Freitag

Freitag, 21 . Februar, 8 :55 Uhr

D oris Seidel verriegelte per Knopfdruck ihren knallroten Fiat Punto. Von ihrem Mann Peter gerne als Elefantenrollschuh bezeichnet, war der kleine Flitzer für sie ein Stück Freiheit. Kleine Parklücken, enge Fahrspuren – in Frankfurts Nadelöhren kam sie hiermit weitaus besser zurecht als mit dem klobigen Familien-SUV . Dazu kam der Umweltaspekt. Über solche Dinge konnte man entweder endlos streiten oder einfach das tun, was man für richtig hielt.

Die Kommissarin betrat das Präsidium und schritt den breiten Gang entlang, der keine Fenster, aber dafür umso mehr Türen aufwies. Zielstrebig näherte sie sich einem Zimmer im hinteren Drittel. Da die Tür nur angelehnt war, trat sie ohne Klopfen ein.

Charly Abel hatte sie offenbar erst später erwartet.

Er gehörte zum K13 , das unter anderem für Sexualdelikte zuständig war. Ein Durchschnittstyp, Anfang vierzig, mit dünn werdendem Haar. Das einzig Besondere an ihm waren seine Augen, die trotz der Abgründe, in die er schon hatte blicken müssen, noch immer einen beruhigenden Optimismus ausstrahlten.

»Das ging aber schnell.« Er lächelte.

»Du weißt ja«, sie erwiderte sein Lächeln, »wichtige Dinge erledigt man am besten gleich.«

Ein flüchtiges Erröten huschte über Abels Wangen. Seine Finger gruben sich durch einen Wust an Papieren, bis er ein Foto in der Hand hielt. Doris erkannte, dass es sich um das Standbild einer Videokamera handelte. Abel reichte ihr den Ausdruck, und sie betrachtete zuerst die Szene und danach den Zeitindex.

»Zwei Wochen her. Stimmt die Zeitangabe?«

»M-hm.«

Das Bild war schwarz-weiß und ziemlich verschwommen. Entweder war das Objektiv verschmutzt gewesen, oder die beiden Männer im Bild bewegten sich mit einer hohen Geschwindigkeit.

»Ein Streit, schätze ich. Aber was ist daran so eilig?« Sie war ein wenig enttäuscht. Oder übersah sie etwas Wesentliches?

»Mannomann.« Abel stöhnte auf. »Lebst du hinterm Mond? Das ist die Messerstecherei vom vorletzten Wochenende. Die ging doch durch die Medien.«

Doris Seidel dachte nach. Natürlich! Am helllichten Tag und mitten unter einer ganzen Schar von Zeugen.

»Scheiße. Das da?«

Gewalttaten wie diese kamen leider nicht selten vor, meist spielten sie sich jedoch in den einschlägigen Vierteln ab. Rund um den Bahnhof. Doch dieser Vorfall hatte sich in der Nähe des Mainufers ereignet. Soweit sie sich erinnerte, eine Auseinandersetzung zweier Männer. Südländisch. Doch solche Täterbeschreibungen waren mit Vorsicht zu genießen.

Charly Abel ging an den Computer und bat Doris zu sich. Dann spielte er das Video ab. Es war nun nicht mehr schwarz-weiß, und es hatte auch ein breiteres Format.

»Das ist ein Handyvideo. Wir haben es erst mit Verspätung erhalten.« Er schnaubte. »Bei jedem Unfall gibt es Dutzende Gaffer, aber hier nur dieses eine popelige Video. Es ist ein Zufallstreffer. Ein Tourist wollte vom Museumsufer über die Skyline filmen. Dabei ist ihm das Ganze vor die Linse geraten. Zum Glück hat er sich dazu entschieden, mit der Kamera weiter draufzuhalten. Und jetzt pass mal auf.«

Doris Seidel zog sich einen der gepolsterten Drehstühle heran und ließ sich darauf sinken. Ihre Ellbogen stützten sich auf die Tischplatte, als wolle sie den Oberkörper so ruhig halten wie ein Kameramann seine Kamera. Die ersten Sekunden des Videos zeigten die Hochhäuser auf der nördlichen Mainseite. Die Untermainbrücke war zu erkennen, offensichtlich hatte der Mann mit der Kamera einige Meter unterhalb in unmittelbarer Nähe zum Ufer gestanden. Der Commerzbanktower, weltweites Sinnbild für die Frankfurter Skyline und auch nach über zwei Jahrzehnten mit seinen dreihundert Metern der höchste Wolkenkratzer Europas. Daneben die rot-weiße Spitze des Maintowers. Einige andere folgen, den Abschluss bildeten der Silberturm der Deutschen Bahn und der Westendtower. Die Kamera drehte sich weiter, und ein ganzes Stück abseits, jenseits von Holbeinsteg und Friedensbrücke, tauchte der Westhafentower auf. Im Hintergrund die Männerstimme des Filmenden, der mit einem fremdländischen Akzent so etwas wie »Geripptes« sagte. Zweifellos bezog sich das Wort auf das Aussehen der Glasfassade des zylinderförmigen Gebäudes mit den hiesigen Apfelweingläsern und ihrem rautenförmigen Schliffmuster. Dann waren laute Stimmen zu hören. Das Bild verwackelte.

»Jetzt«, zischte Charly in Doris’ Ohr. Er stand ihr unangenehm nah, sodass sie seinen Atem spüren konnte. Das Bild fing eine Menschentraube ein, die sich binnen Sekunden um zwei kämpfende Männer bildete. Von den Gesichtern war kaum etwas zu erkennen, außer dass es sich um zwei Bärtige handelte. Dunkle Haare. Einer trug so etwas wie einen Matrosenpullover und dazu eine dieser russischen Pelzmützen, bei der man die Ohrenbedeckung herunterklappen konnte. Der andere einen Wintermantel. Plötzlich schien der Mantel-Typ mit einem Messer auf den Mützenmann losgegangen zu sein, das gab die Szene noch nicht her, weil die Kamera zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Gerippten beschäftigt war.

Handgemenge. Die Kamera wackelte, als ob jemand gegen sie gerannt wäre. Dann ein erstickter Schrei. Das Bild wurde wieder scharf. Fellmütze haderte für den Bruchteil einer Sekunde, dann schüttelte er sich und rannte davon. Niemand hielt ihn auf. Statt ihm zu folgen, wie Doris hoffte, zoomte das Bild auf den Mann, der gekrümmt am Boden lag. Jemand bückte sich nach ihm. Dann senkte sich das Objektiv. Füße. Asphalt. Schwärze.

»Mist«, murrte die Kommissarin.

»Schon«, bestätigte Abel. »Andererseits ehrt es ihn, dass er nicht aus purer Sensationsgeilheit weiter auf das Opfer gehalten hat. Na ja … und dass er sich überhaupt bei uns gemeldet hat.«

»Wer ist dieser Zeuge denn?«

»Ein Japaner.«

»Hatte er noch mehr zu sagen? War er mit anderen zusammen?«

»Nein – und nein. Und es kommt noch schlimmer. Er hat sich erst jetzt bei uns gemeldet, weil er schon wieder in seiner Heimat ist. Wir können ihn also nicht einmal richtig befragen.«

Doris Seidel überlegte. »Du sagst also, er filmt ein Verbrechen. Beendet danach seelenruhig seinen – was eigentlich? – Urlaub? – und fliegt nach Hause. Erst dann kommt ihm irgendwann in den Sinn, uns dieses Video zu schicken?«

Charly Abel stieß ein bissiges Lachen aus. »All das haben wir uns auch gefragt. Aber es sieht tatsächlich so aus, dass es folgendermaßen abgelaufen ist: Er hat das Ganze im Internet nachrecherchiert. Vielleicht aus dem Grund, um bei seinen Leuten daheim damit anzugeben, ein echtes Verbrechen gefilmt zu haben. Weiß der Geier. Jedenfalls ist am Montag die Meldung rausgegangen, dass es eine Fahndung nach dem unbekannten Zweiten gibt.«

»Montag?«

»Das Opfer ist am Wochenende gestorben. Damit haben wir womöglich Totschlag. Vermutlich hat er das gelesen und sich gedacht, dass er uns das Video besser zur Verfügung stellen sollte.«

»M-hm.«

Das alles klang einerseits suspekt, andererseits folgte es einer gewissen Logik. Das Internet machte die Welt zu einem Dorf, jedenfalls dort, wo man freien Zugang hatte und wusste, wo und wie man darin suchte. Trotzdem störte sie etwas.

»Hat sich nicht Uwe Liebig schon in die Ermittlung eingeklinkt?«, erinnerte sie sich. Der Vorfall war bisher in einer anderen Kategorie geführt worden. Messerstecherei unter Kleinkriminellen. Vielleicht eine Bandensache. Damit fiel das Ganze in Liebigs Ressort, denn der neue Kollege, der kürzlich aus Offenbach auf diese Mainseite gewechselt war, hatte sich in seinen vergangenen Dienstjahren kaum mit etwas anderem befasst.

Abel nickte. »Liebig ist an der Sache dran. Er kennt das hier aber noch nicht.« Er tippte dabei auf den Flachbildschirm. Sofort bildeten sich graublaue Ringe um die Druckstellen und verschwanden im nächsten Augenblick wieder. »Das hier zeigt nämlich eine völlig andere Perspektive auf das Tatgeschehen.« Er rief das Video erneut auf und suchte einen bestimmten Zeitindex. Dann spielte er es in leicht verlangsamtem Wiedergabetempo noch einmal ab.

Doris Seidel starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Szene, die sich noch immer viel zu schnell und viel zu undeutlich vor ihr abspielte.

»Der Schwarzbart hatte das Messer zuerst«, erkannte sie.

»Bingo! Das haben wir vorher völlig anders vermutet.«

»Aber was verändert das?«

»Fellmütze hat Schwarzbart entwaffnet und abgestochen«, sagte Abel. »Das passt nicht ins Bild. Nachdem wir die Zeugenaussagen halbwegs sortiert und eingeordnet hatten, sind wir zunächst von einem ganz anderen Tathergang ausgegangen. Schwarzbart wollte dem anderen das Portemonnaie klauen. Der hat das gemerkt und sich gewehrt, daraufhin zückte der Dieb sein Messer. Das passiert ja ständig. Spätestens dann hätte unser Opfer auf seine Geldbörse verzichtet, weil ihm sein Leben mehr wert ist als ein paar Plastikkarten und Scheine. Es gehört schon Chuzpe dazu, einen Mann, der flinke Hände hat und zu allem entschlossen scheint, zuerst zu entwaffnen und anschließend auch noch abzustechen.«

Seidels Gedanken drehten sich. Das Handgemenge der beiden schien ein kurzer, aber erbitterter Kampf gewesen zu sein. Überflüssig vielleicht, da gab sie ihrem Kollegen recht. Nachdem er den Diebstahl verhindert und das Messer in Besitz hatte, hätte der Mann nur noch rennen müssen. Oder den Dieb zu Boden ringen und nach Hilfe rufen. Irgendjemand aus dieser Traube wäre ihm doch wohl zu Hilfe geeilt oder hätte wenigstens die Polizei verständigt. Stattdessen …

»Du glaubst also, dass da mehr dahintersteckt als ein versehentlicher Treffer mit der Klinge?«

Abel zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur eines. Um mich herum stehen zwei Dutzend Menschen. Der Angreifer bekommt keine Unterstützung, also ist er alleine. Entwaffnet habe ich ihn auch – ein Glücksgriff, der höchst unwahrscheinlich war. In unmittelbarer Nähe ist der Main. Also weg mit dem Scheißmesser, dahin, wo er nicht drankommt. Wo er es mir nicht wieder abnehmen kann und Schlimmeres passiert.« Wieder deutete er in Richtung Computermonitor. »Soll ich’s dir noch mal zeigen? Kurz bevor die beiden auseinandergehen? Da steht er da, eine ganze Sekunde lang, die Hand mit dem Messer völlig frei. Man erkennt es kaum, aber ich hab’s tausendmal angesehen, und es ist eindeutig. Hand. Messer. Mainufer. Er hätte es nur loslassen müssen. Ein kleiner Schnick, und alles wäre vorbei gewesen. Aber stattdessen … sticht er zu.«

Seidel kratzte sich am Kinn. »Darf ich?«, fragte sie. Abel nickte, und sie bediente die Computermaus nun selbst. Die Bilder des Videos ruckelten langsam über den Bildschirm. Sie klickte auf Vollbild. Merkte aber sofort, dass sie ihre Augen damit überforderte. Zumal durch das Vergrößern alles noch verschwommener wurde. Trotzdem glaubte sie nach dem dritten Durchgang erkannt zu haben, was Charly meinte. Der Mann im Hafenarbeiter-Outfit zögerte einen entscheidenden Moment zu lange. War das ein Kopfzucken oder ein Wackler im Bild? Schaute er in Richtung der Menschen, die sein Publikum bildeten? Müsste er nicht spätestens in diesem Sekundenbruchteil begriffen haben, dass er allein die Macht hatte, Schlimmeres abzuwenden? Oder mutete sie ihm da zu viel zu?

»Wie würdest du denn reagieren?«, sagte sie, mehr zu sich selbst.

Abel antwortete sofort: »Na, ist doch klar! Messer weg und Hilfe anfordern.«

Seidel zog die Augenbrauen zusammen. »Ich weiß nicht. Wir beide sind ausgebildet. Ich hab sogar nen schwarzen Gürtel, auch wenn das eine Ewigkeit her ist. Trotzdem würde auch ich in so einer Situation vielleicht nicht rational handeln. Und überhaupt: Wie wichtig ist dieser Punkt eigentlich? Der Taschendieb ist tot. Haben wir die Identität schon geklärt?«

»Das macht alles der Liebig.« Abel winkte ab. »Was mich die ganze Zeit schon irritiert, ist Folgendes: Da ist ein Typ, der am Mainufer spazieren geht. Taschendieb kommt, er wehrt sich, Handgemenge, Messer, Taschendieb ist tot. Typ verschwindet. Ob er den Japaner mit der Kamera wahrgenommen hat, kann ich nicht sagen, aber es gab circa ein Dutzend Zeugen. Nun mal angenommen, ich bin ein unbescholtener Bürger und mir passiert so was an einem belebten Ort. Klar, ich habe vielleicht zuerst den Reflex abzuhauen Aber was dann? Würde ich nicht abwägen, mich doch der Polizei zu stellen? Zumal mein Angreifer ja noch nicht tot ist. Das geschah ja erst später. Würden sich die meisten Personen nicht an die Behörden wenden? Es sei denn …«

Doris Seidel beendete den Satz: »Es sei denn, es war keine Notwehr.« Sie atmete schwer. »Ist es das, was du glaubst?«

Charly Abel grinste schief. »Glauben ist was für die Kirche. Aber ja. Entweder das, oder er hat irgendwelchen anderen Dreck am Stecken.«

Die Kommissarin machte sich auf den Weg, um in ihr eigenes Büro zu gehen. Sie wollte den Fahrstuhl nach oben nehmen und mit Uwe Liebig telefonieren. Außerdem brauchte sie jemanden von der Computerabteilung, der aus dem Videomaterial ein Phantombild des Mantelmannes mit der Dockermütze erstellte. Wer lief überhaupt noch so herum? Am besagten Tag hatte die Temperatur im zweistelligen Bereich gelegen. Das hatte man auch der Kleidung der Umherstehenden ansehen können. Die ersten Gehversuche des Frühlings, auch wenn es seitdem wieder unwirtlicher geworden war. Rollkragenpullover, Strickmütze und Mantelkragen hatten womöglich eine andere Funktion gehabt.

Bevor sie ihren Gedanken zu Ende bringen konnte, traf ein Paar Augen sie wie ein Blitzschlag. Es war der Blick einer jungen Frau mit verquollenem Gesicht. Das Foto heftete an einem Whiteboard, und Doris erkannte in ihr auf Anhieb die Joggerin, die ihr an der Nidda-Brücke begegnet war.

»Schlimme Sache«, hörte sie Abel sagen. Sie drehte den Kopf, er stand noch immer am Tisch mit dem Monitor, wo sie das Video betrachtet hatten. Doris sah zurück auf das Board, während Abel sich ihr langsam näherte und weitersprach. Parallel zu seinen Worten las sie die wenigen Fakten, die zwar in nüchterne Begriffe gefasst waren, ihr aber einen kalten Schauer über den Rücken jagten.

Und als die Kommissarin Tatort und Tatzeit las, gab es keinen Zweifel mehr.

Frankfurt Bonames, 24.1.

Erweitertes Gelände des Alten Flugplatz

Opfer wurde mehrfach vergewaltigt – schwere innere Verletzungen

drei oder vier Tatbeteiligte – Identität der Männer unbekannt

Ihre Knie wurden weich und sackten weg.

9 :40 Uhr

Der Schotter knirschte unter Julia Durants Sohlen, als sie den Außenbereich des Gebäudes betrat. Kaum jemand, der sich über die Kennedyallee in Richtung Innenstadt bewegte, würde ohne Hinweis erkennen, dass sich hinter der Sandsteinfassade der Villa das Institut für Rechtsmedizin verbarg.

Andrea Sievers kam persönlich nach oben, um sie abzuholen. Dabei ging es ihr, wie Durant vermutete, weniger um das Begrüßen als um die Gelegenheit, eine Zigarette zu rauchen.

Tatsächlich hielt die Rechtsmedizinerin ihren Glimmstängel schon in der einen und das Feuerzeug in der anderen Hand, als sie einander umarmten.

»Du wolltest ja keine, stimmt’s?«, fragte sie, den Filter zwischen den Lippen, während die Flamme den Tabak zum Knistern brachte. Sie nahm einen kräftigen Zug und schloss die Augen.

»Nein«, lächelte Durant. »Diesmal halte ich mal ein bisschen länger durch.«

»Recht hast du. Keiner schneidet gerne Raucherlungen auf.«

Durant verdrehte die Augen. Sie hatte das Rauchen schon vor längerer Zeit und nach vielen erfolglosen Versuchen aufgegeben. Dann war eine derart harte Lebensphase über sie hereingebrochen, dass sie ein paarmal rückfällig geworden war. Aber der Wille, nicht wieder der Sucht zu verfallen, war größer, auch wenn die jetzige Lebensphase alles andere als einfach war. Sie dachte an Clara und den Krebs. An ihre eigene Mutter. Nein. Sie würde das auch ohne Kippen hinbekommen.

»Ich habe ein paar Unterlagen aus Wiesbaden angefordert«, sagte sie. »Sind sie schon eingetroffen?«

»Klaro. Als wenn ich nicht schon genug zu tun hätte.«

Durant überging das. »Konntest du denn einen Blick hineinwerfen?«

Sievers inhalierte tief und legte den Kopf in den Nacken, bevor sie den Rauch ausstieß. Danach senkte sie das Kinn: »Kurz. Aber ich kapiere den Zusammenhang nicht.«

»Deshalb bin ich ja hier. Wir haben ein totes Mädchen, kaum volljährig. Dein Kollege in Gießen war an dem Fall zugange.«

»Hackebeil?« Sievers lachte auf. »Na dann gibt es nichts mehr, was ich da noch rausfinden kann! Wenn der mit einer Leiche fertig ist, hat er alles gesehen, was es zu sehen gibt.«

»Hmm. Es geht nicht nur um dieses Mädchen«, sagte Durant. »Der Fall aus Wiesbaden. Das ist eine Frau, ebenfalls mit Schädelfrakturen und Würgemalen. Ich möchte wissen, ob es da einen Zusammenhang gibt.«

»Aber der Fall aus Wiesbaden ist doch abgeschlossen, oder liege ich da falsch?«

»Das andere Mädchen wurde schon vor dreißig Jahren getötet, doch es gab einen gemeinsamen Bekannten.« Sie seufzte. »Zugegeben, wir fischen noch im Trüben. Aber jede Erkenntnis bringt uns ein Stückchen weiter.«

»Herrje. Dann war sie ja schon skelettiert. Umso besser, dass sie in Gießen gelandet ist. Dieser Hack hat vor seiner Zeit in der Rechtsmedizin auf der ganzen Welt Leichen aus Massengräbern exhumiert. Jedes Krisengebiet …«

»Mag sein«, fiel Durant ihr ins Wort. Ihr fehlte schlichtweg die Geduld für Small Talk. »Aber die Ermittlungen sind hier und jetzt. Wollen wir?«

»Schon gut.«

Andrea Sievers nahm ihr das nicht krumm. Es war ohnehin ein Wunder, wie locker diese Frau mit ihrem Job umging. Einem Beruf, der ihr mehr Kontakt mit toten Personen bescherte, als es Lebende in ihrem Umfeld gab.

Zwanzig Minuten später saßen die beiden Frauen in dem winzigen Büro, das Dr. Sievers ihr Eigen nannte, und hatten die digitalen Befunde aus Gießen sowie die Akte der Kofferraum-Toten vor sich ausgebreitet. Neben dem Bildschirm heftete das Foto eines Hinterkopfs. Verklebte Haare. Blutunterlaufene Flecke. Auf dem Monitor selbst die Aufnahme des Rosbacher Schädels.

»Das ist zu wenig.« So die ernüchternde Analyse der Rechtsmedizinerin.

Julia Durant fuhr sich durchs Haar. »Ich sehe immerhin zwei Schädelfrakturen«, sagte sie. Doch im Grunde war ihr längst klar, dass das nichts zu bedeuten hatte.

Dasselbe erklärte ihr die Rechtsmedizinerin, wenn auch im Fachjargon. Am Ergebnis änderte sich nichts. Beide Frauen hatten ein schweres Schädeltrauma erlitten, was aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch eine Schlagwaffe verursacht worden war. Ihre Köpfe waren gegen einen festen Gegenstand gestoßen worden, eine Wand, ein Möbelstück oder – in Nicole Geßlers Fall konnte es auch eine Sturzverletzung sein, die sie im Steinbruch erlitten hatte.

»Ergäbe eine Exhumierung der Toten aus dem Kofferraum Sinn?«, wollte Durant abschließend wissen.

Andrea Sievers schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte sie. »Aber eine zwanzig Jahre alte Leiche wird uns genauso wenig Erkenntnisse verschaffen wie unsere dreißigjährige.«

Manchmal hasste Julia Durant die Endgültigkeit der Dinge.

10 :50 Uhr

Julia Durant stellte den Dienstwagen auf dem Innenhof des Präsidiums ab und winkte Frank Hellmer, der rauchend neben einer der Türen stand. Er winkte ebenfalls und drückte seine Zigarette aus.

»Wegen mir können wir gleich los«, begrüßte er sie.

Doch Julia hatte andere Pläne. Eine SMS von Claus, die sie auf dem Weg zurück ins Präsidium empfangen hatte.

»Gleich. Ich muss nur kurz nach oben«, sagte sie und trat durch die Glastür. Zwei Stufen auf einmal nehmend trabte sie die Stockwerke hinauf. Auf halber Strecke reduzierte sie das Tempo, sie spürte, wie der Schweiß aus ihren Poren drang. Jeder Schritt zählte, auch wenn man ihn langsam tat.

Die Tür war angelehnt. Sie hörte ihren Verlobten telefonieren, also klopfte sie nicht, sondern steckte den Kopf in den Türspalt.

Hochgräbe leitete eine Abschiedsfloskel ein.

»Gut. Wir reden nachher in Ruhe. – Ja, dir auch – Ciao.«

Nur langsam legte er das Handy auf den Schreibtisch zurück, fast so, als habe er Angst, es zu zerbrechen. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der Julia überhaupt nicht behagte.

»Wer war das denn?«, fragte sie und klammerte die Finger um den Türrahmen, noch unschlüssig, ob sie eintreten und ihn küssen sollte oder nicht.

»Clara«, antwortete er leise. »Aber deshalb habe ich dich nicht hergebeten.«

»Du sagst mir jetzt trotzdem, was los ist«, forderte Julia. Ihr war bewusst, dass Clara auf einem Trip durch sämtliche medizinischen Instanzen war. Uniklinik, Krebsspezialisten, allerlei Fachärzte und auch solche, die sich für Experten hielten. Alternativmedizin. Sie ließ keine Option aus.

»Es sieht nicht gut aus«, sagte Claus mit Spannung in der Stimme. »Aber ich muss das aus erster Hand hören.« Er blickte in Richtung der Wanduhr. »Ich würde euch ab zwölf dann gerne alleine lassen. Du kannst mich ja erreichen.«

»Klar. Kein Problem.« Julia blickte ihn nachdenklich an. Er war so ein guter Zuhörer, so ein liebevoller Kümmerer. Aber wenn es um ihn selbst ging … »Kannst du mir denn nicht irgendwas Genaueres sagen?«

»Sorry. Ich weiß es selbst nicht. Clara hat mit Begriffen um sich geworfen, die ich erst nachschlagen möchte. Sie spielt das alles natürlich runter, aber wir wissen ja beide …« Er brach ab und schüttelte sich. »Jedenfalls höre ich es ihr an, wenn sie nicht ehrlich ist. Immerhin bin ich ihr Vater, auch wenn das total bescheuert klingt, weil wir uns ja erst seit so kurzer Zeit kennen. Trotzdem. Ich mache mir Scheißsorgen, verstehst du? Deshalb muss ich das jetzt erst mal mit ihr durchstehen. Aber ich melde mich, wann immer es etwas gibt. Und du meldest dich bitte auch.«

Längst stand Julia hinter seinem Drehstuhl und hielt seinen bebenden Oberkörper umschlungen. Sie küsste ihn auf die Stirn. »Versprochen. Ich halte die Stellung.«

»Eigentlich wollte ich noch mit Doris …«, begann er.

»Du machst jetzt gar nichts«, bestimmte die Kommissarin. »Ich übernehme ab hier.«

Hochgräbe wand sich frei und stand dann auf. Er räusperte sich. »Wir müssen trotzdem noch dienstlich reden«, beharrte er. »Diese Sache mit Nicole Geßler. Wir müssen der Presse im Lauf des Tages die Identität verraten. Tut also, was ihr tun müsst, aber bitte mit Augenmaß. Es ist nun mal ein sehr alter Fall, und wir müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, dass Nicoles Mörder ebenfalls nicht mehr am Leben ist.« Sofort schnellte seine Hand nach oben. »Und damit meine ich nicht zwangsläufig Caspar Bahl. Dreißig Jahre sind eine verdammt lange Zeit.«

»Ich weiß.« Durant nickte mit vielsagender Miene. Dreißig Jahre.

Damit ließ der scheidende Kommissariatsleiter sie stehen, nachdem er ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund gedrückt hatte. »Mach’s gut. Ich liebe dich.«

Ob Teenie oder erwachsene Frau: Diese zugeflüsterten Liebesbekundungen in der Öffentlichkeit fühlten sich einfach komisch an. Egal, ob jemand Drittes sie hörte oder nicht.

So richtig daran gewöhnen würde Julia sich wohl nie.

Fünf Minuten später stieg sie zu Frank in den Range Rover.

Die Fahrt führte sie über Eschborn in Richtung Taunus. Durant hatte nicht darauf geachtet, zu welcher Gemeinde die Ortschaft gehörte. Ihre Gedanken hingen bei Clara und Claus. Frank Hellmer war einfühlsam genug, um ihr keinen Small Talk aufzuzwingen. Erst als sie in eine enge, gewundene Privatstraße abbogen, ergriff er das Wort. »Gleich geschafft. Wollen wir uns kurz abgleichen?«

Julia schüttelte den Kopf. »Lassen wir uns überraschen. Hast du uns angekündigt?«

»M-hm. Musste ich ja.«

»Du hast nichts über Nicole Geßler gesagt?«

»Ich bin doch nicht bescheuert. Aber es wird ja sicher in der Zeitung stehen.«

»Claus meinte, er hat bislang noch nichts rausgegeben. Wird aber im Laufe des Tages passieren.«

»Na dann.« Hellmer grinste und knackste mit den Fingerknöcheln. »Ich weiß genug über die Familie und den Fall, dass ich ihr die richtigen Fragen stellen kann. Und für den Rest habe ich ja dich.«

Das klang noch immer vage, aber im Grunde waren sämtliche ihrer Bemühungen nichts anderes als das. Sie stocherten mit Schilfrohren im Uferwasser herum in der Hoffnung, irgendetwas aufzuscheuchen, was sich darin verbarg. Ohne zu wissen, was das am Ende war.

Andererseits war alles besser, als im Büro zu sitzen und mit den Gedanken bei Claus, Clara oder Lynel zu sein.

11 :00 Uhr

Im Radio spielte der Nachrichtenjingle, aber sie hörte ihn kaum. Mit den Händen auf die Fensterbank gestützt, stand sie einfach nur da, seit einer gefühlten Ewigkeit, und starrte hinab auf die Stadt. Von hier oben sah alles friedlich aus. Geschäftiges Treiben auf der Eschersheimer Landstraße, die man auf jeweils drei Spuren pro Fahrtrichtung ausgebaut hatte. Hin und wieder spuckte das Parkhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Auto aus, nur um kurz darauf wieder ein anderes zu verschlucken. All diese Bilder zogen wie in einem Film vor ihren Augen vorbei, für den sie sich nicht interessierte. Wie eine Werbetafel, die man nur am Rande registrierte.

Zwischendurch glaubte Doris Seidel, die Stimme von Julia Durant oder den bedächtigen Gang von Claus Hochgräbe vernommen zu haben. Aber niemand hatte ihr Büro betreten, in dem sie sich ganz alleine befand. Doch dann legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

Mit einem spitzen Aufschrei fuhr sie herum und hätte den Mann um ein Haar mit einem Verteidigungsschlag zu Boden geschickt. Doch ihr Arm sauste ins Leere, und fast hätte sie die Kontrolle über ihren Stand verloren.

»Hoppla.« Uwe Liebig lachte.

Liebig. Der Neue. Er war zu alt, um ihn als Frischling bezeichnen zu können. Hatte seine Tochter auf dramatische Weise verloren, als sie einem Fluchtfahrzeug in die Quere gekommen war. Sie war zuerst überrollt und dann mitgeschleift worden. Ein grausamer Verlust, dem die Ehe nicht hatte standhalten können. Am Ende hatte Liebig alles verloren, was er liebte, und dieses Gefühl löste in Doris Seidel eine starke Sympathie für ihn aus. Ein Mitgefühl, das man nur als Mutter verstehen konnte. Jene Urangst, die von ihr Besitz ergriff, wenn sie sich vorstellte, dass Elisa etwas Schlimmes zustoßen könne. Ein Gefühl, das jeden Tag erwachte, sobald das Mädchen die Wohnung verließ.

Wie lange würde es noch dauern, bis sie sich verliebte?

Wie lange …

»Scheiße, Uwe!«

»Ich hab doch extra Hallo gesagt.« Er lächelte irritiert und reckte den Hals in Richtung Fenster. »Gibt’s da unten was zu sehen?«

Er wirkte fast enttäuscht. Doris musterte ihn. Die Bluejeans war abgetragen und hatte graue Flächen auf den Oberschenkeln, die vermutlich von Handschweiß herrührten. Der Strickpulli, der überall dort, wo sich der Bierbauch nicht abzeichnete, ziemlich schlaff saß. Norwegermuster und Ketchupfleck. Sie kannte Liebig erst kurz, aber hatte ihn noch nie anders gesehen. Ein Kollege, der auch nach all den Jahren seit dem Tod seines Kindes noch täglich damit kämpfte. Der seinen Blick nicht auf sich selbst richtete und dabei auch den Blick für sein Umfeld zu verlieren schien.

Ob es eine gute Idee war …

Urplötzlich sagte er: »Hey, sag mal, stimmt was nicht? Hab ich was verpasst?«

Und dann konnte die Kommissarin ihre Verzweiflung nicht mehr beherrschen. Zwei Tränen lösten sich, sie ließ sie kullern und wischte sich erst hinterher mit den Händen durchs Gesicht. Schluchzend sagte sie: »Ich habe Scheiße gebaut. So richtig schlimme Scheiße. Und wegen mir …«

Ein Beben übermannte sie, und ihr Blick verschwamm. Und der Film, der jetzt vor ihren Augen ablief, war nichts, was man wie eine Werbetafel ausblenden konnte. Da war diese hübsche junge Frau in ihrer sexy Sportkleidung. Lachend und ausgelassen. Der Szenenwechsel war brutal. Ihre Schreie drangen Doris durch Mark und Bein, mal waren es die Augen, weit aufgerissen, dann ihr Körper. Die Kleidung nur so weit hinuntergerissen, um Brüste und Scham freizulegen. Einer der Turnschuhe lag im Gras. Schatten rutschten durchs Bild. Muskulöse Schatten. Einer drehte sie auf den Bauch, bevor er sich über sie legte. Auch wenn es nur Sekunden waren, so fühlte es sich an wie ein Horrorfilm mit Überlänge.

Durch den Schleier vor ihren Augen nahm sie einen Abspann aus Norwegerstrick wahr. Parallel dazu einen fremden Körpergeruch, und erst dann spürte sie den Arm, der sie stützte.

»Sorry«, sagte sie schniefend und wand sich frei.

»Diese Bastarde«, knurrte Liebig, und seine Fäuste ballten sich. Offenbar hatte sie den Film vor ihren Augen mit einer Hörfassung versehen.

Einem Regiekommentar, dachte sie düster. Denn eines stand unzweifelhaft fest: »Ich «, betonte sie, und der Zeigefinger bohrte sich auf ihr Brustbein, »ich habe das passieren lassen. Ich bin beim Laufen selbst an diesen Kerlen vorbeigekommen und habe mich verdammt unwohl gefühlt. Aber ich habe nichts getan; keinen Pieps gesagt, als wir uns bei der Brücke begegnet sind. Ich hätte sie warnen müssen, verdammte Scheiße, warum habe ich das nicht getan?«

Uwe Liebig schüttelte den Kopf und grunzte. »Wenn sie’s nicht gewesen wäre, hätten sie eine andere gefunden. Und wenn du ein paar Minuten früher oder später dran gewesen wärst …«

Er dachte nach und winkte ab. »Was ich sagen will: Hör mit diesen bescheuerten Selbstvorwürfen auf. Das macht dich kaputt, glaub mir, damit kenne ich mich aus.«

Doris sah ihn schweigend an. War er es, von dem sie so etwas hören wollte? Oder musste? Jedenfalls fühlte es sich nicht so an, als würde es ihre Verzweiflung verschwinden lassen können.

»Ich war aber nicht früher oder später«, sagte sie mit einem trotzigen Unterton. Auch sie hatte die Fäuste geballt, während Liebig seine gerade entspannte und die Arme vor dem Ketchupfleck verschränkte. »Ich war da und sie auch. Und ich stehe hier. Als Frau, die bei der Sitte angefangen hat. Verdammt! Ich kenne Dutzende solcher Fälle, ich hätte es kommen sehen müssen! «

»Gut. Dann geh hin und sag ihr das.«

Was hatte er da gerade gesagt?

»Oder«, fuhr er fort, »komm mit mir mit, und wir sehen zu, dass diese Dreckschweine hinter Gitter kommen. Da können sie dann selbst mal erleben, wie das ist.«

In seinen Augen loderte etwas, das Doris Seidel berührte. Es war eine Mischung aus verbotener Frucht und Befriedigung. So wie es sich in Filmen oder Serien entwickelte, wenn der Bösewicht begann, Gutes zu tun. Wenn der Forensiker Dexter Morgan Kinderschänder abschlachtete und das Letzte, was sie sahen, die Fotos ihrer Opfer waren.

Ja, sie konnte es nicht leugnen. Diese Typen sollten leiden, das wünschte sie sich in diesem Augenblick mehr als alles andere.

11 :50 Uhr

Frau Bahl öffnete die Doppelflügeltür der Villa. Sie war nur unwesentlich jünger als Julia Durant, aber versprühte eine fast noch jugendhafte Ausstrahlung. Die blauen Augen strahlten sie förmlich an. Kein Anzeichen von Grau in der dunkelblonden Kurzhaarfrisur, und auch die Gesichtsfalten hielten sich in Grenzen. Inwiefern hier kosmetische Eingriffe hilfreich gewesen waren, konnte sie nicht erkennen. Dazu eine figurbetonende Kleidung, als bereite sie sich gerade auf eine Partie Golf oder einen Ausritt vor, kein überschüssiges Fett und ein straffer Busen. Beim genaueren Hinsehen erkannte sie, dass hierbei ein Sport-BH half. Das Make-up makellos. Frau Bahl stand da, wie mit einem Lineal aufgerichtet. Fehlten nur noch Schläger oder Gerte.

»Guten Tag.« Ihre Stimme war unerwartet tief. Es folgte nichts weiter, auch keine einladende Geste.

»Hellmer und Durant«, sagte Julias Partner hastig, bevor die Stille unangenehm werden konnte. »Ich hatte unseren Besuch angekündigt. Kriminalpolizei Frankfurt. Und Sie sind Catharina Dorothea Bahl?«

Frau Bahl nickte sparsam. »Dorothea Bahl genügt.« Sie verfügte entweder über eine beneidenswerte Kontrolle ihrer Gesichtsmuskulatur oder war tatsächlich nicht sonderlich beeindruckt, dass zwei Kripobeamte vor der Tür standen. Offenbar gleichgültig, aber immer noch mit Bedacht auf einen höflichen Ton, sagte sie nur: »Polizei Frankfurt – und Sie kommen wegen meinem Bruder?«

»Indirekt, ja«, bestätigte Durant. Da die Medien noch nicht über die Identifizierung von Nicole Geßler berichtet hatten, hatte sie entschieden, Frau Bahl damit zu überraschen. Das Beobachten von Reaktionen auf gewisse Informationen war ihr wichtig. »Es geht um einen alten Fall.«

»Es ist ja auch schon sehr lange her«, sagte Dorothea Bahl. »Haben Sie Caspar … gefunden?«

»Nein, bedaure. So einfach ist die Sache leider nicht.«

»Hmm. Dann kommen Sie doch bitte erst mal herein.«

Sie gingen in eine Art Wohnzimmer, das erstaunlich schlicht eingerichtet war. Mehr eine Lobby, aber von der Größe eines Ballsaals.

Frank Hellmer umriss in wenigen Sätzen, worum es ging.

Frau Bahl schob die Augenbrauen zusammen. »Ich verstehe das nicht. Sie haben ein totes Mädchen gefunden, mit dem Caspar mal etwas gehabt haben soll? Und jetzt suchen Sie nach irgendwelchen Beweisen? Ich dachte, es ginge um ihn? «

»Aber sein Tod wurde doch aufgeklärt«, wandte Durant ein, und Frau Bahl zuckte leicht.

»Stimmt. Trotzdem. Was wollen Sie noch mit diesen alten Geschichten?«

Durant räusperte sich. »Nicole Geßler und Ihr Bruder waren in der Nacht ihres Verschwindens auf derselben Party. Es gibt unterschiedliche Aussagen von Gästen darüber, ob die beiden nun etwas miteinander hatten oder nicht. Irgendwann im Laufe dieses Abends verschwand Nicole, und auch Ihr Bruder war für einen gewissen Zeitraum nicht zugegen.«

»Als ob man das auf einer Party so genau nachvollziehen kann«, murmelte Dorothea. »Wenn zwei Menschen für ein, zwei Stunden verschwinden, dann liegt doch der Verdacht ziemlich nahe, dass sie sich aus bestimmten Gründen zurückgezogen haben. Da sucht man nicht nach ihnen, und da wundert man sich auch nicht.« Sie setzte ein kaum sichtbares Lächeln auf. »Oder war das auf den Partys, die Sie früher gefeiert haben, etwa anders?«

Durant winkte ab. »Darum geht es gerade nicht. Nicole ist ab etwa Mitternacht nirgendwo mehr aufgetaucht. Und auch danach nicht mehr. Sie ist spurlos verschwunden, und niemand konnte etwas dazu sagen. Diese Party fand in einem abgelegenen Haus statt, das Wetter in dieser Nacht war regnerisch, und es gibt keine Meldungen über ein Taxi oder etwas Ähnliches. Nichts.«

Frau Bahl neigte den Kopf. »Ja. Ich erinnere mich. Die Polizei war damals hier. Aber ich weiß nicht mehr, was Caspar Ihren Kollegen gesagt hat.«

»Das wissen wir anhand der Protokolle.« Hellmer lächelte sie an. »Interessanter für uns wäre, was er Ihnen gesagt hat. Irgendwie muss Nicole ja von dort weggekommen sein.«

Ein Schatten legte sich über Dorothea Bahls Gesicht. »Ja. Schrecklich. Hat man nicht sogar irgendwann geglaubt, sie wäre im Umfeld dieses Hauses vergraben worden?«

»Im Lauf der Jahre gab es allerlei Spekulationen«, bestätigte Hellmer, und Durant beneidete ihn in diesem Augenblick um sein klares Erinnerungsvermögen. Hatte er damals nicht noch woanders gearbeitet? Weshalb hatte er dieses Verbrechen so auf dem Schirm? Oder hatte er sich das alles über Nacht draufgeschafft, um der Dame des Hauses hier bestens vorbereitet entgegentreten zu können? Sie lehnte sich zurück, nicht ohne Frau Bahl mit Argusaugen im Blick zu behalten, und lauschte ihrem Kollegen: »Spürhunde, Fernsehbeiträge bei Aktenzeichen XY , ein Badesee, der von Tauchern abgesucht wurde. Ein angebliches Lebenszeichen aus Spanien, das sich als Sackgasse erwies.« Er atmete schwer. »Heute haben wir Gewissheit.«

»Wie schlimm für die Eltern«, sagte Dorothea Bahl.

Durant wurde ungeduldig. Außer Beileidsbekundungen war da noch nicht viel gekommen. Sie räusperte sich: »Es gibt nur noch den Vater. Aber finden Sie nicht auch, dass er es verdient hat, die Wahrheit zu erfahren?«

Bahl wechselte einen Blick mit Hellmer und hob die Schulter. »Ja. Aber was kann ich …«

»Sie haben doch dasselbe durchgemacht, oder nicht?«, unterbrach die Kommissarin sie. »Wie lange hat es gedauert, bis man Ihren Bruder für tot erklärt hat?«

Die Frau fuhr sich mit der Handfläche über den Nacken. »Ach … na ja, das sind ja bestimmte Prozesse, die da ablaufen. Aber ich verstehe immer noch nicht, was das alles mit dieser Nicole zu tun hat.«

»Ihr Bruder hatte eine tote Frau im Kofferraum seines Jaguar. Mit nahezu identischen Verletzungen. Solche Zufälle geben uns immer zu denken.«

Durant vernahm ein leises Hüsteln. Sie spürte, dass Hellmer sie anstierte, bevor sie ihn ansah. Offenbar ging sie ihm zu schnell vor. Sollte sie auf die Bremse treten? War da eine Chemie zwischen den beiden, die ihr Partner ausnutzen wollte und die sie mit ihrem Vorpreschen gefährdete? Sie hob die Hände und erklärte leise: »Das ist so eine Berufskrankheit bei uns mit den Zufällen.«

Hellmer und Bahl wechselten ein flüchtiges Lächeln. Die Hausherrin kniff die Augen zusammen und hob den Zeigefinger. »Gab es damals nicht sogar eine Wahrsagerin?«

Er grinste schief und winkte ab. »Auch die gab es, ja. Aber noch mal wegen Ihres Bruders: Hat er Ihnen gegenüber erwähnt, wie genau seine Beziehung zu Nicole Geßler gewesen ist?«

Sie stülpte die Lippen vor. »Steht das denn nicht in Ihren Protokollen?«

»Die Vernehmungen haben damals leider ein ziemlich abruptes Ende gefunden«, erwiderte Hellmer.

Die angenehme Atmosphäre zwischen den beiden zerplatzte wie eine Seifenblase. Durant spannte die Muskeln an. Sie wusste, worauf ihr Partner sich bezog. Der Anwalt der Familie, ein bekannter und berüchtigter Name mit einer mächtigen Kanzlei im Rücken, hatte das Ganze nach Kräften torpediert. Am Ende war nichts weiter übrig geblieben als ein junger Mann, der mit vielen anderen jungen Leuten eine Party gefeiert hatte. Sämtliche Verdächtigungen wurden seitens der Familie nicht nur von der Hand gewiesen, sondern auch unterbunden. Das verschwundene Mädchen hatte weder mit ihm etwas zu tun noch mit dem Ort der Feier. Und ihre Tagebucheinträge waren nichts als flüchtige Teenie-Schwärmereien, so wie man sie in jeder BRAVO nachlesen konnte.

Statt einer Mauer aus Trotz reagierte Frau Bahl unerwartet offen. »Ja, ja, ich weiß. Mein Vater. Er hat sich damals fürchterlich aufgeregt. Solche Dinge waren für ihn ein absolutes Grauen. Der Name unserer Familie durfte nicht in den Dreck gezogen werden, seine illustren Kunden sollten nicht durch Schlagzeilen vergrault werden. Da war ihm nichts zu aufwendig, deshalb schaltete er direkt seine Anwälte ein. Allerdings«, betonte sie dann, »hat er auch eine Belohnung ausgesetzt.«

Durant erinnerte sich, so etwas gelesen zu haben. Sie ärgerte sich, dass sie sich nur so wenig Zeit für die Akteneinsicht genommen hatte. Andererseits hätte Dorothea Bahl dann aus den Medien von Nicole erfahren und sich auf das Gespräch vorbereitet. Bewusst oder unbewusst. Sie wollte ihr da vorläufig nichts unterstellen. Allerdings war Frau Bahl eine Person, die sich sehr unter Kontrolle zu haben schien und die sich nur schwer in die Karten sehen ließ. Vielleicht eine Erziehungssache.

»War Ihr Vater sehr dominant?«

Die Frage wirkte völlig platt, aber etwas anderes fiel ihr nicht ein.

»Wieso fragen Sie?«

»Na ja«, meldete sich Hellmer zu Wort. »Das klang eben so, als wäre ihm der eigene Familienname wichtiger gewesen als das Schicksal der kleinen Geßler.«

Die Schatten fielen erneut über ihr Gesicht. »Nicht nur ihr Schicksal«, murmelte sie. Dann richtete sie den Rücken wieder gerade. »Aber so war er nun mal. Die Klientel in der Kunstwelt ist eine sehr eigene. Scheu, diskret, nun ja … Da darf es keine Störungen geben. Schon gar nicht, wenn Polizei und Medien dazwischenfunken.« Sie stockte. »Oder die Bedürfnisse der eigenen Kinder.«

Durant beugte sich nach vorne. »In Ordnung, ich habe verstanden. Ihr Vater hat also die Kontrolle über alles gehabt. Was war mit Ihrer Mutter?«

»Sie starb kurz nach meiner Geburt. Wir hatten immer nur uns drei.«

»Andere Familienmitglieder?«

»Gab es keine. Vater wurde im Sudetenland geboren und kam als Kleinkind nach dem Krieg hierher. Andere Bahls gibt es sicher, aber niemand, mit dem wir in Kontakt standen.«

»Dann frage ich jetzt mal anders.« Durant atmete hörbar durch die Nase ein und aus. »Besteht Ihrer Meinung nach die Möglichkeit, dass Ihr Bruder etwas mit dem Tod von Nicole Geßler zu tun gehabt haben könnte und Ihr Vater das Ganze womöglich wissentlich vertuscht hat?«

Dorotheas Atemfrequenz steigerte sich, und ihr Oberkörper geriet ins Wippen. Dann sagte sie abrupt: »Nein. Nein, das glaube ich nicht.«

Hellmer griff nach ihr, doch sie zuckte zurück.

»Wir möchten Ihrem Vater nichts unterstellen. Es hat, genau betrachtet, sogar nicht mal mehr eine strafrechtliche Relevanz. Beide Männer sind tot. Aber für uns ist es sehr, sehr wichtig, eine Antwort auf diese Frage zu finden.«

»Dann müssen Sie anderswo suchen.«

»Das werden wir. Aber dann gibt es nun mal leider diese zweite Frauenleiche.«

»Im Kofferraum?« Frau Bahl schnaubte. »Das war doch ein Doppelmord! Sie war bereits tot, als der Jaguar in den Rhein gefahren wurde!«

»Was Ihren Bruder nicht zwangsläufig entlastet. Vielleicht hat er sie ja selbst getötet, bevor er das Auto versenkt hat.«

»So ein Blödsinn! Dennis Schäfer ist damals doch überführt und verurteilt worden.«

Julia Durant musste sich zusammennehmen, um ihre Zufriedenheit nicht zur Schau zu stellen. Es war höchst interessant, Bahls Schwester dabei zu beobachten, wie sie über die alten Geschichten sprach. Wie sie zu all diesen Dingen stand. Und auf wessen Seite sie sich schlug.

»Ich weiß, dass Sie damals etwas in diese Richtung ausgesagt haben. Können Sie sich noch genau daran erinnern, was das war?«

Bahl verdrehte die Augen. »Das ist eine Ewigkeit her.«

»Immerhin geht es um den Tod Ihres Bruders.«

»Na gut. Caspar war damals angespannt. Ich meine, mehr, als er es sonst war. Er war immer auf der Hut. Hatte neben der Galerie auch seine eigenen Geschäfte, die er an unserem Vater vorbei führte. Also habe ich mir zuerst keine großen Gedanken gemacht. Dann aber hat er mir erzählt, dass er sich mit diesem Schäfer verkracht habe. Ziemlich heftig. Es ging um Manuela, seine damalige Freundin. Er hat gesagt, dass Schäfer ihn bedroht hätte und dass er Schlimmes ahnen würde. Das war alles.« Sie schluckte. »Da habe ich ihn zum vorletzten Mal gesehen.«

»Zum vorletzten Mal?«

»Unser Gespräch wurde unterbrochen. Eine halbe Stunde später bin ich ihm dann auf der Treppe begegnet. Er hatte den Wagenschlüssel in der Hand. Hatte es eilig, ging direkt zum Jaguar und … verschwand.«

Julia Durant nickte langsam und machte sich Notizen. »Danke. Sie haben also gewusst, dass Ihr Bruder keine ganz saubere Weste hatte. Die Nebengeschäfte, sein Umgang mit diesem Schäfer … Könnte da nicht vielleicht noch mehr gewesen sein?«

»Was denn zum Beispiel?«

»Ein gewisser Hang zur Gewalt, den man mit dem Verlust der Mutter oder einem dominanten Vater ja durchaus erklären könnte.«

Frau Bahl lachte kehlig. »Nicht jeder, der einen strengen Vater hat, bringt als Erwachsener gleich Frauen um, oder?«

»Nicht jeder, nein.« Die Kommissarin begann, mit den Zeigefingern zu spielen, und fragte wie beiläufig: »Wer kümmert sich denn heute um das Kunst-Business Ihres Vaters? Als Alleinerbin müssten das Sie sein, oder?«

In der Stimme ihres Gegenübers lag nun eine ganze Eiszeit. »In der Tat. Und neben dem Geschäft habe ich unsere Anwälte mit übernommen.« Damit schnellte sie nach oben. »Wenn ich Sie also bitten darf, jetzt zu gehen. Ich denke, wir haben alles geklärt. Alles andere …«

Und anstatt den Satz zu beenden, zauberte sie eine Visitenkarte hervor.

Julia Durant presste die Zahnreihen aufeinander. Normalerweise war sie es, die ihre Karte weiterreichte. Falls es noch etwas gebe. Stattdessen zeigte Frau Bahl ihr nun das wahre Gesicht der Familie Bahl. Ein Gesicht von Geld, Macht und Unantastbarkeit. Ein Gesicht, eine Maske, die der Kommissarin in all ihren Jahren immer wieder begegnet war. Es war die Arroganz der Oberen, eine Maske, hinter der sich nicht selten die grauenhaftesten Fratzen verbargen. All das, worauf sie nach außen hin pikiert herabschauten – das Treiben der Unteren, das Sodom und Gomorrha aus Neid, Wollust, Trägheit oder Zorn –, zelebrierten sie selbst, sobald sie unter sich weilten. Hinter den teuren Fassaden, geschützt vor dem Pöbel. Sie glaubten, über den Dingen zu stehen, so wie ihre Villen und Glaspaläste sich über den Vierteln der anderen erhoben. Über der Obrigkeit.

Lange nachdem sie ins Freie getreten war, spürte Durant ihre Nägel, die sich tief ins Fleisch ihrer Hände gruben. Sie öffnete die Fäuste und schüttelte die Finger. Dann deutete sie auf den Land Rover. »Darf ich fahren?«

Hellmer wippte mit dem Kopf. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«

12 :20 Uhr

Er zog den Vorhang ein Stück beiseite. Ganz behutsam, nur so weit, dass er den Zufahrtsbereich des Hauses beobachten konnte. Den dunklen Range Rover hatte er noch nie hier gesehen, aber was bedeutete das schon? Er wusste so vieles nicht, und es interessierte ihn auch nicht. In den unzähligen Winkeln der Villa, die zur Zeit des letzten deutschen Kaisers erbaut worden war und mit sehr hohen Räumen und einer übertriebenen Anzahl verschiedenförmiger Fenster ausgestattet war, hausten nicht wenige Geheimnisse.

In den Zwanzigerjahren hatte man hier obskure Treffen abgehalten: Okkultismus, Rituale, und das alles unter einem Unheil verkündenden Mantel völkischer Ideologien. In der Nazizeit waren hier namhafte Parteigrößen ein und aus gegangen. Allen voran Hermann Göring, der gerne im Taunus jagte und entsprechende Liegenschaften unterhielt. Nach dem Krieg hatten die Amerikaner hier Einzug gehalten. Hatten nach Geheimräumen gesucht, in denen sie Beutekunst vermuteten. Hatten Wände aufgerissen und um das Gebäude herum gegraben. Am Ende war vom preußischen Glanz und Gloria nicht mehr viel übrig gewesen, ebenso wenig von den Kronleuchtern, den Wandteppichen oder dem Mobiliar.

Seine wahren Geheimnisse allerdings hatte das Haus nicht preisgegeben.

Er lauschte, wie die beiden Autotüren zugeworfen wurden. Der Motor startete, und die Reifen des schweren Fahrzeugs setzten sich in Bewegung. Der feine Basaltsand knirschte, während der Fahrer das Lenkrad einschlug und wendete. Dann wurde das Brummen stärker, er glaubte, ein leichtes Vibrieren im Glas zu spüren, dann fuhren die beiden davon.

Er überlegte, was er als Nächstes tun wollte. Natürlich war er neugierig, das musste er sich eingestehen, worüber die beiden Fremden mit der Dame des Hauses gesprochen hatten. Ob es ihn betraf und, wenn ja, wie sehr.

Doch er wusste, dass er behutsam vorgehen musste.

Allein.

Er ließ den Vorhang los. Sofort verdunkelte sich der Raum um eine Nuance. Wie zufällig tastete er seine Hosentaschen ab. Ein Reflex. Schlüssel links, Messer rechts.

Dann schlich er auf den Kamin zu. Sorgfältig darauf bedacht, keine Geräusche auf dem alten Parkett zu verursachen. Ein gigantischer Wollteppich, der sich fast über den gesamten Fußboden erstreckte, erleichterte dieses Vorhaben. Er erreichte das niedrige Gitter, das die Feuerstelle vom Raum trennte. Stieg darüber, leicht geduckt, bis er den Kopf im Rauchfang ausstrecken konnte. Fand das für Unwissende nicht sichtbare Loch, in das er den speziellen Schlüssel führen konnte. Mehr eine Nadel, an deren Ende sich ein filigranes Muster befand.

Es klickte im Gemäuer, und mit einem beherzten Stoß versetzte er einen Teil der Steinwand in Bewegung. Dahinter ein Raum, vermutlich der einzige des Anwesens, in dem sich kein Fenster befand. Lächelnd trat er ein und verschloss die Öffnung wieder.

Wie viele Menschen auf dieser Welt gab es wohl, die von der Existenz dieses Bereichs wussten? Es brauchte weniger als eine Hand, um sie an den Fingern abzuzählen. Und selbst diese Mitwisser waren längst von der Geschichte verschluckt worden.

Außer vielleicht …

Er schüttelte den Kopf, um den aufkeimenden Zweifel zu vertreiben. Nein!

Niemand würde ihm jemals wieder zur Gefahr werden. Das wusste er zu verhindern.

Egal, um welchen Preis.

12 :40 Uhr

Die Braubachstraße ging nahtlos in die Seckbacher Landstraße über. Während man zuvor nur gegen die Fahrtrichtung parken konnte, taten sich die wenigen Buchten nun auf der anderen Seite auf. Frank Hellmer bereute es vermutlich spätestens jetzt, dass er ihr den Wagenschlüssel überlassen hatte. Julia Durant bereute es selbst. Die Lücke zwischen einem alten Ford Fiesta und einem nagelneuen Mercedes erschien ihr viel zu klein. Die andere Option war es, einen ewigen Bogen um den Paulsplatz zu drehen. Oder sich mitten auf den Gehweg zu stellen, so wie früher, mit einem Zettel hinter der Scheibe, auf dem man den Wagen der Kriminalpolizei im Einsatz zuordnete.

»Denk nicht mal dran«, brummte Hellmer, der in ihren Kopf zu blicken schien.

Also kurbelte sie die leichtgängige Servolenkung hin und her, während er sie mit ein paar Anweisungen unterstützte. Als die beiden ausgestiegen waren, stellten sie lachend fest, dass der Abstand zu der alten Scherbel und der Nobelkarosse großzügig bemessen war.

»Du brauchst dringend wieder ein Auto«, scherzte Frank. »Sonst verlernst du ja alles.«

Sie knuffte ihn in die Seite.

Sie folgten der Straße zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Vorbei an schmalen Häusern mit wenigen Etagen, rotem Sandstein oder fleckigem Verputz. Die Erdgeschossfenster so hoch, dass sie manchmal die Hälfte der Haushöhe einnahmen. Ausladende Bogen, Ziergitter, Metallbeschläge. Hier und da ein schmaler Durchgang mit unebenen Pflastersteinen. Immer wieder stachen Säulen oder Skulpturen aus renovierten Bereichen hervor, die wie Überbleibsel aus den vergangenen Jahrhunderten wirkten. Vielleicht waren sie es. Julia Durant wusste, dass der Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs nur wenige Häuser verschont hatte. Seit die sogenannte neue Altstadt nach altem Vorbild wiederaufgebaut und restauriert worden war, fiel die Unterscheidung zwischen altmodisch und wirklich alt umso schwerer.

Über dem Kunsthaus Bahl prangten die vier Buchstaben des Familiennamens in Jugendstil-Lettern aus Messing. Sicherlich erst nach dem Krieg dort angebracht, aber sie fügten sich gut ins Gesamtbild. Zwei Schaufenster in einem Rahmen aus rotem und gelbem Sandstein, in der Mitte eine vergitterte Flügeltür. Das Design der Metallstäbe, die einmal dunkelgrün lackiert worden waren, sowie der Griff aus Messing waren ebenfalls Jugendstil. Vielleicht auch Art déco. Weder Hellmer noch Durant waren versiert genug, um das eindeutig zu sagen.

Ein Glockenspiel ertönte, als sich der Türflügel auftat. Es fühlte sich an, als träten sie durch ein Portal in eine andere Zeit.

Doch die Wände im Inneren waren schlicht, beinahe nüchtern. Außer einer Bronzestatue auf einem Sockel, die irgendwie an eine Vogeltränke erinnerte – eine nackte Frau mit einer Schale –, gab es nur zwei weiße Stellwände, auf denen sich abstrakte Motive für die Schaufensterbesucher befanden. Der hintere Bereich des Ladens verbarg sich hinter einer dritten, zurückgesetzten Stellwand. Von dort näherten sich gemächliche Schritte.

»Guten Tag.«

Ein schmaler, hochgewachsener Mann mit tief liegenden Augen und fliehendem Kinn erschien. Auf seiner Nase, die so makellos war, als wäre sie von einem Bildhauer kreiert worden, saß ein goldenes Brillengestell. Kein Jugendstil aus dem neunzehnten Jahrhundert, vielmehr Lacoste aus den Neunzigerjahren.

Durant und Hellmer stellten sich vor. Der Mann, Karel Muth, wie er ihnen sagte, nahm den Besuch der Kriminalpolizei stoisch hin. Kein Nachfragen, wobei die beiden den Begriff Mordkommission auch außen vor gelassen hatten. Damit überrumpelte man seine Gesprächspartner besser nur, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ.

Frank Hellmer, der nicht zum ersten Mal in einer Kunstgalerie stand, nickte langsam. »Viel Laufkundschaft haben Sie hier nicht, nehme ich an.«

Muth zog die Lippen zusammen. »Die meisten unserer Kunden betreuen wir persönlich.«

Angesichts der leichten Überheblichkeit seiner Worte zeichnete sich bei Durant sofort ein Bild ab. Reiche Säcke, denen es gleichgültig war, wie viel Geld sie für ein Gemälde ausgaben. Hauptsache, man konnte sich damit vor anderen brüsten.

»Diese Galerie hat hauptsächlich einen ideellen Wert für die Familie. Mal abgesehen davon, dass es eine recht gute Lage ist, sind die Umsätze relativ überschaubar. Für den alten Bahl aber liegt hier der Grundstein seines Erfolgs. Deshalb hat er es auch so bestimmt.«

»Was bestimmt?«

»Die Immobilie darf nicht verkauft werden.«

Durant und Hellmer wechselten einen Blick.

Dann sagte Hellmer: »Na ja, aber das ist doch sehr dehnbar. Was wäre denn, wenn zum Beispiel das Geschäft nicht mehr läuft. Irgendwann muss man dann doch …«

Muth kicherte heiser. »Das hat er alles bis ins Kleinste durchdacht.« Er neigte den Kopf. »Aber wollen Sie mir nicht erst einmal verraten, weshalb Sie hier sind?«

Durant lächelte unverbindlich. »Haben Sie denn eine Idee?«

Tatsächlich hatten sie den Schlenker hierher recht spontan gemacht. Einfach nur, um ein Bild davon zu bekommen, wie der Kunsthandel Bahl aussah.

Karel Muth schob seine Brille hoch, und seine Miene versteinerte sich. »Bitte, keine Ratespiele. Auch wenn es auf Sie nicht den Anschein erwecken mag: Ich habe viel zu tun.«

»Wir sind von der Mordkommission«, gab Hellmer preis.

»Oh.« Muth wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und wirkte fast erleichtert.

Durant sah ihn aufmerksam an. »Die meisten sind entsetzt, wenn wir das sagen. Sie offenbar nicht.«

»Ich habe ja niemanden umgebracht. Und um ehrlich zu sein, wären mir die Kollegen aus einer anderen Abteilung unangenehmer. Wir haben nicht selten Scherereien mit dem Zoll, mit dem Betrugsdezernat. Oder dieses leidige Thema mit den Kunstdiebstählen im Dritten Reich. Seit es das Internet gibt, meint jeder, dass da etwas abzustauben ist. Auf jeder Auktion, bei jedem Gemälde, das zum ersten Mal online in den Verkauf geht.« Er stöhnte auf und verdrehte die Augen. »Aber gut. Mordkommission. Geht es etwa wieder um Dave? Ist der Fall nicht längst abgeschlossen?«

Hellmer stockte. »Dave«, wiederholte er gedehnt, und Muth lachte auf. »Caspar David. Rufname Dave. Ich hab’s mir nie abgewöhnt, auch wenn wir hier in der Galerie natürlich die richtige Anrede verwendet haben.«

»Ja, ich erinnere mich jetzt. Es wäre uns dennoch lieb, wenn wir auch heute beim richtigen Namen bleiben könnten.«

»Ich versuche es.«

»Danke. Caspar Bahl war demnach Ihr Kollege oder Ihr Chef?«

»M-hm.«

»Und Sie haben vorher schon für Bahl senior gearbeitet?«

Muth kicherte erneut. »Kann man so sagen. Wir kennen uns schon ziemlich lange.«

»Aber Sie mochten ihn nicht sonderlich«, merkte Durant an.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie haben ihn als ›der Alte‹ bezeichnet. Zweimal.«

Muth zögerte. »Man soll nicht schlecht über Tote reden …«

Als er nicht weitersprach, bohrte Durant nach: »Aber?«

»Na ja. Er war ein großer Kunstkenner, der größte, wenn ich’s recht bedenke. Alle wichtigen Leute in der Stadt sahen in ihm einen Mäzen, dabei war er immer zuerst auf den eigenen Vorteil bedacht. Es ist eine Gabe, wenn man beides gleichzeitig erreichen kann. Raffgierig und rücksichtslos auf der einen Seite, aber im richtigen Moment den großen Gönner geben. Ich gönn’s ihm, denn ohne diese Eigenschaften wäre er nicht so weit gekommen. Aber wie er mit seinen Kindern umgegangen ist, das war nicht okay.«

»Was meinen Sie damit?«

»Dave wollte ins Ausland gehen. Verzeihung: Caspar. Ich kenne die beiden Geschwister von klein auf. Einmal um die ganze Welt, das war sein großer Traum. Aber dafür war in den Plänen seines Vaters kein Platz. Abitur, Studium, alles war vorbestimmt. Und hätte er rebelliert, wäre der Geldhahn zugedreht worden. Außerdem«, Muths Stimme wurde leiser, »war da ja noch die Sache mit ihrer Mutter. Wenn sie nicht so früh gestorben wäre, hätten die Kinder den Absprung vielleicht eher gewagt.«

»Frau Bahl senior war also anders gestrickt als ihr Mann?«

Muth zog die Lippen zusammen. »Nach allem, was man so hörte … ja. Sie hatte sicherlich auch ihre Macken, aber sie hätte ihren Kindern nicht derart die Träume geraubt, wie der Alte es getan hat.«

Julia Durant dachte nach. War das nicht ein Jammern auf recht hohem Niveau? »Caspar Bahl hätte seine Weltreise doch sicher nachholen können«, sagte sie, auch, wenn es ihr dabei gar nicht wirklich um diese Reise ging. Aber konnte man in diesem Zusammenhang wirklich von geraubten Träumen sprechen?

»Es geht ja nicht nur um D… Caspar.« Muth überlegte kurz. Er war erstaunlich redselig, aber vielleicht genoss er die Abwechslung, die seinen einsamen Alltag in der Galerie durchbrach.

»Seine Schwester auch?«, fragte die Kommissarin, und Muth nickte.

»Kennen Sie Doro?«

»Wir kommen von ihr«, antwortete Hellmer.

»Okay. Es ist wohl kein Geheimnis, wenn ich das jetzt sage, aber haben Sie auch ihren Ehemann gesehen?«

Durants Stirn kräuselte sich. »Von einem Ehemann wissen wir nichts.« Sie überlegte weiter. »Außerdem heißt sie doch immer noch Bahl …« Sie unterbrach sich selbst. Das allein hatte noch nichts zu bedeuten. Auch Durant hatte ihren Mädchennamen behalten, als sie geheiratet hatte. Und das war zu ihrer Zeit in München noch ein echtes Sakrileg gewesen. Heutzutage …

Da war es wieder. Das heisere Kichern von Karel Muth. Dann sagte er: »Es gibt keinen. Aber Doros Lebensaufgabe besteht darin, einen zu finden.«

»Klingt mir nach Mittelalter«, schnaubte Durant.

»Das war nun mal Teil der Abmachung. Auch hier hat der alte Bahl nichts dem Zufall überlassen. Als sein Sohn für tot erklärt worden war, lag es an Doro, die Familiendynastie zu bewahren. Doch er bestimmte, dass sie ihr volles Erbe nur bekommen würde, wenn sie heiraten würde. Denn niemand sonst konnte noch einen Erben produzieren. Bahl hat das sehr deutlich gemacht: Trauschein gegen Geld – und zwar gegen eine ganze Menge davon. Die erste Fassung seines Testaments beinhaltete sogar noch einen männlichen Nachfahren. Aber so etwas lässt sich ja schlecht erzwingen.«

Julia Durant spürte, wie Wut in ihr aufstieg. »Das hätte mal einer mit mir machen sollen«, knurrte sie, lauter, als ihr lieb war.

Hellmer übernahm. »Das wäre doch auch sicher anfechtbar gewesen. Warum wissen Sie das eigentlich so genau?«

»Ich sagte doch. Ich bin ein alter Freund der Familie. Kenne mich auch in der Rechtswissenschaft aus, von daher war ich in solche Dinge einbezogen. Gottlieb Bahl hatte nicht viele Vertraute, aber ich denke, ich darf mich als solchen bezeichnen. Aber wie gesagt: Ich fühle mich beiden Geschwistern sehr verbunden. Also Doro …« Er schluckte. »Mehr gibt es ja leider nicht mehr.«

»Gottlieb«, wiederholte Hellmer, mehr zu sich selbst. Dann, wieder lauter, zu Karel Muth: »Hieß der Vater von Caspar David Friedrich nicht auch so?«

Muth lachte auf. »Keine Ahnung. Ich habe ihn nicht gekannt.« Sofort hob er die Hand. »Verzeihung. Aber Sie haben natürlich recht. Respekt, das wissen nur die wenigsten.«

»Hintergrundrecherche ist unser Job«, zwinkerte der Kommissar. »Bahl senior hatte da so ein Ding, hm?«

Muth stöhnte auf und winkte ab. »Reden wir nicht davon. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre Caspar ein weltberühmter Maler geworden.«

»Und Dorothea?«, fragte Durant.

Muth zuckte mit den Schultern.

»War Caspar denn ein, hmm, guter Mensch?« Durant stellte die Frage absichtlich etwas vage. »Wir haben da ja so manches gehört.«

Muth zog die Nase hoch. »Ich will nicht schlecht über ihn reden«, sagte er zögerlich, »aber es wäre wohl besser gewesen, wenn er seine Weltreise gemacht hätte. Für alle von uns.«

»Sie haben es doch nicht schlecht getroffen«, sagte Hellmer mit einem spitzen Unterton. »Und Dorothea auch nicht.«

Karel Muths Wangen röteten sich. »Was soll das denn heißen? Ich hätte auch so einen gut bezahlten Job. Und das mit Doro ist ja wohl nicht Ihr Ernst?«

»Wieso denn nicht?«, fragte Hellmer weiter. »Sie ist immerhin die Alleinerbin.«

»Habe ich das nicht gesagt?« Muth kratzte sich nervös am Ohr. »Ich dachte, Sie wüssten das schon. Doro kann nicht heiraten …«

»Warum denn das nicht?«

»Keinen Mann zumindest! Sie ist nämlich lesbisch.«

13 :20 Uhr

Da Claus Hochgräbe nicht im Präsidium war, hatten die beiden Kommissare sich für ein Mittagessen in der Stadt entschieden. Sie wählten einen Italiener in der Nähe der Paulskirche, Frank Hellmer bestellte sich eine Pizza Hawaii, und Julia Durant wählte eine Combinazione.

Beide mussten schmunzeln, denn über die Belagskombination der Pizza wurde viel und gerne gestritten, während das Nudelgericht gerne als Resteverwertung verschrien wurde. Beides kam schnell, der Pizzateig sah aus wie gemalt, und der angeröstete Käse auf dem Auflauf roch wunderbar. Während Hellmer seine ersten Bissen nahm, stocherte Durant noch in den heißen Nudeln herum und nahm einen Schluck aus ihrem Colaglas.

»Findest du nicht auch, dass dieser Typ ziemlich offen war? Zu offen?«

»Schon«, schmatzte ihr Gegenüber, kaute noch einmal und schluckte den Bissen hinunter. »Aber als Vertrauter der Familie …«

»Als Freund«, betonte sie. »Er hat sich als alten Freund bezeichnet. Würden echte Freunde tatsächlich so über jemanden reden?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, da interpretierst du zu viel rein. Bis auf Dorothea sind alle tot. Caspar Bahl sogar schon seit zwanzig Jahren. Da darf man, finde ich, auch mal Klartext reden. Niemand von uns ist ein perfekter Mensch«, ein Schatten huschte über sein Gesicht, »und direkt nach dem Ableben wird das sicher keiner so sagen. Da erinnert man sich nur an das Gute. Aber nach und nach treten auch die anderen Dinge wieder in den Vordergrund. Bahl hatte offenbar kein gutes Händchen mit den Frauen, das war kein Geheimnis. Und im Grunde hat Muth ja auch nicht mehr dazu gesagt.«

Doch Julia Durant hatte etwas völlig anderes im Sinn. »Und was ist mit der Schwester? Posaunt man so was einfach aus?«

Frank Hellmer grinste und nahm einen erneuten Bissen. Mit vollem Mund sagte er: »Ist doch schön für sie. Keinen Ärger mit Männern.«

»Mal ernsthaft, Frank. Das könnte in einer solchen Familie ein heikles Thema gewesen sein. Und in der dazugehörigen Gesellschaft. Gottlieb Bahl hat seine Meinung dazu ja sehr deutlich gemacht.«

Offenbar dachte ihr Partner auch hier ganz anders. »Wo ist denn das Problem? Noch mal: Es sind alle tot. Und wir leben nicht hinterm Mond. Heutzutage kann man so was doch offen sagen, als Frau vielleicht noch eher als ein Mann.«

»Ich glaube nicht, dass es als Frau leichter ist«, sagte Julia Durant. »Und es will mir auch nicht in den Kopf, dass der alte Bahl mit diesem Testament durchgekommen ist. Kann man seinen Kindern so etwas wirklich vorschreiben?«

»Wenn einer das konnte, dann er. Und selbst wenn er sie einfach enterbt hätte …«

»… dann hätte sie zumindest den Pflichtteil bekommen. Zehn Prozent, oder nicht? Bei der großen Torte würde man auch davon satt werden.«

Wie aufs Stichwort spießte sie sich eine Gabel vom Rand auf und probierte mit geschürzten Lippen. Es war immer noch sehr heiß, sie pustete und sagte: »Nein, das ist mir alles zu einfach betrachtet. Ich glaube, der alte Bahl hat davon gewusst und wollte sie mit diesem Testament gezielt unter Druck setzen. Das ist eine Generation Männer, die glauben wollen, dass man lesbische Frauen nur mit dem richtigen Kerl zusammenbringen muss, um sie«, sie setzte zwei Finger als Anführungszeichen, »zu heilen. Und Dorothea Bahl hat es nicht übers Herz gebracht, ihr Erbe auszuschlagen. Schon gar nicht, weil sie nach Caspars Tod ja nun alles zugesprochen bekommen würde.«

Sie schob sich den Bissen in den Mund und kaute. Es schmeckte hervorragend, wobei eine Prise mehr Salz nicht geschadet hätte.

*

Etwa zur gleichen Zeit steckte Karel Muth in der Kunstgalerie das Telefon zurück in seine Ladestation.

»Sie waren schon da?«

Die Frage hatte fast ungläubig geklungen, vielleicht sogar mit einer Prise Anerkennung versehen.

Er hatte das Ganze bejaht und einen Rapport über das Gespräch gegeben. Nicht wortwörtlich und sicher nicht in sämtlichen Punkten. Doch es herrschte hörbare Zufriedenheit am anderen Ende der Leitung.

»Danke. Dann ist der erste Schritt getan.«

»Es gibt also noch weitere Schritte?«

»Davon sollten wir ausgehen«, mahnte die Stimme. »Es kann durchaus passieren, dass die beiden noch mal aufkreuzen. Vielleicht sollten wir ihnen als Nächstes das Bild zeigen. Schade, dass sie noch nichts davon wissen.«

Karel Muth schnaubte. »Es hat sich nicht ergeben, tut mir leid. Ich konnte ja nicht einfach so aus heiterem Himmel …«

»Schon gut. Wie gesagt: Wir müssen wachsam bleiben. Im Zweifelsfall …«

Muth hörte nur mit halbem Ohr zu. Vor dem Schaufenster drückten sich ein paar Jugendliche die Nasen platt. Vermutlich amüsierten sie sich über die kindlich anmutende Darstellung einer Obstschale. Ein überteuertes Stillleben eines kaum populären Künstlers, welches auf Laien immer wieder ähnlich wirkte. Die Früchtekomposition aus Apfel, Orange und Banane sah auf den ersten Blick wie ein überdimensionaler Penis aus.

Im Zweifelsfall …

Er nahm das Brillengestell ab und massierte sich den Nasenrücken.

Im Zweifelsfall entschied das Schicksal sich immer für die, die am besten vorbereitet waren. Und wenn er eines gelernt hatte, dann, dass eine Familie Bahl immer vorbereitet war.

14 :15 Uhr

Doris Seidel wartete im Innenhof des Präsidiums, als Peter Kullmer den Ford Kuga mit einem eleganten Schwung auf den Parkplatz lenkte. Peter war eine Frohnatur. Das Vatersein hatte ihn tiefenentspannt, wie er gerne sagte. Vielleicht einer der großen Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Alte Väter hatten es offenbar leichter, sich auf die neuen Lebensumstände einzulassen, während ältere Mütter sich ständig zu rechtfertigen versuchten, weshalb sie nicht schon mit Anfang zwanzig Nachwuchs bekommen hatten. Aus dem herumstolzierenden Macho, der nichts anbrennen ließ, war ein Familienmensch geworden. Er und Elisa bildeten eine beneidenswerte Einheit, die Doris manchmal sogar ein wenig eifersüchtig machte. Doch im Grunde gab es nichts, worüber sie sich beschweren durfte. Elisa war ein unproblematisches Mädchen, schon immer gewesen, und wenn die Pubertät sie nicht völlig umkrempelte, musste man sich über ihren weiteren Weg kaum Sorgen machen. Schlimm war eigentlich nur, dass Doris immer öfter das Gefühl bekam, überhaupt nicht gebraucht zu werden. Vielleicht lag das auch nur an ihrer momentanen Krise, die durch das Gespräch mit Uwe Liebig kaum besser geworden war.

Das Schicksal von Mia Busold, so hieß die vergewaltigte Joggerin, ließ sich nicht einfach wegreden. Da half auch der Mensch gewordene Sonnenschein nichts, der ihr nun direkt gegenüberstand und zu einer innigen Umarmung ansetzte.

17 :20 Uhr

Nebel war aufgezogen, und der schwere Dunst legte sich über die Freiflächen der Stadt. Die Straßenlaternen und Autoscheinwerfer bildeten unzählige Lichtkegel, dazu mischten sich farbenfrohe Leuchtreklamen. Wäre nicht Feierabendverkehr und in den meisten Fahrzeugen eine angespannte Stimmung, hätte man es für eine gigantische Discoparty halten können. Draußen schmeckte die Luft nach Abgasen, nach Dieselmotoren, die noch nicht warm gelaufen waren, nur hier und da surrte ein Elektromobil.

All das störte ihn nicht weiter, er hatte schlimmere Tage erlebt in schlimmeren Städten. Er kannte jenen berüchtigten Smog, dem man am besten mit einer Atemschutzmaske oder einem dicht gewebten Schal begegnete. Dagegen war das hier harmlos. Seine Schritte führten ihn von der Taunusanlage in Richtung Hauptbahnhof. Ein klassischer Pendlerweg, er war nur einer von vielen. Mit hochgeklapptem Kragen trotzte er der Kälte, und er bedauerte, dass er die Hasenfellmütze nicht mehr hatte. Die meisten Hausfassaden stammten noch aus einer längst vergangenen Glanzzeit, dazwischen gab es Glasverkleidungen aus den Siebzigerjahren und allerlei Gebäudenamen und Logos, die über das hinwegtäuschen sollten, was dieses Viertel hier war: ein Slum. Ein von der Stadtregierung aufgegebener Schmelztiegel aus Drogen, Sünden und Gewalt. Hotelketten, die zwischen verrammeltem Leerstand ihr Geschäft betrieben. Prostitution in jedweder Form. Obdachlose, die vor mit Holzplatten verkleideten Gebäuden vor sich hin vegetierten. Manchmal verschaffte man sich Zugang. Manchmal räumte die Polizei die Szene. Aber es änderte sich nie. Der Kaiser, zu dessen Zeit das pompöse Bahnhofsgebäude eingeweiht worden war, würde sich im Grabe umdrehen. Ein Denkmal, welches die höchste künstlerische Kraft herausforderte, hatte es laut der damaligen Ausschreibung werden sollen. Würde man heute nur mit einer ähnlichen Haltung an die Sache herangehen. Doch auch das kannte er schlimmer. Und es war ihm ebenso gleichgültig wie die ganze Stadt. Er hatte Frankfurt am Main schon immer gehasst und verachtet. Die Menschen, die Atmosphäre. Sollte es doch vor die Hunde gehen, sollten die Stadt und ihre Menschen einen doppelten Tod sterben, es wäre ihm egal.

Nicht egal wiederum war ihm das Ziel, das er im Stechschritt nun erreichte. Er läutete an der Tür. Eine auf alt getrimmte Sicherheitstür, breitflügelig, schwarz lackiert, aber von oben bis unten mit Schmierereien und Aufklebern versehen. Teilweise abgerissen, teilweise übersprüht. Genau das Bild, über das er sinniert hatte. Doch sobald er den Eingang hinter sich gelassen hatte, befand er sich in einer anderen Welt. Er nahm die schmale Treppe nach oben. Zwei Etagen. Machte sich bereit, an eine der Türen zu klopfen, doch sie schwang auf, bevor seine Knöchel das Holz erreichten. Hier war alles sauber, hier war alles still. Gedämpfte Geräusche, leise Musik, irgendwo war vor Kurzem ein Räucherstäbchen abgebrannt worden. Kein Diesel, kein Lärm, keine Junkies.

Die beiden begrüßten einander mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Sie wussten nicht viel voneinander, denn sie redeten nur über Belanglosigkeiten. Wenn er kam, musste er vorher anrufen. Normalerweise hätte sie auf einem Foto bestanden, aber er hatte ihr versichert, kein Smartphone zu besitzen. Er hatte ihr versprochen – ihr garantiert –, dass er kein Perverser sei, kein hässliches Monster und kein ungepflegter Versagertyp, den eine Frau nicht einmal mit der Beißzange anfassen würde. Wie viele Prinzipien sie gebrochen hatte, um ihn nicht abzuweisen, wusste er nicht. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, ob da im Hintergrund jemand war, der diese Entscheidungen für sie traf. Natürlich war sie nichts anderes als eine Hure, auch wenn sie ihre Freier nicht auf der Straße anlockte oder sich mit katzenhaften Bewegungen im Eingangsbereich einer der Bars in der Elbe- oder Taunusstraße rekelte und Passanten zu einem gemeinsamen Champagner einlud.

Über solche Dinge wollte er nicht reden. Er wollte das Gefühl haben, dass man sich wertschätzte, vielleicht sogar ein wenig mochte. Sympathie. Nichts weiter. Und guten Sex, bei dem er am Ende oben lag und nach dem Orgasmus der Frau selbst zu einem Abschluss kam. Der Orgasmus sollte echt sein, er war bereit, sich entsprechend einzubringen. Mit Straßennutten, die kaum einen Satz deutsch sprachen, konnte er solcherlei Dinge nicht verhandeln. In ein klassisches Laufhaus zu gehen, schied ebenso aus. Er wollte vergessen, wo er war und was er tat. Es hatte eine Weile gedauert, bis er sie gefunden hatte.

Diana lächelte ihn an. Sie trug das Negligé, von dem sie wusste, dass es ihn antörnte. Schwarz, aber durchsichtig, der Saum reichte bis zu den Knöcheln. Spitzenbesatz über den Brüsten, die auch ohne BH ihre Form hielten. Dünne Träger, von denen er ihr bald den ersten über die Schulter zog. Er durfte sie küssen und auch lecken, das hatten sie bei ihrem ersten Treffen verhandelt, bei dem es nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen war.

»Wenn ich bei dir bin, dann will ich dich ganz«, hatte er gesagt. »Ich möchte nach Hause kommen, als wohnte ich hier, möchte all das tun, was wir besprochen haben, ohne dass wir darüber reden müssen, und werde dir für heute den vollen Preis bezahlen, ohne etwas davon in Anspruch zu nehmen. Wenn ich das nächste Mal komme, komme ich als Liebhaber und nicht als Freier. Und dein Geld erhältst du hinterher trotzdem.«

In ihren Augen hatten leichte Bedenken gelegen, das konnte sie nicht ganz verbergen. Aber in ihrer Miene war auch Zustimmung zu lesen gewesen. Offenbar schätzte sie klare Absprachen. Nichts musste schlimmer sein als ein Freier, der sich seine plötzlichen Sonderwünsche nicht leisten konnte oder wollte. Also ließ sie sich auf alles ein, und seither hatten sie sich zweimal getroffen. Beide Male war alles so verlaufen wie abgesprochen, und auch heute fühlte er sein Blut in Wallung. Es hatte sich einiges gestaut in ihm. Stress, Anspannung, höchste Zeit für einen Befreiungsschlag.

Lag es an ihm, dass sie heute anders reagierte? War er nicht zärtlich genug, oder lag es daran, dass er wusste, es war alles nur eine Show, für die er Eintritt bezahlt hatte?

Sie jauchzte spitz, als er mit der Zungenspitze in die richtige Hemisphäre vordrang. Mit zwei Fingern bearbeitete er sie gleichzeitig von innen. Doch es klang wie ein schlecht gemachter Porno. Beim zweiten Jauchzer zog er sich abrupt zurück.

»Was soll das?«, fragte er.

»Mach weiter«, stöhnte sie. »Ich komme gleich.«

Ihre Hand reckte sich nach seinem Kopf, doch er schlug sie weg. Richtete sie auf und blickte in ihre erschrockenen Augen.

»Was soll diese Scheiße?«

Sie begriff offenbar nicht. »Was ist denn los?« Ihre Arme drückten den Oberkörper so weit nach oben, dass sie sich auf die Ellbogen stützen konnte. Der Bettbezug raschelte, als sie Richtung Kopfteil rutschte. Ein nach Weichspüler riechender Stoff, auf dem schon wer weiß wie viele Freier abgefertigt worden waren. Ihre Stimme verfiel in ein kehliges Säuseln. »Hab ich was falsch gemacht, Darling? Na komm, mach weiter. Ich war kurz davor.«

»Kurz vor was?« Seine Augen blitzten sie an. Er kniete an der unteren Bettkante und kam sich mit einem Mal lächerlich vor. Er auf den Knien, sie über ihm. So sollte es nicht sein. So gehörte es sich nicht! Also stemmte auch er sich nach oben und schnaubte. »Kurz davor, dein Geld verdient zu haben? Dein billiges Schauspiel teuer bezahlt zu bekommen?«

Sie reagierte weinerlich. »Darling, bitte. Ich war wirklich kurz davor. Du bist so anders, du hast es echt drauf. Wollen wir nicht weitermachen? Einfach so?«

Meinte sie »einfach so« etwa ohne Bezahlung? Wie devot. Aber er war so voller Wut, dass er durch nichts mehr zu beruhigen war. Da war es wieder. Dieses überbordende Gefühl in seinem Inneren, das Brennen, das Brodeln, gegen das er nicht ankam.

Mit schnellen Bewegungen war er über ihr. Sie konnte nicht einmal mehr schreien. Während seine Knie sich um ihren Oberkörper schlossen und er ihre Brüste unter den Lenden spürte, packten seine Hände ihr Gesicht. Ihr Schrei erstickte an seinen Daumen, die sich in den aufgerissenen Mund schoben und ihre Zunge brutal nach hinten drückten. Unter einem würgenden Husten schlug er ihren Hinterkopf auf den Holzrahmen des Betts. Kein hochwertiges Material, aber hart und mit einer scharfen Kante. Schon beim ersten Schlag erkannte er in ihrem Blick, dass sie aufgab. Der zweite Schlag hinterließ einen blutigen Abdruck. Haare klebten daran.

Er hielt inne. So heftig hatte er bisher noch nie reagiert. Ihr Atem war kaum noch zu hören, doch ihre Augen waren noch lebendig. Halb offen, unnatürlich verdreht, aber mit einem trotzigen Glanz, der nicht verlöschen wollte.

»Glaub mir«, keuchte er, »ich mache weiter. Und zwar so lange, bis es zum Ende kommt.«

Wir beide.