteilen. Und auch niemandem sonst.
Erst als die Kommissarin wieder am Steuer ihres grauen Kombis saß, traf sie die Erkenntnis wie ein Blitz. Und zwar nicht, dass sie dringend wieder ein eigenes Fahrzeug brauchte, weil allein die fleckigen Sitze und der Geruch des Dienstwagens eine Zumutung waren. Doch die Erinnerung an den jungen Caspar Bahl war mit einem Mal so klar, dass sie sich beinahe dafür schämte, nicht früher darauf gekommen zu sein. Ein reicher Kasper aus einem einflussreichen Hause. Das konnte kein Zufall sein. Sie rechnete nach. Es musste um die zwanzig Jahre her sein, dass sie mit der Familie Bahl in Kontakt gewesen war. Im Grunde nur in einer Nebenrolle, denn die Zuständigkeit hatte nicht in Frankfurt gelegen. Caspar Bahls Jaguar war in der Nähe des Mainspitzdreiecks aus dem Wasser geborgen worden. Ein Stück außerhalb Hochheims, so genau kannte sie die Ortsnamen nicht. Im Bereich der Mainmündung. Anscheinend hatte man den Wagen über die Uferpromenade ins Wasser gesteuert. Über die Ermittlungen war der Kommissarin nicht viel bekannt, sie war erst ins Spiel gekommen, als es Monate später zu einer Verhaftung in Frankfurt gekommen war. Irgendein Kumpane Bahls, den Namen hatte sie vergessen. Die Anklage lautete auf Doppelmord. Anhand der Indizien ging man davon aus, dass er nicht nur Caspar Bahl auf dem Gewissen hatte. Im Kofferraum des Jaguars hatte sich außerdem eine Frauenleiche befunden. Mutmaßlich eine Beziehungstat, jedenfalls hatten sich die Dinge im Laufe der Ermittlungen so dargestellt. Jemand hat eine Affäre mit einer liierten Frau, die sich letztendlich für ihren Partner entscheidet. Er tötet zuerst sie, dann den Mann und versenkt die beiden anschließend mit dem Auto im Fluss.
Julia Durant konnte sich noch an den Tag dieser Verhaftung erinnern. Die Polizeibeamten fanden den Tatverdächtigen offenbar nichts ahnend vor. Er hatte zu Hause vor dem Fernseher gesessen, ungewaschen und unrasiert. Seine Kleidung schien er mindestens seit dem Vortag nicht gewechselt zu haben. Die Außentemperatur hatte an diesem Tag schon am Vormittag die Dreißig-Grad-Marke geknackt. Und dann hatte ausgerechnet Durant sich mit diesem Typen in den Fahrstuhl des Präsidiums zwängen müssen. So diffus auch alles rund um den Fall Bahl noch auf sie wirkte, umso deutlicher erinnerte sich ihre Nase an diesen Sommertag. Der Fahrstuhl war zwischen dem zweiten und dritten Stock hängen geblieben. Zwischen feuchtem Mief, verzweifelten, alkoholbeseelten Unschuldsbeteuerungen und einer unterdrückten Portion Platzangst hatte Durant gebetet, dass der Alarmknopf nicht auch noch seinen Dienst versagte. Glücklicherweise befreite ein Techniker sie schnell. Schon damals hatte sie sich geschworen, irgendwann einmal mit dem Rauchen aufzuhören und mehr Sport zu treiben. Doch solche Vorsätze waren meist nur von kurzer Lebensdauer.
Es war keine richtige Dienstbesprechung, mehr eine Zufallsbegegnung. Frank Hellmer, Julias ältester und langjähriger Partner, saß zu ihrer Linken, und beiden gegenüber stand der Chefsessel von Claus Hochgräbe. Durant hatte die beiden nach ihrer Rückkehr ins Präsidium angetroffen und sich zuerst gewundert, weshalb Claus überhaupt hier war. Offenbar hatte Lynel sich beim Spielen verletzt und weinend nach seiner Mutter verlangt. Aber das alles war längst in den Hintergrund getreten.
Die Kommissarin brachte die beiden auf den aktuellen Stand in Sachen Leichenfund und Angehörigenbesuch. Danach erwähnte sie den Fall Caspar Bahl. Claus Hochgräbe wusste darüber nichts, denn vor zwanzig Jahren hätte er nicht einmal im Traum geahnt, dass er einmal nach Frankfurt wechseln würde. Dafür war Frank Hellmer sofort im Bilde. »Ach schau an. Der alte Bahl. Der J.R. Ewing des Rhein-Main-Gebiets.«
»Wieso? Ist er ein Öl-Multi?«
Hellmer schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Wobei … Ölgemälde. Das ist sein Steckenpferd. Einer der bedeutendsten Kunsthändler Europas, glaube ich, mit einer entsprechend ausgestatteten Kunstsammlung.«
»Hmm.« Durant erinnerte sich an das, was Roland Geßler über die Familie gesagt hatte. »Und so wie J.R. in Dallas meint er auch, hier über dem Gesetz zu stehen?«
Hochgräbe räusperte sich. Seine Hand lag auf der Computermaus und erzeugte Klickgeräusche. »Genau genommen schwebte er über den Dingen. Ich habe mal im Netz nach ihm gesucht, der Name hat mir gar nichts gesagt. Bahl ist schon seit einigen Jahren tot. Was hat er mit unserem Cold Case zu schaffen?«
»Sein Sohn, Caspar, war der Schwarm von Nicole Geßler. Die beiden waren am Abend ihres Verschwindens auf derselben Party.«
»Aber Caspar wurde nicht ernsthaft verdächtigt«, stellte Hellmer fest.
Durant hob die Schultern. Sie hatte sich bisher nur oberflächlich mit den Akten beschäftigen können. Tatsächlich tauchte Caspar Bahl recht prominent darin auf, aber am Ende war man zu dem Schluss gekommen, dass er nichts mit Nicoles Verschwinden zu tun gehabt hatte.
»Laut Unterlagen gab es keine Beweise und auch keinen triftigen Grund, ihm etwas zu unterstellen«, antwortete sie gedehnt. »Aber was heißt das schon, wenn da so eine mächtige Familie im Hintergrund steht?«
Hellmer wippte mit dem Kopf. »Der alte Bahl hat damals sogar eine Art Finderlohn ausgelobt.«
»Na und? Das macht den Sohn nicht weniger verdächtig. Könnte ein Ablenkungsmanöver sein.«
Hochgräbe meldete sich zu Wort: »Das sind eine Menge Spekulationen, und leider gibt es nicht mehr viele Zeugen. Laut Internet führt Catharina Dorothea Bahl die Familiengeschäfte weiter. Das ist Caspars Schwester. Es existieren stapelweise Vernehmungsprotokolle aus der Partynacht. Da es sich bei Nicole Geßler nun um einen Mordfall handelt, der zudem in unserer Zuständigkeit liegt, schlage ich vor, wir trommeln alle zusammen. Es gibt viel zu tun. Vor allem die Sache mit der Leiche in Bahls Jaguar will mir nicht aus dem Kopf gehen. Ich fordere den Obduktionsbericht an.«
»Sind das nicht zwei Paar Schuhe?«, widersprach Hellmer. »Die Fälle liegen doch Jahre auseinander.«
»Mag sein. Aber immerhin war es jemand aus Bahls direktem Umfeld. Das alles ist entweder verflochten oder hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Je eher wir das rausfinden, desto besser.«
Kaum eine halbe Stunde war vergangen, seit Hellmers Range Rover über die A66 gejagt war und auf der Strecke zuerst das Main-Taunus-Zentrum und kurz darauf Okriftel passiert hatte. Von Dienstwagen hielt der Kommissar nichts, der jahrelang fast ausschließlich mit seinem 911 er unterwegs gewesen war. Bis er ihn kurz nach Silvester bei einem Fahrzeugaufbereiter gehabt und anschließend abgemeldet hatte, um ihn zu verkaufen. Diesen Gedanken hatte er geraume Zeit mit sich herumgetragen, und wenigstens einen Vorsatz konnte man sich im neuen Jahr erfüllen. Das Interesse an dem Wagen war groß gewesen, nach dem Aussortieren von Besserwissern und zwielichtigen Typen allerdings nicht viel übrig geblieben. Irgendwann würde es klappen. Bis dahin ruhte der Flitzer in seiner Garage unter einem Schutzvlies, und Hellmer fuhr den schwarzen Riesen seiner Frau Nadine. Sein Traum war ja ein neuer Alter, wie er es ausdrückte. Ein 911 er SC Targa aus den Achtzigerjahren. Allein die Preise, die man für ein gut erhaltenes Fahrzeug hinblättern musste, ließen ihn noch zögern, auch wenn er seit seiner Heirat mit Nadine keine Geldprobleme mehr hatte. Auf dem Präsidium musste er sich zwar hin und wieder anhören, dass er sich von seiner Frau aushalten ließe, aber alle wussten, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Frank Hellmer war in seinem Leben durch mehr als eine Hölle gegangen, und er kniete sich im Job mit voller Hingabe hinein – mehr als manch anderer.
Julia Durant hatte sich darauf verlassen, dass er den Weg kannte. Erst, als sie das Ortsschild von Ginsheim-Gustavsburg passierten, wunderte sie sich. »Müssen wir nicht auf die andere Seite?«
»Lass mich mal machen«, antwortete Hellmer mit einem Lächeln. Unterwegs hatte er seiner Partnerin so ziemlich alles berichtet, was er über Caspar Bahls Tod noch wusste. Der Jaguar hatte nicht lange im Wasser gelegen. Die Stelle war ungünstig gewählt worden. Im Unterleib der Toten hatte man Spermaspuren gefunden, die Bahl zugeordnet werden konnten. Da es sich bei der Frau aber um seine Lebensgefährtin handelte, war das keine große Hilfe. Eine Beziehungstat? Eine Form des erweiterten Suizids? Mann tötet Frau und anschließend sich selbst? Vielleicht aus Eifersucht, weil diese eine Affäre hatte. Doch man hatte zudem ein Handy sichergestellt, auf dem SMS vorzufinden waren, die in eine andere Richtung wiesen. Bahls Nebenbuhler, ein enger Vertrauter namens Dennis Schäfer, hatte ihm offenbar die Freundin ausspannen wollen. Manuela soundso. Irgendetwas musste dabei schiefgegangen sein – vielleicht wollte sie sich dann doch nicht trennen –, und am Ende waren sowohl sie als auch Caspar tot. Dass man nur eine Leiche fand, konnte mit der Strömung des Rheins erklärt werden, die auch in Ufernähe einen gefährlichen Sog ausüben konnte. Jedes Jahr verunglückten hier Menschen, auch ausdauernde Schwimmer waren davor nicht gefeit. Die Fahrertür des Jaguars hatte offen gestanden. Das allerdings deutete weniger auf einen Rettungsversuch des Fahrers hin, sondern sprach dafür, dass ein Dritter den Wagen über die Steine in Richtung Wasser bugsiert hatte.
»Na ja, und dann ging alles seinen Gang«, schloss Hellmer, die Hand am Blinker. »Das Auto war ausschließlich von Bahl bewegt worden. Sein Schlüsselbund hing noch am Wagenschlüssel im Zündschloss. Als er immer länger fortblieb, kam es zur Vermisstenmeldung. Seine Schwester hat ausgesagt, dass er ihr gegenüber von einem heftigen Streit mit Dennis Schäfer erzählt habe. Er habe Todesangst. Vielleicht müsse er für ein paar Tage verschwinden. Na ja, und dann fand man den Wagen, die tote Freundin, dazu kamen die ganzen SMS mit einer unmissverständlichen Todesdrohung von Schäfer. Er hat das Ganze praktisch gestanden, nachdem er eine Weile in Untersuchungshaft gesessen hatte. Auf Anraten seines Anwalts, wenn ich mich richtig erinnere. Caspar Bahl wurde daraufhin für tot erklärt. Ende der Geschichte.«
Sie fuhren durch ein Wohngebiet mit kubischen Mehrfamilienhäusern. Passierten ein etwas zurückgesetztes Haus mit Vorplatz, auf dem ein blonder Junge waghalsige Stunts mit seinem Roller übte. Der gestresst wirkende Vater lief ihm hinterher und fuchtelte mit den Armen. Feuerte er ihn an oder mahnte er ihn zur Vorsicht? Julia musste an Claus und Lynel denken, aber das passte jetzt nicht hierher. Dann endete das Wohngebiet, und der Range Rover polterte über eine Bodenwelle. Links und rechts lagen Felder, Bäume säumten den Weg. Dann wurde der Bewuchs stärker, und wenige Hundert Meter weiter erreichten sie einen einsamen Parkplatz am Ufer. Niemand außer ihnen war hier.
Hellmer ließ den Wagen so weit wie möglich nach vorne rollen und stoppte erst, als Julias Hände sich auf ihren Oberschenkeln verkrampften.
»Steigen wir kurz aus.« Er stoppte den Motor.
Der asphaltierte Weg führte abschüssig in den Rhein, vermutlich, um dort Schiffe ins Wasser zu lassen. Auf der anderen Seite, etwas abseits, war ein Holzgebäude zu erkennen, das auf dem Wasser zu schwimmen schien. Hellmer murmelte etwas von »Schiffsmühle«. Sie schritten den Bereich ab. In der Flussmitte zog ein Lastenkahn vorbei, tief in den braungrauen Wellen liegend, die sein Bug ins Wasser schnitt. Die Witterung war kühl und nass, die Dunkelheit kündigte sich bereits an.
»Das hier wollte ich dir nur mal gezeigt haben«, erklärte Hellmer. »Gibt es hier und vis-à-vis noch mal. Und auch noch an anderen Stellen, aber hier ist man wirklich völlig ungestört, wenn man zur richtigen Tageszeit kommt.«
»Und was genau bedeutet das jetzt?«, wollte Durant wissen.
»Die Fahrrinne beginnt hier in unmittelbarer Nähe«, sprach Hellmer weiter und deutete auf die breite Fahrbahn vor der Motorhaube seines Wagens, die einfach nach unten führte und in den Fluten verschwand. »Wenn ich einen Wagen mit einer Leiche verschwinden lassen will, dann suche ich mir so eine Stelle. Ich würde sogar genau diese hier nehmen.«
»War das dein Plan B, falls keiner den Porsche kaufen will?«, frotzelte die Kommissarin, und Frank zog eine Grimasse.
»Im Ernst. Ein Jaguar mit Leiche. Behalte das im Kopf. Was auch immer sich da im Vorfeld an Drama ereignet haben muss: Wenn ich den Plan fasse, Spuren auf diese Weise zu beseitigen, suche ich mir doch auch eine geeignete Stelle, oder nicht? Und die geeignetste Stelle, um direkt bis ans Wasser durchzufahren, ist nun mal hier und nicht da, wo man den Jaguar gefunden hat!«
Er zog das Smartphone hervor und öffnete die Kartenansicht ihrer aktuellen Position. Mit Daumen und Zeigefinger zoomte und wischte er hin und her, während er fortfuhr: »In der Nähe der Fundstelle gibt es erst mal einen Seitenarm mit allerlei Bootsverkehr. Dazwischen der Industriehafen. Dann die Mainspitze mit der Mündung. Und auf der anderen Seite ein Restaurant, Schwimmbad, Camping und Co. Da ist kilometerweit nichts, wo man sich so ungestört und ungehindert bewegen kann wie hier. Und trotzdem steuerte er den Jaguar ausgerechnet dort über die Uferpromenade ins Wasser und nicht hier. Dahin, wo die Mainströmung den ganzen Schlamm ablagert.« Er tippte sich an die Stirn. »Das kannst du mir doch nicht erzählen!«
Wortlos kletterte er wieder hinters Steuer und wartete, bis auch Julia wieder auf ihrem Sitz saß. Dann sagte er: »Ich musste da immer wieder dran denken, schon damals, und komme heute zum selben Ergebnis: Das Ganze sollte gar nicht vertuscht werden. Man sollte den Jaguar finden – und auch die Leichen.«
»Oder zumindest eine davon«, erwiderte die Kommissarin, während Hellmer den Wagen wendete. »Was ist denn damals aus dem Fall geworden?«
»Dennis Schäfer wurde schuldig gesprochen. Doppelmord. Das Blut, die SMS , ein schwaches Alibi. Dazu seine Vergangenheit. Er war immer wieder in zwielichtige Geschäfte verwickelt. So eine Art Handlanger für Bahl, wenn ich mich recht entsinne. Der Typ für die Schattenbereiche, damit die edle Familie blütenrein bleibt. Man konnte ihm nie etwas anhaben, erst die Liebe hat ihn zu Fall gebracht.«
»Oh, hochdramatisch«, wiederholte Durant und knetete sich die Unterlippe. »Doppelmord. Das heißt, man hat Caspar Bahl für tot erklärt.«
»Relativ schnell sogar. Der Anschnallgurt des Fahrersitzes war nicht angelegt, und die Tür klappte auf, als man den Wagen aus dem Wasser gezogen hat. Entweder hat er das Lenkrad geküsst und wurde bewusstlos, oder er war bereits bewusstlos wegen des Blutverlusts. Na ja, oder er hat sich zu befreien versucht und ist ertrunken.«
Durant raffte all ihr theoretisches Wissen zusammen. Das war nicht gerade wenig, denn erst kürzlich hatte sie sich mit der Thematik befasst. Ihr eigenes Auto hatte sein Ende in einem Baggersee in der Wetterau gefunden, aber damit hatte sie abgeschlossen. Wollte damit abgeschlossen haben.
»Und die Fenster«, fragte sie mehr zu sich selbst, »alle intakt und geschlossen?«
Hellmer bejahte. Sie wusste, dass es in einem Wagen, der mit geschlossenen Fenstern unter Wasser geriet, praktisch unmöglich war, die Türen aufzudrücken. Erst wenn sich das Wageninnere durch die Lüftungskanäle und andere Durchlässe komplett mit Wasser gefüllt hatte, war der Druck so weit ausgeglichen, dass man die Tür nach außen öffnen konnte. Das Problem war nur, dass man dann längst ertrunken war.
Ihr Blick streifte Hellmers Dachhimmel. Auch ein Schiebedach würde sich zur Todesfalle entwickeln, denn das hineinschießende Wasser würde jeden Fluchtversuch vereiteln. Bis der Wagen voll war. Selbes Dilemma.
»Wenn die Fahrertür offen war«, sagte sie, »gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder Bahl hat sich tatsächlich aus dem Wagen gekämpft, nachdem der Druck ausgeglichen war. Da hat ihm dann aber schon so lange der Sauerstoff gefehlt, dass die Überlebenschancen gleich null sind. Oder aber eine dritte Person hat den Wagen ins Wasser gelenkt und es nicht mehr geschafft, die Tür zu schließen.«
»Was ich plausibel finde«, erwiderte Hellmer. »Genauso wurde es übrigens damals von der Forensik dargestellt. Bahl war wehrlos, vermutlich außer Gefecht gesetzt, und Dennis Schäfer hat es so aussehen lassen wollen, als habe dieser den Jaguar selbst in den Rhein gefahren. Ein Beziehungsdrama. Wäre Bahl nicht aus dem Wagen gespült worden, hätte man ihn ertrunken hinterm Steuer sitzend gefunden.«
Durant hatte noch Zweifel. »Warum hat er ihn dann nicht angeschnallt?«
»Keine Ahnung. Aber wir wissen doch beide, dass in solchen Situationen meist die banalen Dinge schiefgehen.« Hellmer schenkte ihr ein vielsagendes Grinsen. »Einer der Gründe für unsere durchschlagende Erfolgsquote.«
Sie kicherte kurz, dann rechnete sie nach. »Sitzt dieser Schäfer noch?«
Hellmer verneinte. »Da war mal was in der Presse. Ich krieg’s aber nicht mehr zusammen.«
Sie hatten die Schiffsmühle hinter sich gelassen und fuhren auf der Autobahn in Richtung Frankfurt.
Julias Gehirnmühlen arbeiteten auf Hochtouren.
Auf dem Rückweg ins Präsidium spürte Frank Hellmer, dass es seine Partnerin und enge Freundin Julia nicht allzu eilig hatte, zurück nach Frankfurt zu kommen.
»Na, gib’s zu, du vermisst Frankreich schon«, sagte er. Ein wenig kryptisch vielleicht, aber sie würde ihn schon verstehen.
Als Julia ihn fragend ansah, stöhnte er auf. »Na ja. Bei euch herrscht doch sicherlich eine Menge Trubel, seit Lynel da ist.«
Sie seufzte schwer. »Und das ist noch untertrieben.«
»Lust auf einen kleinen Umweg? Croissants und Café au lait?« Er nickte in Richtung der Einkaufspassage, die soeben ins Blickfeld kam.
Zehn Minuten später saßen sie an einem ruhigen Tisch und gönnten sich tatsächlich Croissants. Und zwar welche, die authentisch schmeckten. So wie im Urlaub.
»Es ist ja nicht so, dass ich den Kleinen nicht mag«, erklärte Julia. »Aber ich fühle mich nun mal wie das fünfte Rad am Wagen! Was ist er für mich? Kein Sohn, kein Enkel. Mensch, Frank, ich weiß doch überhaupt nicht, wie ich eine Beziehung zu ihm aufbauen soll!« Sie schluckte, und ihre Stimme bebte, als sie ergänzte: »Vielleicht könnte ich das anders empfinden, wenn ich eigene Kinder bekommen hätte.«
»Ich verstehe das sehr gut«, sagte Frank und legte die Hand auf ihre.
»Sorry, aber das glaube ich eher nicht.«
Frank schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Stell dir mal vor, wie es für einen Vater ist. Egal, wie sehr er seine Kinder liebt: Sie werden ihrer Mutter immer näher sein. Uns Männern fehlt dieses Band, diese Bindung, und wir müssen schon während der Schwangerschaft darum kämpfen, dass wir dazugehören. Wir können sie nicht gebären und auch nicht stillen. Nicht falsch verstehen – da reiß ich mich auch gar nicht drum. Aber wir können eines tun: Wir können da sein und müssen uns das Vertrauen und die Liebe der Kinder erarbeiten. Und dem Kind ist es dabei noch völlig egal, ob wir nun der leibliche Erzeuger sind oder jemand anderes.«
Wieder entstand eine kurze Stille.
»Du meinst also, ich sollte das von väterlicher Seite aus angehen?« Julia verzog das Gesicht.
»Was ich meine, ist, dass du einfach nur da sein musst. Mit dem Herzen, nicht mit dem Kopf. Lynel ist ein Kind. Er braucht Nähe und Liebe, und die sucht er bei den Menschen, die ihm nahe sind. Egal, ob ihr blutsverwandt seid oder nicht. Sieh es doch so: Du kannst jetzt all die schönen Dinge auskosten, ohne dich mit alltäglicher Erziehung rumzuärgern. Es ist einer der tollsten Posten, einfach die coole Oma zu sein. Bei uns …«
»Untersteh dich, mich noch mal als Oma zu bezeichnen!«
Er lachte und leerte seinen Kaffee. »Dann eben die coole Tante. Mir doch egal.« Seine Gedanken verfinsterten sich, als er an seine Kinder aus erster Ehe denken musste. Mit der Trennung war auch der Kontakt zu ihnen gestorben. Sie waren längst erwachsen. Verheiratet. Manchmal suchte er im Internet nach ihnen, aber meistens hörte er schon damit auf, bevor er etwas fand. »Ich würde jedenfalls den kleinen Finger dafür geben, wenn die Dinge damals anders gelaufen wären«, gestand er. »Wenn ich einen Enkel hätte, den ich aufwachsen sehen dürfte.« Er zwinkerte und setzte ein Lächeln auf. »Aber Steffi darf sich damit ruhig noch ein bisschen Zeit lassen.«
Stephanie Hellmer war knapp zwanzig, hatte seit vergangenem Jahr das Abitur in der Tasche und machte derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr. Sie wusste noch nicht genau, welchen beruflichen Werdegang sie einschlagen sollte. Sie hatte sich in Wiesbaden für Erziehungswissenschaft eingeschrieben und parallel dazu an der Universität Frankfurt für Germanistik. Steffi war eine von zwei Töchtern, die Frank mit seiner großen Liebe Nadine hatte, und die einzige, bei der man ohne Vorbehalte über das Thema Heiraten und Nachwuchs nachdachte. Ihre Schwester Marie Therese war schwerbehindert und lebte in einer anthroposophischen Einrichtung. Operationen und Therapien ermöglichten ihr so viel Normalität, wie es sich in ihrem Zustand umsetzen ließ. Doch wie viele Dinge würde dieses Mädchen nie erleben?
Er verscheuchte seine Gedanken und prüfte die Miene seiner Freundin. »Du sagst ja gar nichts mehr«, bohrte er schließlich nach.
»Was soll ich denn sagen? Du hast ja irgendwie recht. Glaube ich. Aber so leicht ist das nicht. Clara und Lynel sind liebenswerte Menschen, doch alleine Claras Krebsdiagnose schwebt wie ein Damoklesschwert über uns allen. Was ist, wenn sie wochenlang in der Klinik ist? Wie ist das für den Jungen? Und was ist mit so banalen Dingen wie Kindergarten? Freunde? Von der Sache mit der Wohnung mal ganz zu schweigen!« Sie stöhnte und hob die Hände. »Und vor allem, wie soll das mit Claus’ neuem Job werden? Im März wechselt er an die Hochschule, dann beginnt das neue Semester.«
Hellmer sagte erst einmal gar nichts. Das war viel. Viel mehr, als er geahnt hatte, auch wenn die Punkte im Grunde auf der Hand lagen. Momentan teilten sich Clara und Lynel eine Wohnung mit Tiana Ganev und ihrem Sohn. Beiden Kindern tat dieser Kontakt gut, auch wenn es sich nur um eine Notlösung handelte. Tianas Zukunft hing in der Luft, ihrem Mann sollte der Prozess gemacht werden, weil er ein hochrangiges Bandenmitglied getötet hatte. Mord? Totschlag? Notwehr? Das alles war zweitrangig, denn man hatte ihm noch in der U-Haft aufgelauert und ihn beinahe getötet. Sein Leben hing am seidenen Faden, und ob er eine langwierige Verhandlung und die anschließende Haftzeit überleben würde, war fraglich. Solange die Dinge im Unklaren waren, hatte Julia sich der leer stehenden Wohnung von Alina Cornelius bedient. Auch das war ein Thema für sie, wusste Frank Hellmer. Er betrachtete seine Freundin, deren Augen nervös zuckten. Er wollte ihr so gerne helfen, aber er wusste nicht, wie.
Doch dann sagte sie etwas, das ihn zum Lachen brachte. »Die haben hier doch sicher auch Baguette. Ich habe Bock auf Salami.« Sie grinste. »Keiner macht so lange Salamibrote wie die Franzosen, das sag ich dir. Und du bekommst dort jedes Bier in der Dose.«
Der Kommissar lächelte und schwieg. Sie hatte offenbar schon beim Sprechen gemerkt, dass sie das mit dem Bier besser nicht gesagt hätte. Frank war Alkoholiker, wenn auch schon lange trocken. Sie hatte ihm das Leben gerettet, indem sie ihn aus seiner Todesspirale geholt hatte. Da gewesen und da geblieben war. Eine unbedachte Bemerkung änderte nichts daran. Viel wichtiger war, dass Julia selbst nicht abrutschte, dass ihr die Dinge nicht entglitten, so wie ihm damals. Dass sie noch lachen und Scherze machen konnte, zeigte ihm, sie hatte nicht aufgegeben. Nicht Julia Durant.
Und er würde für sie da sein. Da bleiben.
Claus Hochgräbe saß noch in seinem Büro, als die Kommissarin ins Präsidium zurückkehrte. Seine Stirn lag in Falten, aber bei Julias Eintreten hob er den Blick vom Computerbildschirm und lächelte. »Da bist du ja wieder.« Er stand auf, sie küssten sich, dann deutete er auf den Schreibtisch. »Ist eine Menge liegen geblieben.«
»Du hast ja im Moment auch Wichtigeres zu tun«, antwortete sie diplomatisch.
»Wie auch immer. Was habt ihr beide denn rausgefunden?«
Durant berichtete über den Jaguar und die Frauenleiche. »Da gibt es so manches, was mich stört«, beendete sie den Bericht. »Zum Beispiel die Stelle, wo das Auto versenkt wurde. Es war, als habe man es auffinden sollen. Frank hat mir in unmittelbarer Nähe eine andere Stelle gezeigt, wo man so etwas für alle Ewigkeiten loswerden könnte. Tief, dunkel und finster. Da unten im Rhein liegen sogar noch Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg.«
»Nicht jeder Täter verfügt über eine entsprechende Ortskenntnis«, wandte Hochgräbe ein. »Gab es nicht eine Verurteilung? Hat man das nicht alles beantwortet?«
»Mag sein. Aber dann gibt es diese Tote im Kofferraum. Schädelfrakturen am Hinterkopf und Würgemale. Das sind dieselben Verletzungen, mit denen ich heute schon einmal zu tun hatte.«
Der Kommissariatsleiter kniff die Augen zusammen. »Du redest von Nicole Geßler.«
»Stimmt.« Ihr Blick wurde düster, denn diese Art von Verletzungen hatte sie schon so häufig gesehen, dass sie längst aufgehört hatte zu zählen. Wann immer ein Mann die Kontrolle über seine Triebe verlor, wann immer jemand ein Nein nicht akzeptieren wollte, entstanden solche Wunden. Nicht nur am Hals, auch auf der Seele. Narben, die nur schwer wieder verheilten. Manchmal nie. Sie schnaubte, als könne sie die Düsternis damit vertreiben. »Ich will da jetzt keinen Zusammenhang konstruieren. Aber es wurmt mich einfach, denn beide Fälle haben einen gemeinsamen Nenner.«
»Caspar Bahl«, sagte Hochgräbe mit einem nachdenklichen Nicken.
»Genau.«
»Nur der ist ja leider mitsamt seinem Jaguar im Rhein versunken.«
»Aber seine Familie lebt noch. Frank kennt sich da ein bisschen aus, weil der alte Bahl ein namhafter Kunsthändler war.« Sie musste grinsen. »Schnösel-Kreise eben.«
Hochgräbe lachte. Sie wussten beide, dass sie Hellmer damit unrecht taten. Andererseits war es nicht verkehrt, über Franks Ehefrau Nadine jemanden zu haben, der den Zugang zu gewissen Kreisen erleichterte. Besonders, weil man sich im internationalen Geldadel gerne gegen Außenstehende abschottete.
»Und du möchtest da jetzt gerne ein wenig rumstochern«, konstatierte er.
Durant nickte. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Du hättest den alten Herrn Geßler mal sehen sollen heute. In der Sekunde, als seine Hoffnung ein für alle Mal starb.«
»Was hast du vor?«
»Ich telefoniere noch mal mit diesem Angersbach und mit den Kollegen in Wiesbaden. Die Obduktionsberichte sollen schnellstmöglich zu Andrea Sievers, dann gehen wir das durch. Na ja, und dann suchen wir diese Catharina Dorothea Bahl auf. Die Alleinerbin des Familienvermögens.«
»Was ist mit dem Mörder?«
Julia Durant schnalzte mit der Zunge. »Stimmt. Den haben wir ja auch noch.«