Samstag

Samstag, 22 . Februar

D ie Enge war beklemmend.

Endlose Gänge, in die selbst bei geöffneten Türen kaum Licht hereinfiel. Die Wände nackt, nur hier und da von einem Wandaschenbecher verziert. Hallende Schritte, egal, wie behutsam man sich bewegte. Meistens hastete man nur durch. Ins nächste Zimmer, zur nächsten Besprechung. Die Akten quollen über, man stand einander auf den Füßen, und obgleich man sich in dem weitläufigen Komplex verirren konnte, raubte die Enge einem den Atem. Höchste Zeit für eine Veränderung.

Immer wenn sie sich fragte, warum sie sich das antat, fand sie die Antwort in ebendieser Atmosphäre. Und während andere ihre Entspannung in der Sauna im Keller suchten, wo sie dann schwitzend und in stickigem Dampf auf engstem Raum zusammenhockten, suchte sie die Einsamkeit. Die Höhe. Den achtkantigen Turm, der wie ein Leuchtfeuer über den Schieferplatten des Daches thronte. Längst überragt durch die benachbarten Hochhäuser, war er noch immer ein besonderer Ort. Ein Ort mit Geschichte. Er hatte den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs gesehen. Gespürt. Wie die ganze Stadt gebrannt und geblutet hatte. Um hierher zu gelangen, musste sie bis unters Dachgebälk steigen und einen beschwerlichen Weg über hölzerne Trittstufen nehmen, die über dick isolierte Rohrleitungen führten. Dafür hatte sie hier die Garantie, mutterseelenallein zu sein. Anders als im Büro, anders als im Innenhof. Höchstens dem alten Hausmeister konnte man hier oben begegnen, aber der ließ sie in Ruhe. Ein harmloser Mann in den Sechzigern mit einem Faible für alte Schusswaffen, die er in seiner Wohnung gehortet hatte, bis man ihm auf die Schliche gekommen war. Er hatte sie abgeben müssen. In diesem Gebäude konnte man so etwas nicht durchgehen lassen. Zwei seiner edelsten Stücke waren aber, wie sie wusste, nicht in die Asservatenkammer gewandert. Doch das war eine andere Geschichte.

Eine eng gewendelte Eisentreppe mit dünnem Geländer brachte sie nach oben in den verglasten Bereich, auf dem ein flaches Dach ruhte. Die Tür führte in Richtung Hauptbahnhof auf einen rundum verlaufenden Balkon. Das Geländer hatte etwas mehr Substanz, dazu schmucke, geschmiedete Konturen, aber für Menschen mit Höhenangst war es bei Weitem zu niedrig. Meistens schritt sie nach rechts, weil sie auf der anderen Seite das Gefühl hatte, jemand aus den unzähligen Büros der Bankentürme würde sie beobachten. Stattdessen blickte sie über die Schornsteine und Dächer, den gelben Putz und die hohen Fenster der anliegenden Gebäude. Die Häuserreihen der Ludwigstraße und die blau-rote Fassadenwerbung am Firmensitz des Stadtmagazins Journal Frankfurt.

Dazu passend die Farbe ihres Zigarettenpäckchens. Von den zwanzig Gauloises waren noch drei übrig. Zwei davon rauchte sie hintereinander weg, die Kippen trat sie auf dem Boden des Balkons aus. Danach stand sie noch minutenlang auf ihrem Leuchtturm und lauschte den Geräuschen der Stadt, die sich hier oben wie in weiter Ferne anhörten. In Momenten wie diesen waren Enge und Beklemmungen vergessen. So lange, bis der schwarze Abgrund sie wieder verschluckte. Bis die Metallstufen wie Zähne nach ihr schnappten und sie in die Tiefe zogen. Weit weg von dem Leuchtfeuer, bis die dunklen Fluten sie vollständig bedeckt hatten.

Schweißgebadet schreckte Julia Durant auf. Ihre Hand an der Brust, nach Atem ringend. Panik. Dann hörte sie Claus’ Stimme, die im ersten Augenblick klang, als befände sie sich unter einer Glocke.

»Alles in Ordnung, Schatz.«

War es das?

Für einen Außenstehenden sagte sich das so leicht. Doch in ihrem Inneren konnte sie noch nicht unterscheiden, ob es sich um einen realen Herzinfarkt handelte oder wieder um einen falschen Alarm. Um eine Panikreaktion im vegetativen Nervensystem, welches auf Hochtouren arbeitete. Würde er im Ernstfall, wenn er jemals einträte, auch so reagieren?

Es ist alles gut.

Würde er es erkennen, wenn es so ernst war, dass er den Notarzt verständigen musste?

Julia Durant setzte sich auf die Bettkante und hob den Saum ihres Schlafshirts, um sich damit den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen.

Sie spürte Claus’ Nähe. Hörte, wie er an sie heranrutschte, und dann legte er ihr die Hand auf den Rücken und begann sie sanft zu streicheln. Er hatte seine Nachttischlampe angeschaltet, draußen war es noch dunkel.

Aber ob sie noch mal einschlafen würde?

Julia stand auf, ging ins Bad und leerte ihre Blase. Zog ein anderes Shirt an und drehte das verschwitzte Kissen und die Bettdecke auf die andere Seite. Gähnend signalisierte ihr Verlobter ihr, dass sie sich an ihn kuscheln sollte.

Ihr Fels in der Brandung. Jemand, auf den sie sich immer verlassen konnte, was auch immer passieren würde.

Sofort musste sie an Clara und Lynel denken. Sie wollte nicht eifersüchtig sein, aber konnte es auch nicht völlig abschalten. Doch Claus würde sich auch in dieser Phase seines Lebens nicht von ihr abwenden, und genauso brauchte auch er jemanden, auf den er sich stützen konnte.

In guten wie in schlechten Zeiten, dachte Julia, während sie in seinen Arm gekuschelt dalag und seinen Atem spürte. Bald schon verfiel Claus in ein regelmäßiges Schnaufen, eine leichte Vorstufe des Schnarchens. Sie hingegen lag noch lange wach. Musste an ihren Traum denken, an ihre Reise in die frühen Jahre in Frankfurt. Das alte Polizeipräsidium. Der Ort, von dem sie geträumt hatte. Die guten Erinnerungen, es gab sie, auch wenn es nicht viele waren. Gleichzeitig war es der Ort, wo sie mit Dennis Schäfer in dem stickigen Aufzug gesteckt hatte. Dem verurteilten Mörder von Bahl junior und dessen Freundin Manuela.

Warum hatte ihr Unterbewusstsein ausgerechnet diesen Film abgespielt? Schäfer war nicht darin vorgekommen, aber so war das mit Träumen nun mal. Sie sprachen nie in direkten Bildern, manchmal zerbrach man sich den ganzen Tag lang den Kopf darüber, worin die Botschaft bestand.

Dennis Schäfer. Die Vergangenheit. Caspar Bahl. Nicole Geßler.

Die Antworten lagen dort. In einer längst vergangenen Zeit. Das musste der Traum bedeutet haben. Sie musste intensiver graben, energischer forschen.

Wo war dieser Schäfer jetzt? Was hatte er nach seiner Haftentlassung gemacht? Und warum hatte sie das nicht längst in Erfahrung gebracht?

11 :25 Uhr

Julia Durant und Claus Hochgräbe hatten spät gefrühstückt. Es gab keine Eile, um ins Präsidium zu fahren. Unter normalen Umständen hätten sie das Wochenende freigehabt. Die Stimmung war düster. Nicht wegen des Traums oder der Panikattacke, die er ausgelöst hatte, auch wenn Julia die Nachwirkungen noch spürte. Clara hatte sich gemeldet, und die Ergebnisse waren verheerend. Ihre Lunge war von einem aggressiven Krebs befallen, dem man nicht alleine mit Chemotherapie begegnen konnte. Eine Operation war kompliziert und ebenfalls nur wenig Erfolg versprechend. Die Entscheidung darüber, welchen Therapieansatz man nun verfolgen wolle, stand noch aus.

»Ich begreife das nicht«, schimpfte Julia. »Warum bekommt man diese verdammte Krankheit nicht in den Griff? Warum musste meine Mutter daran krepieren, und ich selbst bin kerngesund? Ich habe nicht weniger geraucht als sie. Deine Tochter hat nie eine Zigarette angerührt. Und dann so was. Völlig willkürlich! Was hat die Forschung denn in den letzten dreißig Jahren zustande gebracht? Haben die alle gepennt?«

Claus biss ohne große Leidenschaft in sein Brötchen. Eine Scheibe Emmentaler auf Erdbeermarmelade, seine Lieblingskombination. Er wollte gerade etwas antworten, da meldete sich sein Telefon. Die Nummer gehörte zum Kriminaldauerdienst, was nur selten etwas Gutes verhieß. Er meldete sich, und trotz weniger Worte konnte Julia in seiner Miene ablesen, was sie als Nächstes erwartete.

Er fragte: »Und wo genau?«

Offenbar bot man ihm an, die Adresse per Nachricht zu schicken, denn er machte keine Anstalten, sich um einen Stift zu bemühen. Er nickte nur.

Julia Durant wusste, was das bedeutete. Es gab eine Leiche. Keinen alten Fall, keine ermüdende Ermittlung, die im Nichts enden würde, weil die wichtigsten Akteure längst tot waren. Jemand war im Hier und Jetzt gestorben. In ihrer Stadt, die sie so liebte, aber in der sich immer wieder die grausamsten Abgründe auftaten.

*

Zwanzig Minuten später erreichten sie das Bahnhofsviertel. Tagsüber wirkte es wenig zauberhaft. Kein Flair wie zum Beispiel auf der Hamburger Reeperbahn, die sogar tagsüber einen gewissen Charme versprühte. Protzige Autos, abgerissene Typen und meistens eine Polizeistreife in Sichtweite. Die Weserstraße war von Einsatzfahrzeugen blockiert. Durant erkannte hinter Blaulichtschimmer den Transporter der Spurensicherung. Uniformierte leiteten den Verkehr um den zugeparkten Bereich. Von einem Notarzt war nichts zu sehen. Man ließ den Dienstwagen unter dem Absperrband hindurch, und ein Beamter wies den beiden Kommissaren den Weg. Hochgräbe hatte darauf bestanden, sie zu begleiten. Vermutlich war es ihm ganz recht, dem Gedankenstrudel um seine Tochter für ein paar Stunden entfliehen zu können. Wie bitter es sich anfühlen musste, dachte Durant. Da verbringt man sein ganzes Leben in dem Unwissen darüber, eine Tochter gezeugt zu haben. Man lernt sie erst als erwachsenen Menschen kennen, nur, um gleichzeitig eine verrinnende Sanduhr vor die Nase gesetzt zu bekommen.

Die Gegend hier war besonders schäbig, links und rechts des Hauses verbarrikadierte Eingänge und jede Menge Unrat. Auch die schmale Zugangstür trug Graffiti und andere Verunreinigungen. Im Innern sah es unerwartet gepflegt aus. Durants Augen suchten nach einem Aufzug, doch Hochgräbe hatte sich bereits auf den Weg treppauf gemacht. Sie folgte ihm. Die Stimmen aus dem zweiten Stockwerk kamen näher, sie erkannte die weit geschnittenen Schutzanzüge der Spurensicherer, und hinter einer der Masken tauchten Platzecks Augen auf. Der Oberforensiker war seit vielen Jahren in Frankfurt tätig, und wenn er sich einen Tatort vornahm, konnte die Kommissarin sich auf höchste Präzision verlassen. Sie nickte ihm zu. »Dürfen wir schon rein?«

»Ja. Aber bitte nur in voller Montur.«

Sie hatte mit nichts anderem gerechnet. Trotzdem kreisten Durants Gedanken um das Innere des Raumes, während sie in einen der leichten Mondanzüge schlüpfte und einen Haarschutz, Latexhandschuhe und Gamaschen anlegte. Wer hatte die Tote aufgefunden? Hatten die Streifenbeamten die Tür aufgebrochen, und wie viele Straßenschuhe waren zwischen dem Ableben des Opfers und dem Eintreffen der Spurensicherung hin und her geeilt? Wie viele Personen hatten das Opfer reanimiert oder zumindest auf Vitalzeichen untersucht? Hatten die Kollegen ein paar Fotos geschossen, bevor der Notarzt sein Programm abspulte?

Gemeinsam mit Hochgräbe betrat sie das Appartement. Im Grunde eine Miniaturwohnung, die auf direktem Wege in ein großes Schlafzimmer führte. Es lag auf geradem Weg gegenüber der Eingangstür, man konnte das Bett sehen. Im Inneren des Zimmers flammte ein Blitzlicht auf. Jemand zupfte sie am Ärmel.

»Da lang«, raunte Claus.

Die Tote war nackt und lag in einer überdimensionierten Badewanne mit Whirlpoolfunktion. Offenbar beschränkte sich das Angebot nicht nur aufs Schlafzimmer, wie es Julia unwillkürlich in den Sinn kam. Der Körper war makellos, vielleicht Mitte zwanzig, das Wasser reichte der Frau bis über die Brust. Der weiße Rand, auf dem ihr Kopf auflag, wies Blutspuren auf, wenn auch nicht viele. Sie wirkte gepflegt, und in ihrem Gesicht zeichneten sich Lachfalten um die Augen ab. Was auch immer sie hier für ein Leben geführt hatte, es war offenbar nicht alles darin schlecht gewesen. Das Haar oberhalb der Ohren war getrocknet, nur die Spitzen, die im Wasser hingen, hatten sich vollgesogen.

Durant hielt den Finger in die violett eingefärbte Brühe. Der Lavendelduft war noch deutlich zu riechen. Die Färbung rührte also nicht vom Blut her. Das Wasser war bereits vollständig erkaltet. Ein weiteres Mal hob sie den Kopf und sah sich suchend um.

»Wo ist denn der Notarzt?«

»Musste weiter«, antwortete ein Kollege, den die Kommissarin nicht kannte. »Er hat alles notiert, was wichtig war.«

»Aha. Wenn ich jetzt also wissen will, wie lange sie hier schon drin liegt und wann der Todeszeitpunkt war …«

Der Uniformierte blieb außerhalb des Badezimmers stehen. Seine Schutzkleidung beschränkte sich auf Überzieher an den Schuhen.

»Dann kann ich das beantworten.« Er grinste schief und wedelte mit einem Papier.

»Hm. Dann raus mit der Sprache.«

»Todeszeitpunkt gestern Abend. Irgendwann zwischen siebzehn und zwanzig Uhr. Das entspricht auch in etwa der Zeit, in der sie in der Badewanne lag.«

Durant lächelte anerkennend, dann wandte sie ein: »Das ist aber leider ein ziemlich grober Zeitraum.«

Der Beamte nickte. Sie konnte seinen Namen nicht erkennen, vielleicht war es doch an der Zeit, über eine Brille nachzudenken. Doch bevor sie gegen diesen unliebsamen Gedanken ankämpfen musste, antwortete er: »Das liegt an dem Badewasser. Wir kennen die Ausgangstemperatur nicht. Hat er sie voll aufgedreht oder kaltes Wasser eingelassen.«

Durant zwinkerte. »Wir wissen auch noch nicht, ob es ein er war.«

Der Kollege schnippte den Zeigefinger auf. »Da haben Sie recht. Aber der Notarzt ist jedenfalls davon ausgegangen, dass sie nicht erst in der Badewanne gestorben ist.«

»Also womöglich ein Freier, der seine Spuren vernichten wollte«, mutmaßte Hochgräbe. »Wer hat sie denn gefunden?«

»Eine Freundin der Toten. Selina Jacob. Sie hat uns verständigt. Viertes Revier in der Gutleutstraße. Wir sind direkt hergefahren und haben die Dame noch vor Ort angetroffen. Personalien sind aufgenommen. Sie wohnt nur ein paar Häuser weiter. Meine Kollegin hat sie dorthin begleitet.«

»Dann gehe ich da am besten mal rüber«, meldete sich Julia Durant zu Wort.

Hochgräbe nickte ihr zu, und die Kommissarin wechselte auf dem Weg nach draußen noch ein paar Worte mit den Beamten, die als Erste vor Ort gewesen waren. Es gab keine Einbruchsspuren. Die Freundin der Toten hatte einen Schlüssel gehabt. Vielleicht war das Teil eines Sicherheitsnetzwerks, das Frauen in dieser Branche untereinander pflegten. Irgendjemand musste doch auf sie aufpassen.

Die Kommissarin wusste, dass es einen Kollegen gab, der über die Strukturen hier bestens Bescheid wusste. Uwe Liebig. Doch es widerstrebte ihr zutiefst, ihn mit ins Boot zu holen. Sie konnte diesen Typen nicht ausstehen, und sie würde so lange wie möglich versuchen, ohne ihn auszukommen.

13 :05 Uhr

Julia Durant klopfte an der Tür, und eine Beamtin in Uniform öffnete. Sie trug einen Pferdeschwanz und hatte dunkle Augenbrauen, darunter stachen leuchtend blaue Augen hervor. Offenbar erkannte sie die Kommissarin sofort, was Durant in Verlegenheit brachte. Sie wollte noch nach dem Namensschild schielen, da legte die Uniformierte bereits los: »Frau Jacob hat sich hingelegt. Deshalb bin ich noch hier. Ich wusste nicht, wie lange ich jetzt warten soll, und war mir unsicher …«

»Sie haben alles richtig gemacht.« Die Kommissarin lächelte. »Danke. Ich übernehme dann hier.«

Die Kollegin folgte ihr in die Wohnung, die ziemlich dunkel wirkte, aber auf den ersten Blick mit Geschmack eingerichtet worden war. Kein besseres Bordellzimmer, wie man es in den Sozialhochhäusern aus den Siebzigerjahren manchmal vorfand. Adressen, die einerseits jeder kannte und die andererseits anonym neben ihren Nachbarwohnungen lagen, in denen man keine Ahnung hatte oder sich schlichtweg nicht dafür interessierte, was nebenan passierte.

Selina Jacob erschien im hinteren Bereich der Wohnung. Sie trug ein Schlabbershirt, das über ihren Slip reichte. Die makellosen Beine und Füße nackt. Auch blass und verstrubbelt sah man ihr an, dass sie eine hübsche Frau war. Doch die Augen waren leer.

Durant stellte sich vor, und die Kollegin in Uniform verabschiedete sich.

»Wann haben Sie Frau Munz denn aufgefunden?«, fragte Durant nach einer kurzen Begrüßung und musterte ihr Gegenüber aufmerksam. Tatsächlich zuckte die Frau kurz, sagte dann aber mit klarer Stimme: »Heute Morgen! Ich habe direkt die Polizei verständigt.«

»Und wie sind Sie in die Wohnung gekommen?«

»Ich habe einen Schlüssel. Vivian hat auch einen Schlüssel von mir.«

»Haben Sie den Schlüssel immer noch?«

»Nein. Ihre Kollegen.«

Das stimmte. Trotzdem fühlte Durant, dass an der Sache etwas faul war. Sie beugte sich nach vorn: »Frau Jacob, Sie müssen bitte offen und ehrlich zu mir sein. Sonst werden wir den Typen, der Ihrer Freundin das angetan hat, nicht verhaften können.«

»Ich bin doch …«,

»Bitte denken Sie noch einmal ganz genau nach. Es ist Wochenende, und Vivian hatte«, sie stockte, weil sie das Wort Freier umschiffen wollte, »jemanden da.«

»Na und?«

»Wir wissen beide, dass das nicht ihr Freund war.«

Selina Jacob zuckte die Schultern. »Warum nicht?«

Durant kannte diese Masche noch aus der Zeit bei der Sitte. Auch wenn das ewig her war, Menschen änderten sich nicht. Freier schämten sich dafür, Freier zu sein. Prostituierte schämten sich noch viel mehr.

»Frau Jacob, ich kenne die Szene schon mein halbes Leben«, sagte sie daher, »und ich mache Ihnen garantiert keine Schwierigkeiten. Was wir wollen, ist, diesen Mörder zu fassen. Alles, was Sie dazu beitragen können, ist wichtig. Halten wir uns also bitte nicht damit auf, um den heißen Brei herumzureden. Der Täter war doch sicherlich nicht der letzte … Kunde in Frau Munz’ Kalender. An einem Freitagabend um diese Zeit?«

»Ich kenne ihren Kalender nicht. Nur, dass ich heute mit ihr verabredet war. Als sie sich nicht gemeldet und auf keine Anrufe und Nachrichten reagiert hat, bin ich rübergegangen. Und dann … das

Sie schluchzte auf. Der Schock über das Bild am Tatort war nicht gespielt, so viel erkannte die Kommissarin. Aber am Rest des Dialogs störte sie etwas, auch wenn sie es noch nicht dingfest machen konnte.

Oder verrannte sie sich da in etwas?

Sie stand auf und trat ans Fenster. Die Vorhänge ließen nur wenig Licht herein, und außen gab es nicht viel Schönes zu sehen. Das Bahnhofsviertel war schon in den Neunzigerjahren ein zwielichtiger Ort gewesen, aber mittlerweile hatten die Stadtoberen es (entgegen allen Äußerungen, die Politiker jeder politischen Couleur immer mal wieder verlauten ließen) offenbar abgeschrieben. Durant dachte an ihre jungen Jahre in München. Dort hatte man rigide durchgegriffen und die Probleme in die Außenbezirke verlagert. Doch war das nicht genauso feige? Teppich drüber, Sauberkeit verkünden und dann hoffen, dass keiner ihn anhebt? Und der Hauptbahnhof der Stadt war trotzdem der Platz Nummer eins für Drogenkriminalität und das Anbahnen sexueller Dienstleistungen geblieben. Patentlösungen gab es also keine. Sie fing ihre Gedanken wieder ein und drehte sich um.

»Frau Jacob«, sagte sie, »es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie das hier auf eigene Rechnung machen. Deshalb noch mal meine Frage …«

Weiter kam sie nicht, denn Selina Jacob schnitt ihr mit einer unerwarteten Schärfe das Wort ab. »Was hat denn das hier mit Vivians Tod zu tun?«

»Das möchten wir herausfinden, und dazu würde ich mir gerne ein Bild davon machen, was ›das hier‹ genau ist. Ich sage es ganz deutlich: Meine Zeit bei der Sitte ist lange her, und ich werde Ihnen ganz sicher keine Schwierigkeiten machen.«

»Schwierigkeiten«, wiederholte Frau Jacob tonlos.

Die Kommissarin wurde das Gefühl nicht los, dass die junge Frau Angst hatte. Sie war demnach auf dem richtigen Weg. Sie sah sich um. »Ich weiß, dass man heutzutage versteckte Kameras einsetzt. Haben wir da bei Ihrer Freundin eine Chance?«

Während Selina den Kopf schüttelte, notierte Durant hastig ein paar Worte auf ihrem aufgeschlagenen Notizblock.

»Und hier bei Ihnen?«

»Auch nicht. Was soll das denn?«

Die Kommissarin hielt der Frau die Notiz vors Gesicht.

Werden wir abgehört?

Selina lachte kehlig und antwortete mit einer großen Portion Zynismus: »So wichtig sind wir hier nicht. Videoüberwachung.«

»Ich wollte es nur abgeklärt haben. Dann können Sie mir ja in aller Offenheit antworten.«

»Was hätten Sie denn getan, wenn ich genickt hätte?«

»Wir hätten Sie ins Präsidium vorgeladen.«

Wieder das Lachen. »Als ob Sie mir damit geholfen hätten! Ich dachte, Sie kennen die Szene?«

Durant atmete schwer. »Ich weiß, wie brutal diese Typen sein können. Ich habe die schlimmsten Dinge gesehen, das können Sie mir glauben. Aber ich weiß genauso, dass wir hier einen Mord aufzuklären haben. Uns sind Sie wichtig, auch wenn das manchmal nicht so aussehen mag. Mein Kollege ist jedenfalls fit in der Szene, und er hat auch kein Problem damit, ein paar Typen kräftig auf die Füße zu treten.«

Jacob schüttelte sich. »Und was glauben Sie, wohin die Typen dann ihren Frust abladen gehen?«

»Wir können Sie schützen.«

Die Frau lachte erneut. Diesmal war es vorwiegend Spott, den Julia darin zu erkennen glaubte. Sie stand auf, ging zu einem Sideboard und nahm sich eine Zigarette. Ohne ihrem Besuch eine anzubieten, entzündete sie den Tabak mit einem pink glänzenden Feuerzeug und paffte eine dichte Wolke aus dem Mund.

»Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber Sie klingen wie in einem schlechten Film. In der nächsten Szene finden Sie mich dann tot im Main. Nein danke!«

»Ich kann Sie wirklich schützen«, beharrte die Kommissarin, und sofort ereilte sie ein Déjà-vu. In der leer stehenden Wohnung ihrer ermordeten Freundin lebte bereits jemand, den sie ebenfalls zu beschützen versprochen hatte. Wie sollte das weitergehen? Was würde Claus …

Frau Jacob hustete und verwedelte den Rauch vor ihrem Gesicht. »Niemand kann uns schützen. Aber trotzdem ist es besser, als auf dem Straßenstrich zu stehen. Wenigstens beschützt man uns vor den ganzen Bekloppten …« Ihr Blick trübte sich ein, und ihre Stimme klang belegt, als sie weitersprach. »Jedenfalls meistens.«

»Sie reden von den Hintermännern. Den Zuhältern?«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen.«

»Beschreiben Sie mir bitte, wie das System funktioniert.«

»Jemand passt auf. Draußen im Auto oder auch mal im Haus. Entweder checkt er die Typen schon per Handy. Die meisten Kontakte kommen übers Internet und über Messenger zustande. Autokennzeichen, Profilbilder, alles Mögliche an Daten. Das sichert uns ab.«

Julia nickte. Natürlich war ihr dieses System nicht fremd, es unterschied sich aber dennoch grundlegend von ihrer damaligen Zeit bei der Sitte. Angefangen von Smartphones mit Messenger-Diensten, die damals noch ferne Zukunft gewesen waren, hatte es damals auch weniger kranke Typen gegeben. Weniger Brutalität. Oder hatte man es einfach nur nicht gesehen? Oder nicht sehen wollen?

»Wer entscheidet denn über die Termine?«

»Wir selbst … na ja«, die Frau stockte und zog an der Zigarette, »wir müssen aber gleichzeitig zusehen, genügend Typen anzunehmen.«

Durant ballte die Faust. »Und was passiert, wenn Sie diese, hmm, Quote nicht erfüllen?«

Selina Jacob keckerte. »So weit kommt’s nicht, da passen wir schon auf.«

»Frau Munz hatte ja offenbar keine Termine mehr«, sagte die Kommissarin betont gleichgültig. »War das bei ihr anders?«

Selina drehte die Zigarette in einen Aschenbecher. Ihre Finger zitterten. »Das weiß ich doch nicht.«

»Ach kommen Sie.« Durant trat an die Frau heran. »Jetzt waren wir so offen zueinander. Lassen Sie mich nicht hängen.«

Doch Selina ruderte sich mit den Armen aus ihrer Bedrängnis und schritt in Richtung Küche, wo sie einen Schluck Wasser aus einer Glaskaraffe nahm. »Ich möchte, dass Sie gehen.«

»Meinetwegen. Aber das Ganze ist damit noch nicht zu Ende. Irgendjemand wird Sie wieder aufsuchen, das kann ich Ihnen nicht ersparen. Solange wir den Tod Ihrer Freundin nicht aufklären können, wird die Mordkommission hier ein und aus gehen. Auch zu Ihrer Hauptarbeitszeit.«

»Scheiße, was soll ich denn machen?« Zeitgleich klatschten Selinas Handflächen auf den Küchentisch. Die Karaffe kreiselte, fiel aber nicht um. »Lassen Sie mich einfach in Ruhe, es bringt doch eh alles nichts! Niemand hat sich je für Vivian interessiert, warum tun Sie jetzt alle so, als wäre es der wichtigste Fall des Jahres?«

Julia musste an Pastor Durant denken, ihren vor ein paar Jahren verstorbenen Vater. Wie hatte er gerne gesagt? Jeder Mensch ist einzigartig. So oder so ähnlich stand es in der Bibel, zumindest glaubte sie das. Wie sehr sie die tiefgehenden Gespräche mit ihm vermisste.

»Sie sind mir wichtig«, sagte sie ruhig, »auch wenn wir uns heute zum ersten Mal begegnen. Und ich möchte weder, dass hier ein Mörder frei herumläuft, noch, dass Ihnen jemand Schmerzen zufügt. Aber bitte … Sie müssen mit mir reden.«

Mit diesen Worten legte sie ihre Visitenkarte auf den Küchentisch, auf der auch eine Handynummer angegeben war.

»Denken Sie darüber nach, und rufen Sie mich an. Jederzeit.«

Mehr, das spürte die Kommissarin, war in diesem Moment nicht zu erreichen. Auch wenn ihr Kollege Uwe Liebig das wohl anders gesehen hätte. Sie musste ihn an die kurze Leine nehmen, dachte sie. Nicht, dass er hier lospolterte und auf die falschen Füße trat. Denn am Ende wäre es niemand anderes als Frau Jacob, die die Leidtragende war.

Als Durant das Haus verließ, rannte sie prompt Liebig in die Arme.

»Du bist ja schon hier«, entfuhr es ihr.

»Na und? Gibt ja auch viel zu tun. Hier im Moloch der Stadt ist Zeit noch tausendmal wichtiger als bei jeder anderen Mordermittlung.« Er schnaufte, und sein Atem stank nach Fast Food. Vielleicht war es auch seine Kleidung. Irgendwann würden ihn die Unmengen an Kohlehydraten und Transfetten vermutlich umbringen, aber aktuell schien er in Topform zu sein. Übermotiviert. Und das war das Problem.

Durant versuchte, sich bei ihm einzuhaken und ihn in Richtung Straße zu lenken.

»Pass mal auf«, sagte sie. Er ließ sich nur widerwillig mitziehen, schwieg aber, während sie ihm von Selina Jacob berichtete. »Diese Frau hat jedenfalls eine Heidenangst«, schloss sie.

»Kann ich mir denken. Diese Sackgesichter im Hintergrund.«

»Das weiß ich selbst. Aber mir geht es darum, dass sie ihre Story nicht rausrücken will. Noch nicht. Ich glaube, ich hatte sie kurz davor, aber dann ist sie doch wieder eingeknickt.«

»Welche Story? Die mit dem Ersatzschlüssel?«

»Das auch. Den Schlüssel hatte sie wirklich, aber den kann ihr jemand gegeben haben. Was mich stört, ist der zeitliche Ablauf. Vivian Munz wurde gestern am frühen Abend getötet. Der Auftakt zum Wochenende also, es kann mir keiner weismachen, dass sie bis heute früh keinen Termin mehr hatte. Mindestens einen …«

»Ja, kapiert. Und weiter?«

»Nach allem, was ich so herausgehört habe, verwalten die Frauen ihre Termine selbst. Im Hintergrund checkt jemand die Daten und achtet darauf, dass da nichts schiefgeht. Ein Schutz, von dem die Freier mit Sicherheit wissen, aber den sie nicht zu sehen bekommen. Das habe ich schon öfter erlebt, so oder ähnlich. Die Frauen können also auch mal jemanden ablehnen, wenn sie sich aber zu große, hm, Pausen gönnen, steht der Aufpasser auf dem Plan.« Sie waren stehen geblieben, und Durant seufzte schwer. »Ein Scheißleben ist das.«

»Es gibt Schlimmeres«, murmelte Liebig, und beide wussten, wie sehr das stimmte. Sie hatten es gesehen, erlebt, und trotzdem waren sie hier. Irgendjemand musste ja Partei ergreifen, irgendjemand musste den Toten einen Namen und eine Bedeutung geben. »Du meinst also«, sagte er, »dass das Opfer nicht von dieser Jacob aufgefunden wurde, sondern von einem der anderen Typen?«

Durant nickte. »Genau. Und das vermutlich auch nicht erst heute früh. Aber ich hab aus der guten Frau noch keinen Namen rauskriegen können.« Sie neigte den Kopf und sah Liebig an, dessen porige Gesichtshaut mal wieder eine Rasur vertragen konnte. »Hast du eine Idee, wer das sein könnte?«

»Warte mal«, brummte er und setzte sich mit entschlossenen Schritten in Bewegung.

»Halt!«, rief Durant und wollte ihm hinterherrennen, als sich ihr Telefon meldete. Claus. Für eine schmerzend lange Sekunde wog sie ab, ihn einfach klingeln zu lassen, doch das konnte sie nicht.

»Hey. Ich rufe dich gleich zurück, okay?« Sie hatte sich längst in Bewegung gesetzt.

»Wo bist du denn? Ich komme gerade runter.«

»Sorry.«

Während sie das Gespräch wegdrückte, sah sie Uwe Liebig im Eingang des Hauses verschwinden. Und hinter ihr erklang die Stimme ihres Verlobten.

Verdammt.

Claus Hochgräbe war niemand, der klammerte. Er ließ Julia sämtliche Freiräume, die sie brauchte, und zwang ihr auch keine Gespräche auf, wenn nicht die Gelegenheit dafür war. Doch nur ein Blick auf sein Gesicht genügte, dass die Kommissarin wusste, dies war in diesem Moment wichtiger als alles andere. Sosehr es sie auch schmerzte, dass Liebig ohne sie vorgeprescht war, musste sie nun zuerst ihrem Verlobten beistehen. Claus war aufgewühlt, er redete von seiner Tochter und dem kleinen Lynel. Dabei fuhr er sich durch die Haare. Es ging ihr nicht gut – und das war eine blanke Untertreibung. Einer der Gründe, weshalb Claus so oft mit ihm unterwegs war. Er übernahm mehr und mehr die Alltagsroutinen, für die seiner Tochter die Kraft fehlte. Das war mehr als ein sanftes Kennenlernen. Und wie musste es erst für den Jungen sein?

Mit einem scheuen Blick in Richtung des Hauses, in dem Liebig verschwunden war, redete Julia ihm gut zu, auch wenn es in ihrem Inneren brodelte.

»Wir haben doch genug Leute, nimm dir alle Zeit, die du brauchst.«

»Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann«, raunte er und fuhr sich erneut durchs Haar.

»Warum meldest du dich nicht krank? Es sind doch eh nicht mehr viele Arbeitstage.«

»Ich möchte nicht so aus dem Präsidium gehen! Als Waschlappen. Ich will …«

»Keiner sieht dich hier so«, beharrte Julia und streichelte seine Schulter. »Aber so wie jetzt kann’s doch auch nicht weitergehen. Deine Familie braucht dich im Moment mehr als dieser Scheißjob. Ich … wir kriegen das hin.«

Das hatte Julia Durant immer. Es hingekriegt. Auch wenn sie manchmal heftig daran gezweifelt hatte und allerlei Hürden ihr jeden Ausweg zu verbauen schienen.

»Wenn du meinst.«

»Klaro. Da hinten steht sogar ein Taxi. Fahr zu deiner Tochter, und wir sehen uns dann später.«

Sie küssten sich, und während Claus Hochgräbe in Richtung der Straßenecke trottete, wo der besagte Wagen parkte, setzte sich Julia Durant in Bewegung, um Uwe Liebig zu suchen. Sie schickte stumme Stoßgebete in Richtung des wolkenverhangenen Himmels, aus dem nur vereinzelte Sonnenstrahlen hervordrangen. Gotteslicht, wie man den im Dunst bis auf die Erde herabreichenden Schein bezeichnete. Vielleicht hatte ja wenigstens der Allmächtige diesen verkommenen Sündenpfuhl noch nicht aufgegeben.

Kurz bevor sie die Eingangstür erreichte, hörte Julia Durant ein Poltern im Inneren.

Ihr Atem stockte.

13 :50 Uhr

Elisa sprang als Erstes in die Wohnung. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Sie trug zwei Papiertüten in der Hand, und ihr Vater, Peter Kullmer, trabte mit einem viereckig ausgebeulten Plastikbeutel hinterher.

»Schau mal, Mama«, verkündete sie.

Doris Seidel hob den Kopf. Dann hörte sie auch schon die Stimme ihres Mannes: »Hey. Du bist ja noch zu Hause.«

Sie richtete sich von der Eckcouch auf, wo sie es sich bequem gemacht hatte. Am Vorabend war sie spät nach Hause gekommen. Peter hatte dort gesessen, wo sie jetzt lag, und mit Elisa einen Film angesehen. Peter und Elisa. Wie so oft. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Statt sich dazuzusetzen, hatte die Kommissarin sich in die Badewanne verzogen und eine Flasche Wein gegönnt. Irgendwann war sie eingeschlafen. Sie hatte weder reden wollen noch kuscheln. Peter reagierte zwar etwas gekränkt, aber er brach keine Diskussion vom Zaun. Als er am Vormittag von seinem Wecker aus den Federn gerissen wurde, vergrub Doris den Kopf unter dem Kissen. Eine Flasche Wein. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht. Warum hatte sie auch …

Peter hatte seiner Tochter einen Bummel im Skyline Plaza versprochen, und sie hatten gleich zu Geschäftsbeginn dort sein wollen, um dem großen Andrang zu entgehen. Samstags herrschte Krieg in der Stadt. Aus dem Umland strömten die Autos in die Parkhäuser. Gastronomie und Einzelhandel freuten sich.

Sie hatten kaum eine Handvoll Sätze miteinander gewechselt.

»Willst du nicht doch mitkommen?«

»Muss ins Präsidium.«

»Ein neuer Fall? Ich hab’s mir gestern Abend schon gedacht …«

»Nicht jetzt, Peter!«

Kein Wunder also, dass Peter Kullmer Bauklötze staunte, weil seine Holde noch immer im Schlafhemd hier herumhing. Aber warum um alles in der Welt waren die beiden schon zurück?

»Schau mal, Mama, ich hab ein Paar echt coole Schuhe«, verkündete Elisa.

Doris hatte vor ein paar Stunden einen starken Kaffee getrunken und Aspirin geschluckt. Danach hatte sie einfach nur dagelegen und die Stille in sich aufgesogen, während ihre Gedanken auf düsteren Pfaden wandelten. Mit der Stille war es nun vorbei.

Das Plastik knisterte, und eine Papiertüte wurde aufgerissen.

»Und eine Jeans. Guck mal!«

Die Kommissarin musste sich zusammenreißen, der Lärm schmerzte in ihrem Kopf, aber sie rang sich ein Lächeln ab. »Sehr chic.«

Sie stand auf, streichelte dem Mädchen über den Kopf und ging ins Badezimmer. Schloss hinter sich ab, was sie nur selten tat, und ignorierte das Klopfen und die Stimme ihres Mannes, als sie die Dusche aufdrehte und das warme Wasser über ihren Körper regnen ließ.

Doris Seidel stand einfach nur da, die Augen geschlossen und die Hände über Mund und Nase. Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, quiekte sie.

»Scheiße, Peter! Wie …«

Er grinste und hielt ein Kupferstück in die Höhe: »Fünf Cent. Funktioniert immer.« Sofort wurde er ernst. »Ich möchte jetzt wissen, was mit dir los ist!«

Doris drehte das Wasser aus und griff nach einem Handtuch, um sich darin einzuwickeln.

»Sorry. Ich muss damit erst mal selbst klarkommen.«

Das ließ er ihr nicht durchgehen. »Das konntest du. Bis jetzt. Aber schau dich nur mal an. Du musst mit mir reden. Was ist denn passiert?«

Er stand ihr im Weg, zwischen Duschtür und Waschbecken. Sie konnte nirgendwohin. Irgendwo hinter Peters Kopf hing der Spiegel. Doch sie brauchte sich nicht anzusehen, sie wusste es auch so. Es wäre das Bild einer Frau, die eine andere wissentlich in ihr Unheil hatte laufen lassen. Eine Verräterin, eine Versagerin, eine Mittäterin. Der Alkohol und die Albträume der zurückliegenden Nacht verstärkten dieses Urteil noch.

»Peter, bitte«, bettelte sie. »Ich kann nicht … ich weiß überhaupt nicht, wie ich anfangen sollte …«

»Es ist mir egal, wie du anfängst. Ich bin für dich da, aber dazu muss ich wissen, was passiert ist. Herrje, du musst einfach mit mir reden. Ich bitte dich …«

Dann endlich brach die innere Barriere. Schluchzend sank Doris in die Arme ihres Mannes und berichtete von dem Abend im Januar, als sie zum Joggen aufgebrochen war. Von den Typen, von der Frau. Von der Vergewaltigung.

»Ich habe nichts getan, verstehst du? Gar nichts. Ich habe alles falsch gemacht. Als Frau, als Polizistin, einfach alles.«

Sie standen noch immer da. Doris in ihrem Badetuch, umarmt von Peter, dessen Jeanshemd an manchen Stellen durchnässt war.

»Darf ich mal aufs Klo?«

Die beiden sahen zur Tür. Elisa stand dort, offensichtlich ein wenig irritiert von dem Bild, das ihre Eltern da abgaben. Doris musste unwillkürlich kichern. Eine Übersprunghandlung, auch wenn sie keine Freude verspürte.

»Na klar«, sagte Peter und deutete in Richtung Flur. »Ich muss mich ein bisschen um Mama kümmern. Die Arbeit. Okay? Du kannst dir ja was zum Hören anmachen.«

Bibi und Tina. TKKG . Elisa war in dieser Hinsicht äußerst unkompliziert. Wie lange das wohl noch so bleiben würde?

Die Kommissare zogen sich ins Schlafzimmer zurück, weil sie dort ungestört waren. Es war noch nicht gelüftet, Alkoholgeruch hing im Raum, aber das störte die beiden nicht. Doris Seidel wusste, dass sie Peter alles sagen konnte. Dass er sie verstand, dass er nicht urteilte. Aber eines konnte er ihr nicht nehmen: ihre Schuld.

14 :05 Uhr

»Na, bist du bereit, jemanden zu verhaften?«

Die Kommissare waren sich sozusagen in die Arme gerannt – mal wieder, offenbar gehörten solche Auftritte zu Liebigs Repertoire. Behutsames Auftreten schien ein Fremdwort für ihn zu sein, und während Durant sich in Gedanken mit der armen Frau Jacob befasste, grinste Liebig sie nur an. Es war diese Mischung aus Überheblichkeit und Fordern, die sie verabscheute. Er zeigte es selten, aber meist dann, wenn er etwas Fragwürdiges gemacht hatte. So viel wusste Julia schon. Diese dunkle Seite von ihm missfiel ihr, auch wenn alle anderen sie offenbar nicht sehen wollten. Wie sollte das erst werden, wenn Claus nicht mehr da war?

Julia stöhnte. »Wen denn?« Sie deutete treppauf. »Etwa sie? Du hast doch nicht …«

»Quatsch mit Soße! Ihren Pimp meine ich!«

Liebig nannte einen Namen, Durant musste sich eingestehen, dass sie nicht mehr auf dem Laufenden war, wer hier im Viertel das Sagen hatte. Einen Bandenkrieg, wie noch vor Wochen befürchtet, gab es jedenfalls keinen, auch wenn Liebig die Hierarchie ein wenig durchgeschüttelt hatte.

»Kennst du ihn?«, wollte sie wissen.

Das Grinsen. Schon wieder. »Ich kenne sie alle.«

Liebig drängte in Richtung Tür, aber Durant zögerte. »Wie hast du das denn so schnell rausbekommen?«

In ihrem Innersten verspürte sie das Bedürfnis, nach Selina Jacob zu sehen. Hatte er ihr so hart zugesetzt, dass sie eingeknickt war? Sie traute Liebig eine Menge zu. Gegen Beamte wie ihn hatte sie bereits ermittelt. Es gab Linien, die man nicht übertreten durfte, auch wenn es manchmal schwerfiel.

»I wo, was denkst du denn von mir?« Es war, als könne er in ihren Kopf schauen. »Wir hatten eine … sagen wir: Schlüsselszene.« Er kicherte. »Ich habe der Dame dort oben erzählt, dass wir auf dem Schlüssel einen männlichen Fingerabdruck gefunden haben.«

»Seit wann haben Fingerabdrücke denn Geschlechter?«

»Das weiß sie ja nicht.« Liebig feixte. »Jedenfalls hab ich ihr die Wahl gelassen, den Namen besser rauszurücken, bevor wir ihn in der Datenbank finden. Gepaart mit einem netten Hinweis auf die Konsequenzen, wenn man die Justiz behindert.«

Durant schnappte nach Luft. Dieser Typ war komplett durchgeknallt, aber irgendwie auch genial.

Vorsicht, mahnte sie sich.

»Du Spinner. Das war pures Glück.«

»Sei’s drum. Am Ende zählt das Ergebnis.«

»Wo müssen wir denn hin?«

Liebig nannte eine Adresse im Westhafen. Vermutlich eine der Luxuswohnungen mit Blick auf den Jachthafen. Für manche lebte es sich besser in dieser Stadt. Für manche war das Leid zwischen den Häuserschluchten bedeutungslos.

»Fahren wir gleich hin«, schlug er vor.

»Nur, wenn du mir eines versprichst. Wir bleiben bei der Legende mit dem Fingerabdruck. Oder lassen uns was anderes einfallen. Hauptsache, Selinas Name bleibt aus der Sache draußen. Ich will nicht, dass sie in Mitleidenschaft gezogen wird.«

Liebig winkte ab, und etwas Verächtliches lag in seiner Stimme. »Meinetwegen. Wobei mir dieses Mädchen ziemlich wurscht ist.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und trat nach draußen. Julia Durant schüttelte den Kopf.

Arschloch.

*

Etwa zur selben Zeit stand Claus Hochgräbe mit dem Schneebesen in der Hand in der Küche und rührte das Pulver in den Kochtopf. Er hatte sich für eine Tüte Tomatensuppe entschieden, dazu würde er das restliche Weißbrot bröckeln. Kannte Lynel überhaupt das Konzept von Nahrungskonserven? Würstchen im Glas, Gulaschsuppe, gebackene Bohnen. Nur, weil diese Dinge in Europa nicht wegzudenken waren, hieß das ja nicht, dass man das in Namibia genauso hielt. Andererseits bedeutete Südwestafrika nicht, dass man dort täglich sein Essen jagen musste. Wie wenig er über das Geburtsland seiner Tochter und seines Enkels wusste. Wie viele durch Vorurteile behaftete Bilder, auch wenn man sich für weltoffen hielt. Vom ewigen Schönreden der Kolonialzeit ganz zu schweigen. Claus Hochgräbe waren bei der Internetrecherche und im Gespräch mit Leuten, die Namibia vor vielen Jahren besucht hatten, vor allem zwei Dinge aufgestoßen: Angeblich schätzte man selbst unter Einheimischen noch den deutschen Kaiser, und es gab sogar entsprechende Straßen und Plätze. Und zum Zweiten schenkte man mitten im Zentrum von Windhuk eine traditionelle Frankfurter Apfelweinmarke aus. Bierdeckel und passende Gläser inklusive. Beides konnte durch Fotos belegt werden. Aber die Wahrheit dahinter war eine völlig andere.

Warum gingen ihm ausgerechnet solche Dinge durch den Kopf, schalt sich Claus, der mit einem Ohr stets auf das Kind im Wohnzimmer hörte. Warum dachte er nicht in jeder Sekunde an die Dinge, die der grausame Parasit im Körper seiner Tochter anrichtete? Was war, wenn die Therapie nicht …

Das Handy schrie seine Gedanken nieder. »Ja, Hochgräbe hier?«

Der Polizeipräsident. Ein Anruf, den man nicht einfach so wegdrückte, selbst wenn man sich mitten in einem Showdown befand. Auch dann nicht, wenn die Tage im Präsidium gezählt waren.

»Hochgräbe, wir haben ein Riesenproblem«, verkündete dieser. »Wie schnell können Sie im Präsidium sein?«

Der Kommissariatsleiter stockte und schaltete die Herdplatte aus, auf der die sämige Tomatensuppe ins Blubbern geraten war. Das Bild erinnerte an die kochenden Schlammsprudel Islands oder die Paint Pots im Yellowstone-Nationalpark. Nur der Geruch war weitaus angenehmer.

»Ich habe …«, begann er und setzte neu an. »Eine halbe Stunde. Ich habe meinen Enkel hier …«

»Suchen Sie sich jemanden, der sich um ihn kümmern kann.«

Wie stellte er sich das denn vor?, dachte Hochgräbe mit aufkommender Verzweiflung.

»Darf ich fragen, was passiert ist?«

»Es gab einen Todesfall. In Preungesheim.«

»Wie? In der JVA

»Ja natürlich, wo denn sonst? Einer der Untersuchungshäftlinge.« Ein schweres Seufzen kam durch den Lautsprecher. »Einen neuen Skandal können wir da nicht gebrauchen.«

Hochgräbe vermutete, dass sein Vorgesetzter auf die Selbstmordserie im Frauengefängnis vor wenigen Jahren anspielte. Er wusste außerdem, dass es in der alten Haftanstalt so manchen Verbesserungsbedarf gab. Doch Veränderungen brauchten Zeit, und die Mühlen mahlten sehr langsam, weil es stets um eine Menge Geld ging.

»Haben wir einen Namen?«

»Natürlich.«

Der Polizeipräsident nannte ihn.

Aleksander Salim. Ein Mordverdächtiger, der bereits gestanden hatte. Er wollte ein hohes Bandenmitglied umgebracht haben, obwohl ihm das nicht jeder abnahm. Viel zu schmächtig, viel zu gutmütig. Er hatte die U-Haft nicht gut weggesteckt. Schon in den ersten Tagen ein Selbstmordversuch. Die Sauerstoffversorgung seines Gehirns war gefährlich lange unterbrochen gewesen. Der Verdacht drängte sich auf, dass da jemand nachgeholfen hatte. Rache. Ein Exempel. Und jetzt?

Viel wichtiger aber war für Claus Hochgräbe ein ganz anderer Punkt. Mit einer brutalen Treffsicherheit setzte der Oberboss genau hier an, als er fortfuhr: »Sie kennen ihn ja. Das ist doch der Partner dieser Prostituierten, die Ihre zukünftige Frau in dem Appartement versteckt hält.«

Hochgräbe atmete schnell. Ja, verdammt! Und er hatte Julia bereits x-mal gedrängt, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Nicht nur, weil es eine fantastische Wohnung für Lynel und Clara war. Diesen Hintergedanken unterstellte sie ihm dann meistens, und die Gespräche brachen an dieser Stelle ab. Die Wohnung war groß genug, auch für zwei Mütter mit jeweils einem Kind. Doch allein der Gedanke, dass er Lynel jetzt wieder dort hinbringen musste und dass ausgerechnet die Frau, die sich um beide Jungen kümmern sollte, jene war, die mit einer Todesnachricht konfrontiert werden würde …

Er schnappte nach Luft und fluchte.

»Ich sehe, Sie erkennen die Tragweite«, bohrte der Polizeipräsident weiter, und sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie sehr ihm das alles missfiel. Er hatte sich von Anfang an dagegen verwehrt, und diesen Triumph würde er nun bei jeder Gelegenheit ausleben. Wie gut, dass es vermutlich die letzte gemeinsame Aktion war, die Hochgräbe mit ihm stemmen musste.

»Geben Sie mir eine halbe Stunde Zeit, okay?«, bat er.

»Meinetwegen. Treffen wir uns in meinem Büro? Das Präsidium liegt ja auf dem Weg.«

»Ich würde gerne zuerst noch Julia …«

»Hauptsache, Sie beeilen sich!«

14 :10 Uhr

Insgeheim beneidete Julia Durant ihren Kollegen Liebig darum, wie firm er in puncto Bandenkriminalität war. Er schien sie alle zu kennen, namentlich, persönlich, aber das Ganze hatte einen tiefer gehenden Grund. Um diesen beneidete sie ihn nicht. Uwe Liebig hatte sich seit dem Tod seiner Tochter förmlich in dieses Thema verbissen. Er musste sie alle zu Gesicht bekommen, alles um sie herum wissen. So lange, bis er dem Todesfahrer gegenüberstand. Falls das jemals geschehen würde. Und dann? Was, wenn ihm der Mann wahrhaftig in die Finger geriet? Allein diese Gedanken bereiteten der Kommissarin Gänsehaut.

»Wollen wir?«

Liebig hatte den Wagen in der Nähe des Wassers geparkt. Durant kannte die Gegend gut, allerdings veränderte sich das Stadtbild mit atemberaubender Geschwindigkeit. »Wo genau müssen wir hin?«

Liebig deutete auf den Eingang eines Betonwürfels, bei dem man nicht mit Glas gespart hatte. Schön war das Ganze nicht, aber so richtig hässlich finden wollte Durant es auch nicht. Sie dachte an die Eleganz mancher Häuser im Holzhausenviertel. Sie hatten zwei Weltkriege überstanden und strahlten noch immer den Glanz vergangener Zeiten aus. Dafür konnte man diese Wohnblöcke hier vermutlich schreddern und recyceln. Weiter kam sie nicht, denn in ihrer Tasche regte sich das Smartphone.

Claus Hochgräbe. Heute war es wieder schlimm, wie sie fand. Keinen Gedanken konnte man zu Ende denken …

»Ja, hallo? Wir sind gerade bei«, sie schnippte mit den Fingern, doch der Name war längst verschwunden, »na, diesem Zuhältertypen …«

»Das muss jetzt hintenanstehen«, sagte Claus. »Wer ist denn bei dir? Uwe?«

»Ja. Aber wieso …«

»Lass ihn das übernehmen bitte. Ich brauche dich so schnell wie möglich hier.«

Scheiße. »Ist etwas mit …«

Julia wagte es kaum auszusprechen. Ja, Clara war schwerkrank. Krebs war ein unberechenbares Arschloch, das wusste sie nur allzu gut. Aber gab es nicht doch noch Hoffnung? Gab es nicht immer irgendeinen Strohhalm, an den man sich klammern konnte? Oder war es schon zu spät?

Claus Hochgräbes Antwort erlöste sie von dieser Sorge, stürzte sie dafür aber unmittelbar in die nächste: »Es geht um Aleksander Salim. Er ist gestorben.«

Eine kalte Hand griff um ihr Herz und drückte gnadenlos zu.

Aleksander Salim. Tiana Ganevs Partner. Der Vater ihres ungeborenen Kindes.

»Nein«, presste sie hervor. Offenbar kreidebleich, denn Uwe Liebig schenkte ihr einen vielsagenden Blick und drehte seinen Oberkörper in ihre Richtung. Bereit, sie aufzufangen? »Wie konnte das … ich meine, warum? Warum … jetzt?«

»Das bereden wir nachher. Ich habe es eben erst erfahren. Aber wir müssen uns jetzt darum kümmern, in Ordnung?«

Julia Durant sah zu ihrem Kollegen, dann zu dem Gebäude. Sie dachte wieder an Selina Jacob. Die Vorstellung, Liebig alleine auf diesen Zuhältertypen loszulassen, behagte ihr nicht. Vielleicht hatte es auch Vorteile, dachte sie weiter. Wenn sie nicht dabei war, würde Liebig sich nicht zurückhalten. Aber am Ende waren es Frauen wie Selina, die diese Rechnung bezahlten.

»Moment.« Sie nahm das Telefon vom Ohr und legte die Hand über das Mikrofon.

»Was ist denn los?«, wollte Liebig wissen.

»Ich muss weg. Es ist dringend. Claus meint, du kannst das hier alleine erledigen, aber bitte «, ihre Stimme wurde scharf, »reiß dich zusammen! Wenn du diesen Typen in die Enge treibst, lässt er es hinterher an den Frauen aus. Im Gegensatz zu dir sind sie mir nämlich nicht egal.«

»Das war doch gar nicht so gemeint«, setzte Liebig an, doch Durant fiel ihm ins Wort.

»Dann sind wir uns ja einig. Polizeiarbeit nach Lehrbuch. Mit Fingerspitzengefühl.«

»Vor allem mit Ergebnis«, sagte er, und Durant verdrehte die Augen. »Ich nehme den Dienstwagen.«

Als sie den Motor startete, wusste sie nicht, welcher Umstand ihr mehr auf den Magen schlug: das, was Liebig nun in dem Betonklotz abziehen würde, oder das, was sie in Alinas Wohnung erwartete.

Sie schluckte schwer. Jetzt eine Zigarette.

Doch sowohl das Handschuhfach als auch die Seitentaschen waren leer. Keiner der vorherigen Benutzer des Wagens hatte ihr den Gefallen getan, etwas liegen zu lassen. Vielleicht war es besser so. Immerhin rauchte sie ja gar nicht mehr.

Aber die Kapriolen des Lebens machten ihr diese Entscheidung manchmal verdammt schwer.

14 :35 Uhr

In Okriftel, zwischen Frankfurt und Wiesbaden, stieg Frank Hellmer aus dem Wasser. Im Keller seines Hauses befand sich ein Schwimmbad, und er war ein paar zügige Bahnen darin geschwommen. Das machte er regelmäßig, genau wie das Training an seinem Boxsack. Auch wenn seine Haut längst nicht mehr so straff war wie mit Ende zwanzig, war er nicht unansehnlich. Und solange er hart genug trainierte, würde sein Körper ihm diese leidige Sucht nach den Zigaretten verzeihen.

In den Bademantel gehüllt, schlüpfte Hellmer in die Latschen und ging nach oben. Er schaltete die Kaffeemaschine an, und während diese ins Summen und Zischen ihres Spülvorgangs verfiel, hob er einen Karton vom Küchentisch und trug ihn in Richtung Wohnzimmer. Er war Strohwitwer, seine Frau Nadine war übers Wochenende ins Fränkische gefahren, sie würde erst am nächsten Abend wiederkommen. Anstatt im Präsidium Akten zu wälzen, konnte er das genauso gut hier tun. Bei seinen CD s und dem teuren Kaffeevollautomaten, dem das Gerät in Frankfurt nicht das Wasser reichen konnte. Drei der vier Kisten, in denen sich Ordner, einzelne Seiten, aber auch Fotografien und Speichermedien befanden, hatte er bereits gesichtet. Er war seit sechs auf den Beinen, wie meist, wenn er mal nicht früh aufstehen musste.

Er ging zurück in die Küche, stellte eine Tasse unter den Auslauf und drückte auf den Knopf. Zwei Minuten später hockte er auf dem Sofa, die Füße auf dem Hocker liegend, und betrachtete ein altes Klassenfoto. Warum er nach und nach über alle dreiundzwanzig Gesichter sah, hätte er hinterher nicht mehr zu sagen gewusst. Vielleicht, weil er das bei seinem eigenen Klassenfoto auch so hielt. Eine verwaschene Erinnerung an den Tag, als der Fotograf gekommen war. Sehnsüchte und Ängste in den Blicken aller Mitschüler. Thorsten war mit Gabi zusammen, und das hatte Claudias Herz gebrochen. Sein bester Freund buhlte um Karla, dabei hatten sie sich einst geschworen, dass so etwas niemals passieren würde. Martins Augen waren voller Sorge. Nach dem Foto wartete der Schwimmunterricht. Er konnte nicht schwimmen, was ihn zum Buhmann der Klasse und des Lehrers machte.

Auch wenn das Foto von Caspars Jahrgang völlig fremde Menschen zeigte, ihre Gesichter erzählten dieselben Geschichten. Das Foto stammte aus einer Zeit, in der Caspar noch zur Schule gegangen war. Die Polizei hatte sich jede Menge Fotografien beschafft, vermutlich, um nicht den Überblick über all die Mitschüler zu verlieren. Social Media war seinerzeit noch eine Utopie gewesen. Nicole Geßler war nicht darauf, sie war ja auch jünger. Frank wollte es gerade weglegen, da stachen ihm zwei wohlbekannte Augen ins Gesicht, die er beim ersten Betrachten nicht wahrgenommen hatte.

Er musste husten. Um ein Haar wäre ihm die Kaffeetasse übergeschwappt. Das war doch …

Angespannt suchte er nach dem Telefon. Das musste er unbedingt seiner Kollegin erzählen. Auf ihre Reaktion war er gespannt wie eine Bogensehne unmittelbar vor dem Abschuss.

14 :55 Uhr

Knockout. Wie eine Pfeilspitze mitten in Herz musste es sich anfühlen, eine solche Nachricht überbracht zu bekommen. Tiana Ganev klappte mit einem erstickten Aufschrei zusammen. Die Kommissarin konnte es ihr nachfühlen, mehr, als ihr lieb war. Sie hatte sich genauso gefühlt, als sie in diesen Räumen gestanden hatte und ihre engste Freundin ermordet vorfand. Während Claus Hochgräbe damit beschäftigt war, Lynel und Tianas Sohn in ein anderes Zimmer zu lotsen, stand der Polizeipräsident ein wenig hilflos in dem ganzen Chaos. Warum war er überhaupt hier? Durant wusste, dass er sie auf dem Kieker hatte, weil sie viel zu oft ihrem Bauchgefühl folgte, anstatt die vorgesehenen Wege zu beschreiten. Aber das Ergebnis sprach am Ende immer für sie.

Im Grunde hatte sie auch tausend Fragen an ihn, aber dafür war im Augenblick keine Zeit. Sie konnte Tiana nicht alleine lassen, das hatte Priorität. Also ließ sie ihn einfach stehen und führte die Frau in Richtung der Ausziehcouch, die zu einer Bettstatt hergerichtet war. Danach suchte sie im Badezimmer nach Medikamenten, irgendwas zur Beruhigung. Doch dann fiel ihr ein, dass die Ärmste ja schwanger war. Aus dem Wohnzimmer vernahm sie ein leises Weinen. Sollte sie einen Notarzt rufen? Sie zog das Telefon hervor und wog es in der Hand. Ihr fiel ein, dass sie vor ein paar Minuten den Anruf von Frank Hellmer weggedrückt hatte. Vielleicht sollte sie ihn ebenfalls informieren? Vielleicht …

Prompt zeigte sich sein Name erneut auf dem Display.

Frank (zuhause)

Der hatte es gut. Dann wusste er vermutlich nichts von alldem, was heute in Frankfurt passiert war.

Während die Kommissarin auf leisen Sohlen in Richtung Küche schlich, um der armen Frau wenigstens einen Kräutertee zu kochen, nahm sie das Gespräch entgegen.

»Frank. Es ist gerade ganz schlecht«, begann sie.

»Geht ganz schnell«, erwiderte dieser in unbeschwertem Tonfall. »Wusstest du, dass Caspar Bahl und dieser Kunstmensch in derselben Klasse waren?«

In ihrem Kopf rauschte es. »Wie? Moment.« Das Umschalten auf den anderen Fall gelang ihr nur mühsam. »Bahl und Muth. Davon hat er uns nichts gesagt.«

»Na eben! Erzählt uns einen vom Pferd, von der lesbischen Schwester und davon, was der alte Bahl für ein Kontrollfreak gewesen sein muss. Aber das verschweigt er, und ich frage mich, warum.«

»Ob er auch auf dieser Party war?«, sann Durant weiter.

»Dann hat er doch auch Nicole Geßler gekannt«, sagte Hellmer.

Die Kommissarin holte tief Luft. »Frank, hör mal zu. Wir haben hier eine tote Prostituierte, und dann ist auch noch Aleksander Salim gestorben.«

»Oh! Scheiße.«

»Allerdings. Hier geht es gerade richtig zur Sache.«

»Heißt das, ich soll mich alleine um die Bahl-Geschichte kümmern?« Frank klang wenig begeistert.

»Das hier sind wichtige Fälle. Mit einer Menge Dynamik. Ich musste Liebig alleine zu einer Vernehmung schicken, glaub mir, da hatte ich nicht wirklich Lust drauf …«

»Bullshit!«, unterbrach er sie. »Nur weil ein Mordfall alt ist, ist er noch lange nicht unwichtig.«

»Hab ich nicht so gemeint, das weißt du doch.« Sie atmete gepresst, während das Wasser im Kocher zu zischen begann. Hellmer stellte sich mal wieder an, das konnte sie gerade gar nicht gebrauchen. Sie überlegte schnell. »Erinnerst du dich an damals, an die Ermittlung mit den toten Studenten in der Großmarkthalle?«

»Hmm. Stairway to Heaven?«

Der Mörder hatte seinerzeit den Klassiker von Led Zeppelin an seinen Tatorten abspielen lassen.

»Richtig«, bestätigte sie. Der alte Chef, Berger, war damals mit einem Hexenschuss außer Gefecht gesetzt gewesen. Sabine Kaufmann hatte noch zum Team gehört. Zeiten, in denen nicht alles gut, aber manches besser gewesen war. Damals hatte sie auch Claus kennengelernt.

»Was ist damit?«

»Ich war damals Bergers Vertretung.«

»Ist mir nicht entgangen«, murrte Hellmer. Damals hatte ihn das sehr angefressen, denn rein rechnerisch hätte ihm der Job zugestanden. »Wie kommst du jetzt darauf?«

»Weil Claus vermutlich früher ausfallen wird als erwartet. Das kommt noch dazu, denn seiner Tochter geht es sehr schlecht. Du und ich, Frank, wir müssen das Ganze jetzt am Laufen halten. Auch wenn keiner von uns gerne die Führung übernimmt. Du weißt, wie sehr ich das damals gehasst habe.«

»Na ja. Meinetwegen.« Er schnaufte. »Schöner Mist, da ist man mal einen Tag nicht da und dann so was. Was ist denn mit Clara?«

»Es sieht nicht gut aus. Claus will jetzt ganz für sie da sein, das ist alles, was zählt. Das bedeutet für mich, dass ich mich jetzt hier dahinterklemmen muss. Und du kümmerst dich um die Bahl-Sache, okay?«

»Meinetwegen. Aber nicht, dass das ein Dauerzustand wird.«

Julia Durant stutzte. Dann schüttelte sie sich. »Bloß nicht! Ich mag den orthopädischen Sessel zwar, aber auf den Job bin ich nicht scharf. Genauso wenig wie du, oder?«

»Genauso wenig wie ich«, bestätigte er. Darüber waren sie sich im Grunde immer einig gewesen.

Aber Zeiten änderten sich. Und mit ihnen die Menschen.

Zehn Minuten später hatte sich Frau Ganev ein wenig beruhigt, und auch aus dem Zimmer, in dem Claus mit den beiden Jungen verschwunden war, hörte man friedliches Kinderplappern.

Durant nahm sich den Polizeipräsidenten zur Seite. »Was genau hat sich da in der Haft abgespielt?« Ihr letzter Wissensstand war, dass Salim unter ärztlicher Beobachtung stand und aufgrund der langen Unterbrechung des Sauerstoffs schwere Hirnschäden davongetragen hatte.

Die Antwort war nur wenig erleuchtend. »Er war einfach tot.«

»Man stirbt nicht einfach so.« Das sollte gerade er doch wissen.

»Was soll ich sagen? Er hat aufgehört zu atmen, das Herz blieb stehen, was weiß ich! Viel schlimmer ist es, wie es dazu gekommen ist. Der Suizidversuch. Das darf nicht schon wieder …«

»Moment.« Durant funkelte ihn an. »Es geht uns hier doch hoffentlich um Aufklärung und nicht darum, einen Skandal zu unterdrücken!«

»Ja. Auch.« Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. »Aber die Sache sollte keinesfalls an die Öffentlichkeit gelangen.«

Durant ballte die Fäuste. »Ich glaub’s ja wohl nicht! Ich werde hier mit Sicherheit keine Vertuschungsaktion anleiern.«

»Wir reden immerhin von einem geständigen Mörder.«

»Gestehen kann erst mal jeder. Ein Urteil wurde nie gesprochen.«

»Glauben Sie …«

»Das ist mir vollkommen egal. Dort drüben sitzt eine Frau, die ihn über alles liebt. Die ein Kind von ihm erwartet. Wie soll ich das ihr gegenüber denn vertreten?«

»Darüber sollten wir sowieso mal reden. Das hier ist vor wenigen Monaten noch ein Tatort gewesen, wenn ich mich richtig erinnere. Jedenfalls ist es kein Safe-House. Und Sie sind keine Herbergsmutter. Wenn ich Ihnen also sage …«

Daher also wehte der Wind. Julia Durant nickte langsam, dann vervollständigte sie seinen Satz auf ihre Weise: »Wenn Sie mir sagen, dass ich meinen Job nicht richtig machen soll, dann pfeife ich da drauf!«

Sein Blick wurde grimmig. »Frau Durant, bitte.«

Claus Hochgräbe trat aus der benachbarten Zimmertür. Mit einem Stirnrunzeln fragte er: »Was ist denn hier los?«

Durant reagierte als Erstes. »Unsere Politiker fürchten einen Medienskandal. Wir sollen Salims Tod unter den Teppich kehren.«

Hochgräbe blickte zu dem Oberboss, um dessen Version zu hören. Dieser schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht verlangt. Aber wir sind uns doch alle einig, dass uns ein wenig Diskretion hier nicht schaden würde.«

»Und wie soll die aussehen?«, fragte der Kommissariatsleiter. »Eine Obduktion ist ja wohl unvermeidlich und alles, was eben dranhängt.«

»Sollen Sie ja auch machen. Aber alles in kleinstem Kreis. Durant und Liebig. Die beiden, die mit dem Fall betraut waren. Und ich halte derweil die Presse mundtot.«

»Liebig?« Julia stöhnte auf.

Ihr Gegenüber kniff die Augen zusammen. »Trauen Sie ihm das zu? Diskretion?«

Wem, wenn nicht ihm. Uwe Liebig hatte in der kurzen Zeit, die sie sich kannten, aus allem ein Geheimnis gemacht. Entweder, weil es seine Art war, oder, weil er eine Menge zu verbergen hatte.

»Ich denke, das wird funktionieren«, antwortete sie langsam.

Überzeugt war sie allerdings nicht.

15 :15 Uhr

Frank Hellmer hatte ein Problem. Es war Samstag, er wollte dringend mit Muth reden, und laut Internet war die Galerie samstags nur bis sechzehn Uhr geöffnet. Nadine hatte den Range Rover mit nach Franken genommen. Die S-Bahn würde ihn nie im Leben pünktlich in die Frankfurter Innenstadt befördern, und bis er ein Taxi hierher geordert hatte …

Er wollte das Gespräch mit Muth keinesfalls nur am Telefon führen. Dann kam ihm ein Geistesblitz, der zwar bei genauerer Betrachtung fatale Denkfehler beinhaltete, aber dafür hatte der Kommissar keine Zeit. Vom Anschluss Hattersheim über die A66 in Richtung Römer – dafür brauchte er einen verdammt schnellen Wagen. Und so einen hatte er!

Fünf Minuten später steuerte Hellmer seinen heiß geliebten 911 er die Einfahrt hinauf.

Kurz vor Ladenschluss stand er vor den Arkaden der Galerie und legte die Hand auf die Tür. Sie war verschlossen, allerdings brannte im Inneren noch Licht. Er klopfte. Sein Herz hämmerte. So vieles war ihm durch den Kopf gegangen, während er mit seinem Silberpfeil in Richtung Frankfurt jagte. Auf beiden Kennzeichen war die Plakette abgekratzt. Wenigstens hatte er sie aus nostalgischen Gründen behalten. Nicht mehr im Fahrzeug befanden sich außerdem sämtliche Polizeiutensilien, allen voran das mobile Blaulicht. Das brauchte er zwar nicht für die Fahrt zu einer Befragung, dennoch fühlte er sich irgendwie leer. Kein Fahrzeugschein. Rauchen wollte er auch nicht. Die Aufbereitung des Wagens hatte nicht wenig Geld gekostet. Dafür roch es im Inneren wieder wie in einem Neuwagen. Erst die muffige Heizungsluft trübte diesen Eindruck ein wenig.

Im hinteren Teil des Ladens war eine Bewegung zu erkennen. Sekunden später blickte der Kommissar in die düsteren Augen von Muth. Er war erleichtert. Plan B war gewesen, den Mann unter seiner Meldeadresse aufzusuchen. Diese lag im Osten der Stadt, halbwegs gut zu erreichen, aber wer hätte schon sagen können, ob der gute Mann sich nach der Schließung der Galerie direkt dorthin begeben hätte?

»Ich hab gerade abgesperrt«, begrüßte dieser ihn.

»Wie gut, dass Sie noch hier sind. Ich hätte da noch ein paar Fragen.«

»Hm. Meinetwegen.« Muth verzog das Gesicht und bedeutete ihm hineinzukommen. »Sie klangen eben wie Inspektor Columbo. Muss ich mir Sorgen machen?«

Hellmer reagierte nicht auf Muths Grinsen. »Das müssen Sie schon selbst beurteilen«, sagte er und zog das Klassenfoto aus der Innentasche seiner Lederjacke.

Muth schloss die Tür wieder von innen ab und blickte nachdenklich auf das Bild. Noch hatte Hellmer ihm das Motiv nicht offenbart. Er wirkte nicht angespannt, eher genervt. Vermutlich ein langer, zäher Samstag mit wenigen Kunden und vielen Gaffern, aber keine Verkäufe. Die wenigen wollten es sich nicht leisten, die vielen konnten es nicht.

»Hören Sie«, sagte er mit einem leichten Beben in der Stimme, »ich möchte nach Hause. Es war eine anstrengende Woche. Am Montag muss ich nach New York fliegen.«

»Rosenmontag«, murmelte Hellmer.

»Ja. Ein Segen! Am liebsten wäre ich schon heute geflogen. Nur Bekloppte unterwegs an diesen Tagen. Aber es gibt noch einiges zu erledigen für mich, bevor es losgeht. Es wäre mir daher sehr daran gelegen, wenn wir uns den Small Talk sparen und direkt zum Grund Ihres Besuchs kommen könnten.«

»Okay.« Hellmer fuhr sich über das frisch rasierte Gesicht. Mit der anderen Hand wedelte er mit dem Foto, dann hielt er es Muth direkt vor die Nase. »Der junge Mann mit dem grellen Pullover und dem finsteren Blick in der letzten Reihe …«

»Das bin ich. Na und? Wir haben damals doch alle ziemlich peinlich ausgesehen, oder?«

»Mag sein. Aber drei Köpfe weiter steht Caspar Bahl. Demnach waren Sie beide in derselben Klasse.«

»Na und?«, sagte Muth erneut.

»Dieses bedeutsame Detail hätten wir gerne von Ihnen gehört, als wir zum ersten Mal hier waren.«

»Was ist denn daran bedeutsam? Ich bin im selben Jahr sitzen geblieben. Das nächste Klassenfoto war also ohne mich.«

»Aber Sie kannten Caspar, Sie sind sein Jahrgang, und Sie waren befreundet . Oder etwa nicht?« Hellmer musterte den Mann, und insgeheim musste er sich eingestehen, dass er Muth ein ganzes Stück älter geschätzt hätte als Caspar Bahl. Dabei konnte ihm aber auch die Erinnerung einen Streich spielen. Bahls letztes Foto zeigte ihn als jungen Mann. Seither waren Jahrzehnte vergangen. Hatte er diesen Faktor übersehen?

»Nur, weil man in derselben Klasse ist …«, antwortete Muth und winkte ab. »Freunde würde ich das jetzt nicht nennen. Wir kannten uns eben.«

»Und Sie kannten die ganze Familie. Ziemlich gut, wie ich mich erinnere. Das haben Sie so ausgesagt.«

»Ich verstehe immer noch nicht …«

»Hand aufs Herz. Caspar und Sie, wie standen Sie zueinander? Wie viel wussten Sie übereinander? Als Jugendliche kriegt man doch eine Menge mit.«

Muth wippte mit dem Kopf. »Vielleicht war es ja viel mehr seine Schwester, die mich interessiert hat.«

»Die wiederum auf Frauen steht. Verdammt, Herr Muth, bleiben wir doch bitte bei der Wahrheit!«

»Okay. Verzeihung.« Muth kicherte und deutete hinter sich. »Möchten Sie einen Espresso?«

»Meinetwegen. Aber nur, wenn wir offen miteinander reden.«

»Gut.«

Muth öffnete eine Metalldose, nahm den Siebträger aus der Maschine und löffelte fein gemahlene Bohnen hinein. Danach griff er zu einem Stempel, mit dem er das Espressopulver plättete. Hellmer beobachtete jeden seiner Handgriffe und fragte sich, ob das echte Hingabe war, garniert mit Angeberei. Oder Hinhaltetaktik.

Er räusperte sich. Die Maschine erwachte lautstark zum Leben.

»Caspar war ein sehr spezieller Typ, darüber hatten wir ja schon gesprochen. Ja, ich war mit ihm im selben Jahrgang, und wir hatten in gewisser Weise auch dieselben Interessen. Freundschaft – das ist ein geduldiger Begriff. Unsere Eltern wollten das vielleicht so, aber nur weil man geschäftlich und gesellschaftlich auf derselben Wellenlänge ist, heißt das nicht zwangsläufig, dass das auf die Kinder übergeht. Unter uns«, er senkte die Stimme, »Caspar konnte ein richtiges Arschloch sein.«

Er griff zur Tasse und hielt sie dem Kommissar hin. Der Duft war betörend. Hellmer bedankte sich und nippte. Die Hitze stach ihn in die Oberlippe, aber genau so musste Espresso sein. Heiß und stark.

Er stülpte die Unterlippe vor. »Arschloch in welcher Hinsicht?«

»Rücksichtslos und selbstverliebt. Aber das konnte er verdammt gut verbergen. Ich sage auch nicht, dass wir keine guten Zeiten miteinander hatten. Doch man musste stets auf der Hut sein. Er hatte ständig eine Ausrede parat, argumentierte einen gegen die Wand und mischte überall mit. Am Ende stand er immer unschuldig da.« Muth stockte kurz. »Genauso machte er es mit den Mädels.«

Hellmer sah ihn nur auffordernd an. Weiter.

»Caspar hatte jetzt nicht viele, aber irgendwie schaffte er es, immer an diejenigen zu gelangen, die bereits in festen Händen waren. Aber er hat es immer so gedeichselt, dass er gut dastand. Nicht als Ausspanner. Mehr der Straßenköter, der in den Frauen den Mutterinstinkt anspricht. Er hat das schamlos ausgenutzt.«

»Das alles hätten Sie uns längst erzählen können«, murrte Hellmer. Er trank seine Tasse in einem Zug leer und stellte sie neben die Maschine. Muth tat es ihm gleich.

»Was spielt das überhaupt für eine Rolle?«

»Wir möchten die Tatnacht rekonstruieren. Die Nacht, in der Nicole Geßler verschwunden ist und vermutlich ermordet wurde. Wenn Sie doch in Bahls Jahrgang waren: Was ist mit dieser Party? Waren Sie auch da?«

Ein Schatten schien über Muths Gesicht zu huschen, aber er war ebenso schnell wieder verflogen, wie er gekommen war.

»Ich glaube schon.«

»Sie glauben …«

»Ja. Scheiße! Damals waren doch an jedem Wochenende Partys. Das wissen Sie selbst.«

»Hm. An die besonderen erinnere ich mich schon ziemlich genau.«

»Vielleicht war diese Party ja nicht so besonders«, konterte Muth.

Hellmer biss sich auf die Zungenspitze. Dieses Arschloch. Er war die Liste der befragten Gäste durchgegangen, Muths Name tauchte dort nicht auf. Aber solche Listen waren lückenhaft, die Polizei hatte sie nach Hörensagen erstellt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit. Und je mehr Heranwachsende man vernahm, desto mehr verlor sich naturgemäß jede Sorgfalt.

»Eine Mitschülerin ist verschwunden«, sagte er scharf. »Besonders genug?«

»Das haben wir an dem Abend ja noch nicht gewusst«, nuschelte Muth trotzig. Dann, deutlicher: »Aber ich geb’s zu, ich war kurz da.«

»Kurz im Sinne von …?«

»Im Sinne von ›ich hab da was hingebracht und kurz mit abgehangen‹. Aber ich werde nicht sagen, was das war.«

Hellmer glaubte zu verstehen. Damals war es noch schwieriger gewesen, an gewisse Substanzen zu kommen. Illegaler. Verpönter. Dafür passierte es auch nicht so oft, dass man an schlecht verschnittenem Stoff krepierte.

»Dürfte ohnehin verjährt sein«, sagte er.

»Spielt so oder so keine Rolle mehr.«

»Wie war das zwischen Caspar und dieser Nicole? Haben Sie die beiden zusammen gesehen?«

Muth schüttelte den Kopf. »Das hätte ich Ihnen dann wohl auch vorher gesagt.«

»Weiß man’s?« Hellmer hob die Schultern. Dieses Vertrauen hatte Muth mit seiner Salamitaktik leider verspielt. Er rief sich die Ergebnisse der Spurensicherung ins Gedächtnis. »Auf einem Bettlaken in dem Raum, wo Caspar und Nicole verschiedener Zeugenaussagen nach zusammen gesehen wurden, hat man entsprechende Spuren gefunden. Spuren, die auf intime Aktivitäten hindeuteten. Leider führte man damals noch keine DNA -Proben durch, aber Anfang der Zweitausender wurde das Ganze noch mal mit modernen Methoden aufgerollt. Ohne Erfolg.«

»Hmm. Na gut.« Muth warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Ein sehr teures Modell, dafür brauchte man kein Experte zu sein. »Sind wir dann bald durch?«

Der Kommissar fühlte sich unwohl. Er hatte das Gefühl, nichts erreicht zu haben.

Er hatte sich bereits verabschiedet, als sein Blick an einem der Gemälde haften blieb, das einer Kinderzeichnung glich. Was man alles als Kunst bezeichnete, dachte Hellmer. Karel Muth war im hinteren Bereich verschwunden, und während Hellmer die Informationen auf dem Schild neben dem Bild las, hörte er, wie Papiere raschelten und Schalter gedrückt wurden. Dann trat Muth wieder aus dem hinteren Bereich hervor. Er trug einen Kamelhaarmantel, der ihm bis über die Knie reichte. Außerdem eine flache Aktentasche.

»Sie sind ja noch hier?«, wunderte er sich, und Hellmer nickte langsam.

»Ich hatte nur nach dem Kunstwerk geschaut. Ziemlich wenig Farbe für ziemlich viel Geld, finde ich.« Er drehte sich noch einmal zu Muth, als ihm etwas einfiel. »Aber noch was anderes: Wenn Sie am Montag in die USA reisen, wer übernimmt denn dann hier den Laden?«

Muth grinste spöttisch. »Na, Dorothea. Sie haben sie doch kennengelernt. Glauben Sie etwa, die würde hier irgendwen anderen reinlassen?«

»Nun ja. Sie sind auch hier.« Hellmer schoss etwas in den Sinn. Hatten Julia und er den Besuch bei Dorothea Bahl hier überhaupt erwähnt?

Muth lachte. »Klar, meine Rede ist von Außenstehenden. Wenn es dem alten Bahl nach gegangen wäre, hätte sie sich das mit Caspar geteilt.«

Hellmer funkelte den Mann an. »Also ist sein Ableben nicht unbedingt ein Verlust für Sie gewesen.«

»Touché. Aber zum Glück hat der Richter ja jemand anderen verurteilt. Und glauben Sie mir, ich wäre auch überall sonst untergekommen. Ich habe ein gutes Händchen, und wer weiß, irgendwann lasse ich diese Kleingalerie einfach hinter mir.« Muths Blick verklärte sich für einen Augenblick, dann schien ihn etwas auf der Straße abzulenken. Sekunden später zog er eine hämische Grimasse und rief: »Ha! Haben sie mal wieder jemanden erwischt. Jede Woche dasselbe Spiel. Die Leute lernen’s aber auch nicht.«

Hellmer verstand nur Bahnhof und drehte sich um. Draußen blitzte das orangefarbene Licht eines Transporters des Abschleppdiensts.

»Alle paar Tage blockieren Leute die Gleise, stehen auf dem Trottoir oder parken auf den Taxiplätzen«, hörte er Muth noch sagen.

Der Rest seiner Worte verhallte im Nebel.

Hellmer schnappte nach Luft. Das dort oben auf dem Wagen war sein Porsche 911 !

16 :30 Uhr

Andrea Sievers tänzelte zwischen den beiden Tischen hin und her, als Julia Durant im Institut für Rechtsmedizin eintraf. Linker Hand erkannte die Kommissarin die tote Prostituierte, Vivian Munz, rechts lag die Leiche von Aleksander Salim.

»Ihr haltet mich mal wieder ganz schön auf Trab«, kommentierte Sievers, und wie gewohnt trug ihre Stimme jene sarkastische Leichtigkeit, um die Durant sie manchmal beneidete. Wie konnte man all das Schlimme dieser Welt so von sich abperlen lassen?

»Ich hätte mir den Samstag auch anders gewünscht«, murrte sie. Dabei hatte sie sich freiwillig hierher begeben, weil jede andere Option noch viel unangenehmer gewesen wäre. Eine Flucht in die Pathologie. So weit musste man erst mal kommen! Aber ihr stand weder der Sinn nach verkopften Polizeioberen, die der Stadt einen neuen Skandal ersparen wollten, noch nach Alinas Wohnung, in der sich Claus und eine Seelsorgerin um die hinterbliebene Frau kümmerten. Und dann war da noch Clara. Sie versuchte, einen tiefen Atemzug zu nehmen, doch ihre Lunge fühlte sich wie blockiert an. Als habe jemand das untere Drittel mit Blei gefüllt.

»Man sieht’s dir an.« Andrea war herangetreten und streichelte ihr über die Schulter. »Herrje, wollen wir eine rauchen gehen?«

»Lieber nicht, aber danke für das Angebot.« Das Gefühl in der Lunge würde durch eine Zigarette sicher nicht besser werden. Julia musste unwillkürlich lächeln. »Nicht gerade der beste ärztliche Rat, hm?«

Andrea kicherte und erwiderte mit einem Zwinkern: »Man muss den Laden ja schließlich am Laufen halten.«

Damit verschwand die Leichtigkeit aus ihren Gesichtern, und Julia deutete auf den toten Salim. »Hast du ihn schon untersucht?«

»Noch nicht. Aber alles deutet darauf hin, dass sein Körper einfach aufgegeben hat. Du weißt, das kann jederzeit passieren. Die Schäden, die durch den Sauerstoffmangel verursacht wurden. Verzögerte Folgen seines Selbstmordversuchs …«

»… wenn es denn überhaupt einer war.«

Andrea stöhnte auf. »Bei aller Liebe, das werde ich dem Leichnam sicher nicht entlocken können. Aber ich gebe mein Bestes.« Ihre Stimme wurde kokett. »Willst du mitmachen? Das erspart mir, alles doppelt zu berichten.«

Durant zögerte kurz, dann nickte sie.

Andrea lächelte. »Prima. Du weißt ja, wo alles liegt.«

Damit meinte sie die Schutzkleidung, Haarnetz und Mundschutz. Für Julia ein gewohntes Terrain, auch wenn sie Obduktionen in letzter Zeit eher vermieden hatte. Bevor sie sich umziehen ging, deutete sie auf die tote Frau.

»Was ist mit ihr?«

»Fraktur am Hinterkopf. Dazu Würgemale. Die Frau hatte keinen nennenswerten Blutalkoholspiegel, aber in ihrem Magen fand sich unverdauter Wodka. In den Lungen wiederum Wasser mit einem Badezusatz.«

Julia versuchte, der Rechtsmedizinerin zu folgen. Das alles kam so schnell aus ihr herausgesprudelt, dass es wie ein einziger Widerspruch klang. »Moment mal, warte. Sie wollte sich betrinken, hat es aber nicht getan? So gemeint? Wie lange dauert es denn, bis man Hochprozentiges verdaut hat? Sie hatte doch noch einen Freier bei sich. Haben die beiden vor dem Sex was getrunken?«

»Kaum.« Andrea zog eine Grimasse. »Es sei denn, er war einer von der ganz schnellen Sorte.«

»Das kann nicht sein. Den Spuren nach wurde ihr die Kopfverletzung auf dem Bett zugefügt. Also während oder kurz nach dem Sex.«

»Na ja, vielleicht gab es ja erst Streit, als es ums Bezahlen ging. Aber was weiß ich …«

»Das wird in der Regel vorher erledigt«, wusste Durant. »Außerdem kommt ja noch das Badewasser dazu. Was genau ist denn die Todesursache?«

»Die ist tatsächlich nicht schön«, antwortete Andrea. »Sie hat noch gelebt, als er sie in die Wanne gelegt hat. Dann muss er sie ertränkt haben. Das einzig Positive daran ist, dass sie davon nichts mehr mitbekommen hat. Die Kopfverletzung war zu heftig. Das kann keiner überstehen, ohne bewusstlos zu werden.«

»Hmm. Und der Alkohol?«

Die Ärztin räusperte sich. »Ich hätte da schon eine Theorie, allerdings ist das mit Vorsicht zu genießen. Ich bin Ärztin, keine Kriminalbeamtin.«

»Und die wäre?«

»Der Täter hat sie vom Bett ins Bad getragen, um sie zu waschen. Spurenbeseitigung. Nackt war sie ja bereits. So etwas dauert, und sicher hat er bemerkt, dass sie nicht tot, sondern nur bewusstlos war. Also flößte er ihr eine größere Portion Alkohol ein. Was danebenging, wusch er gleich wieder ab. Dann ließ er ihr ein Bad ein und tauchte sie unter. Vielleicht hatte er die fixe Fantasie, dass man ihren Tod in der Badewanne dem Alkohol zuschiebt.«

Die Kommissarin schluckte hart. Auch wenn sie selbst derartige Hypothesen entwarf, so klangen sie aus einem anderen Mund immer schockierend.

»Da stecken eine Menge ›Wenns‹ drinnen. Erstens die Spuren, die wir am Bett gefunden haben. Und das mit dem Alkohol. Wie hat er den denn in ihren Magen bekommen?«

»Es gibt Druckstellen an der Nase, die dazu passen«, erklärte Sievers. »Können natürlich auch anderswoher stammen, aber auch ein bewusstloser Körper verfügt über den Schluckreflex.« Sie hob die Hände. »In den Kopf des Mörders kann ich natürlich nicht sehen.« Ihre Stimme senkte sich und bekam einen bedeutungsschweren Klang: »Es sei denn, du lieferst ihn mir hierher.«

Die beiden Frauen mussten lachen, auch wenn mindestens einer von ihnen überhaupt nicht der Sinn danach stand.

16 :45 Uhr

Der Kommissar schäumte noch immer, als er auf den Beifahrersitz des Ford Kuga sprang. Nur beiläufig nahm er wahr, dass seinem Kollegen Peter Kullmer, der sich sonst immer so selbstsicher und beschwingt gab, offenbar ebenfalls etwas auf der Seele lag. Vorläufig schimpfte Hellmer lauthals über die Stadt, wie sie sich die Kassen voll machte und dass man doch wissen müsse, wem der Porsche gehörte.

»Ich hab gedacht, er wäre abgemeldet«, sagte Kullmer, während er den Kuga unter dem Bogen der Rathausbrücke hindurchsteuerte, um anschließend auf den Kornmarkt abzubiegen.

Hellmer hatte ihn angerufen, nachdem er dem Abschlepper kurzzeitig hinterhergelaufen war. Mit den Armen um sich schlagend, sehr zum Amüsement vereinzelter Passanten. Vielleicht hätte seine Kondition ihn auch über den großen Zebrastreifen zwischen Paulsplatz und Römer hinaus getragen. Aber wollte er sich derart zum Affen machen? Und was sollte der Fahrer tun? Den Porsche wieder abladen, nachdem der Kommissar mit seinem Dienstausweis gewinkt hatte? Ein nicht zugelassenes Fahrzeug? Verdammt!

»Hör mir bloß auf! Ich habe die Nummernschilder als Andenken behalten.« Hellmers Stimme überschlug sich »Und auf diese Plaketten achtet doch auch sonst keine Sau!«

Kullmer lachte, auch wenn es nicht fröhlich klang. »Aber du hast halt nicht auf einem regulären Parkplatz gestanden«, gab er zurück. »Hast du denn angerufen?«

»Was glaubst du, was ich als Erstes gemacht habe? Laut Internet müsste auch noch jemand da sein – aber Pfeifendeckel!«

»Also landet deine Kiste jetzt irgendwo auf einem Abstellgelände?«

»Sag nicht Kiste«, murrte Hellmer. Der Rest stimmte aber wohl so weit. Der Porsche würde in eines von mehreren Depots gefahren werden. Genauere Auskünfte würde er frühestens ab Montagmorgen erhalten. Nicht zum ersten Mal bedauerte er, dass er zu geizig gewesen war, ein GPS -Modul im Wagen anzubringen. Dann hätte er ihn nun orten können. Sollte er jemals zu einem klassischen Porsche kommen, dann wäre das jedenfalls das Erste, was er einbauen lassen würde.

»Hör mal«, begann Peter, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. »Kannst du deinen nächsten Termin nicht auch alleine wahrnehmen? Ich fahre doch eh im Präsidium vorbei. Dort nimmst du dir einen Dienstwagen. Ich habe von diesem ganzen Bahl-Fall sowieso keine Ahnung.«

Nun erst bemerkte Frank, dass sein alter Freund heute nicht ganz derselbe zu sein schien. Dem Sonnyboy Kullmer, der immer etwas Verspieltes, immer seinen Charme und immer einen beneidenswert dunklen Teint hatte, fehlte es heute an Strahlkraft. Das war beim Einsteigen, ja, vielleicht sogar schon am Telefon so gewesen. Er hatte es vor lauter Wut nur nicht bemerkt. »Hey«, fragte er daher, »ist alles okay bei dir?«

»Bei mir schon«, antwortete Kullmer. »Aber Doris ist ziemlich schlecht drauf.« Er berichtete ihm von der Sache mit der vergewaltigten Joggerin.

»Scheiße«, murmelte Hellmer. »Ich dachte, mit den Überfällen wäre es jetzt endlich mal vorbei.«

Kullmer schüttelte den Kopf. »Dreckschweine gibt es immer. Aber das Schlimme dabei: Doris gibt sich die Schuld. Sie meint, sie hätte die junge Frau warnen müssen.«

»Aber woher hätte sie denn wissen sollen …«

»Das ist es ja!« Kullmer boxte aufs Lenkrad. »Sie ist diesen Kerlen ein paar Minuten vorher selbst begegnet. Hatte ein Scheißgefühl dabei, aber das kann auch eine Berufskrankheit sein. Und na ja, als Frau sind einem alkoholisierte Männergruppen ja leider immer unheimlich. Jedenfalls war sie erleichtert, als sie die Typen hinter sich gelassen hatte. Und dann ist ihr diese Joggerin entgegengekommen. Sie muss denselben Weg genommen haben wie Doris, nur eben andersherum.«

»Aber das hat sie doch nicht wissen können!«, rief Hellmer und hob die Hände.

Peter zuckte mit den Schultern. »Offenbar gibt es kaum andere Möglichkeiten. Ich kenne die Stelle nicht. Jedenfalls muss ich ihr ein wenig beistehen heute. Kriegen wir das hin?«

»Klar.« Frank nickte. Er behielt für sich, dass er viel lieber mit Peter zusammen zu Dorothea Bahl gefahren wäre. Sosehr dieser sich in früheren Jahren auch einen Ruf als Casanova verdient hatte, der jedem Rockzipfel hinterherjagte, so besonnen und einfühlsam konnte er sich in Vernehmungen geben. Wobei es in diesem besonderen Fall ohnehin vergebene Liebesmüh gewesen wäre, einen auf Gockel zu machen, denn Dorothea Bahls Neigungen gingen ja in eine andere Richtung.

Oder war das nur eine Farce? Je länger er darüber nachdachte, wie deutlich ihre sexuelle Neigung hervorgehoben worden war, ohne dass danach gefragt wurde … Aber dann wiederum stellte sich die Frage, was man damit bezwecken wollte. Egal, ob es nun der Wahrheit entsprach oder nicht.

Hellmer stieß einen tiefen Seufzer aus.

So gern er Peter Kullmer hatte, es war jemand anders, den er jetzt an seiner Seite brauchte. Julia Durant.

Aber darauf konnte er im Moment leider nicht hoffen.

17 :20 Uhr

Frank Hellmer drehte den Schlüssel, und der Motor verstummte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Wenn man den Angaben im Internet Glauben schenkte, war die Behörde des Straßenverkehrsamts noch eine Dreiviertelstunde lang zu erreichen. Er versuchte es erneut. Wieder nichts. Hellmers Kiefer mahlten. Er wollte seinen Porsche, aber er wollte nicht zum Gespött der Kollegen werden. Also war der höhere Dienstweg ausgeschlossen, und er würde bis Montag warten müssen, so wie jeder Normalbürger auch. Das schmeckte ihm zwar nicht, aber er musste sich jetzt auf Wichtigeres konzentrieren.

Dorothea Bahl öffnete ihm nach dem ersten Läuten. Er hatte sein Kommen nicht angekündigt. Die Frau sah zuerst ihn an, dann blickte sie in Richtung Dienstwagen.

»Diesmal ohne Verstärkung?«

In ihrer Stimme lag fast etwas Anzügliches, doch Hellmer sprach nicht darauf an. Entsprechend nüchtern reagierte er. »Nein.«

»Und was kann ich für Sie tun? Ich muss sagen, ich bin ein wenig verwundert …«

Hellmers Hand schnitt durch die Luft. »Verwundert, dass wir auch samstags arbeiten? Oder überhaupt arbeiten müssen? Oder dass wir einen Mordfall auch nach so vielen Jahren noch ernst nehmen?«

Selbst erschrocken über seine heftige Reaktion hüstelte er und rang sich ein Lächeln ab. Seine angesetzte Entschuldigung ging in Bahls Worten unter.

»Kommen Sie erst mal ins Haus. Ich wollte Sie nicht angreifen.«

»Ich Sie auch nicht.«

»Haben Sie Ärger?«

»Kann man so sagen«, murrte der Kommissar. »Ärger mit dem Auto.«

»Dachte ich mir schon. Letztes Mal waren Sie mit dem schicken Rover hier …«

»Reden wir nicht mehr drüber. Ich möchte mit Ihnen über Ihren Bruder reden. Über sein Verhältnis zu Muth und auch über Ihres.«

Bahls Miene verdüsterte sich. »Was haben all diese Dinge denn mit diesem toten Mädchen zu tun? Ist das ein verzweifelter Versuch, meinem Bruder diesen Mord in die Schuhe zu schieben, weil er sich nicht mehr wehren kann?«

Die beiden standen noch immer im Flur. Mutterseelenallein, ihre Stimmen hallten von den Wänden.

»Gibt es einen Grund, der Ihren Bruder als Täter ausschließt?«, gab Hellmer zurück.

Die Antwort kam frostig. »Ich dachte, unser Rechtssystem funktioniert andersherum. In dubio pro reo. «

»Trotzdem müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen. Und denken Sie an Nicole Geßlers Familie. Nicht nur, dass der Vater sich mit der Gewissheit auseinandersetzen muss, dass seine Tochter wirklich tot ist. Er muss seine verbleibenden Jahre auch mit dem Gedanken leben, dass der Mörder nie bestraft wurde.«

»Immerhin ist er tot«, sagte Bahl leise. »Ist das keine Strafe? Ich meine, falls er es war.«

»Muth hat zugegeben, ebenfalls auf der Party gewesen zu sein. Als Drogenkurier. Ihr Bruder und das Mädchen waren beide nicht zu sehen, vermutlich hatten sie sich irgendwohin zurückgezogen. Das deckt sich mit einigen alten Aussagen, die damals protokolliert wurden.« Hellmer hielt einen Moment inne. »Das, was Sie eben gesagt haben, klang übrigens nicht sehr zweifelnd.«

»Was meinen Sie?«

»Dass der Tod Ihres Bruders eine Strafe wäre.«

Dorothea Bahl schüttelte sanft den Kopf, ohne dass ihre Frisur verrutscht wäre. »Das ist mir nur so rausgerutscht.«

»Dann denken Sie bitte sehr gut nach, bevor Sie mir die nächste Frage beantworten. Haben Sie und auch Muth nicht beide von seinem Tod profitiert?«

»Na hören Sie mal!«

»Tut mir ja leid, aber solche Überlegungen gehören zu unserem Tagesgeschäft.«

»Dann fragen Sie doch mal seine Mörder!«

»Das würde ich gerne. Leider ist er nach seiner Haftentlassung unserem Kenntnisstand nach spurlos verschwunden.«

»Caspars Tod hat jedenfalls nichts mit dieser Kleinen von der Party zu tun«, sagte Bahl leise, aber bestimmt. »Und der Tod dieses Mädchens muss genauso wenig mit ihm zusammenhängen. Rumknutschen auf einer Party. Ich bitte Sie.«

»Wie war denn Ihr Verhältnis zu Caspars, hmm, Freundin? Also jener Frau, die mit ihm im Wagen gewesen ist.«

»Wie? Ach.« Bahl schüttelte sich. »Das weiß ich nicht so genau. Damals sind wir uns nicht sonderlich nahegestanden.«

»Haben Sie nicht alle hier im selben Haus gewohnt?«

»Na und? Haben Sie Dallas gesehen? Oder Falcon Crest? Nur weil man unter einem Dach lebt …«

»Ja, ja, schon gut.« Erst jetzt erkannte Hellmer, dass er diese Steilvorlage nutzen konnte. Er schmunzelte und fragte: »Heißt das also, es gibt einen ganzen Keller voller schmutziger Familiengeheimnisse?«

»Das hätten Sie wohl gerne.« Bahl zögerte kurz. Dann sagte sie: »Kommen Sie mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Der Kommissar folgte Dorothea Bahl in den hinteren Teil des Erdgeschosses. Ihre flachen Absätze gaben den Rhythmus vor, nur ein dumpfes Tappen, offenbar waren sie gummiert. An der schlanken Frau war kein Gramm Fett zu viel, ihr Hintern wippte mit Eleganz, nicht aufreizend. Ein Gedanke ging ihm durch den Kopf, ganz ungewollt. Es war ein schmerzlicher Verlust für die Männerwelt, dass diese Frau bloß im eigenen Revier wilderte. Im nächsten Moment schämte er sich dafür, denn erstens war er selbst mit einer wunderbaren Frau verheiratet, und zweitens gehörten solche Gedanken bestenfalls ins letzte Jahrhundert.

Genauso abrupt, wie sie losgelaufen war, blieb Frau Bahl stehen und legte die Hand auf den Griff einer Doppelflügeltür. Antikes Holz und Schnitzereien, entweder gut erhalten oder von einem Profi restauriert. Glasscheiben mit schwungvollen Gravuren. Dezente Farbgebung. Sämtliche Fugen wirkten gleich. Wer auch immer zuletzt an dieser Tür gearbeitet hatte, war ein Meister seines Fachs. Lautlos schwang der linke Flügel nach innen. Licht flammte auf. Hellmer folgte dem Wink ihrer Hand und trat ein. Es erwartete ihn ein quadratisches Zimmer. Die beiden hohen Fenster mit Stoff verhängt, der kein Licht hindurchließ. Zwischen den beiden Fenstern ein gigantischer Schreibtisch, der auf einem mindestens acht Meter langen Orientteppich stand. Der Läufer langte fast bis an Hellmers Schuhspitzen.

»Das Büro meines Vaters«, erklärte Bahl mit einem Beben in der Stimme, das wie Ehrfurcht klang.

»Hm.« Hellmer wollte nichts Falsches sagen, aber er hätte nicht viel anderes erwartet. Ein Mann mit einem Allmachtskomplex. Das passte. Er ließ den Blick über die Wände schweifen. Ein Bücherschrank gefüllt mit Antiquitäten. Edle Exemplare, von denen manches wohl den Preis seines Porsches erzielen würde. Ein Gedanke, der ihm gleich mehrfach sauer aufstieß. Vier Gemälde in massigen Goldschnörkelrahmen, Ölschinken, soweit er das von hier aus beurteilen konnte. Keine gemeinsame Stilrichtung. Das eine erinnerte ihn an die farbenfrohen Formen Picassos, ein weiteres zeigte trostlosen Nebel und blätterlose Äste, in einem verzweifelten Versuch, sich daraus zu lösen. Am meisten stach dem Kommissar allerdings das Gemälde direkt hinter dem Schreibtisch auf. Stilistisch am Selbstporträt Rembrandts orientiert, der sich vor Jahrhunderten mit Mantel, rotem Kittel und weißer Haube verewigt hatte, blickten aus drei Metern Höhe nun Gottlieb Bahls Augen auf das Ende des Teppichs. Prüfend. Ohne ein Lächeln. Er kannte das prominente Gesicht des alten Mannes, der sich im Rhein-Main-Gebiet einen Namen gemacht hatte. Das Bild zeigte ihn in einer ungewohnten Haltung. Die Frisur weniger füllig als die von Rembrandt. Aber ebenfalls eine Art Farbpalette mit Pinseln in der Hand. Die Botschaft war eindeutig.

Sei demütig. Es ist ein Privileg, wenn der Meister dich hier empfängt.

Er pfiff. »Da ist er also.«

»Das war er.« Bahl stülpte die Lippen nach außen. »Na ja. Und genau so war er.«

»Verstehe.«

Der Teppich und die Bücherwände verschlangen jeden Hall auf geisterhafte Weise. Sie sah den Kommissar an. »Das glaube ich nicht. Ich möchte Ihnen deshalb ein paar Dinge erzählen, mit denen wir normalerweise nicht hausieren gehen. Früher, als man sich noch Dinge erzählen konnte, ohne dass sie sofort ins Internet gelangten … als noch nicht jeder mit einer Handykamera in der Tasche herumlief … da war das anders. Mein Vater war ein Dagobert, so bezeichneten ihn seine Neider, aber auch seine wenigen Freunde. Meine Familie hatte nach dem Krieg eine Menge Glück, vielleicht ein Quäntchen mehr als andere. Aber er hatte nun mal ein goldenes Händchen. Die Amerikaner haben den Taunus ziemlich rabiat geplündert, das kann man nicht anders sagen.«

»Sie reden von Beutekunst …«

»Genau. Hier in diesem Haus trafen sich schon nach dem Ersten Weltkrieg ein paar Herren, die fünfzehn Jahre später namhafte Nazis waren. Nach dem Krieg kamen die Amis. Alles, was vorher an Kunst hier reingeschleppt wurde, haben sie mitgenommen oder zerstört.« Ihre Stimme wurde verschwörerisch. »Na ja, fast alles.«

»Wie meinen Sie das?«

»Als die Amerikaner das Haus in den Sechzigern freigaben, kaufte mein Vater es. Wie er das angestellt hat, darüber wurde nie viel gesprochen. Aber es war sicherlich hilfreich, dass es vor den beiden großen Kriegen meiner Familie mütterlicherseits gehört hat. Und, na ja, er war damals bereits ein einflussreicher Mann. Bei Renovierungsarbeiten hat er allerlei verborgene Schätze entdeckt. Einen Kronleuchter in einem entlegenen Winkel des Dachgebälks. Zwei verschollen geglaubte Gemälde von alten Meistern hinter einer Zwischenwand. Silberbesteck unter dem Parkett.«

Hellmers Augen weiteten sich. »Dann sind diese Gemälde also echt?«

Bahl lachte kehlig. »Wie? Ach nein! Der Otto Dix und auch der Chagall sind Kopien. Beide Maler waren in der Nazizeit verpönt, entartete Kunst. Vermutlich hat man sie deshalb versteckt. Undenkbar, wenn man diese Werke verbrannt hätte!«

»Wo sind die Originale jetzt?«

»Das ist ein anderes Thema. Ein dunkler Fleck, über den ich nicht gerne rede.«

Hellmer überlegte. Die Richtung, die seine Gedanken einschlugen, zeigte sich schnell. Millionenfache Enteignung und Deportation. Ein Massenmord, so perfide geplant und durchgeführt, der seinesgleichen suchte. Und besser niemals fand. Doch bevor er etwas sagen konnte, ergriff Frau Bahl schon wieder das Wort. Ihre Stimme klang fester, als sie auf das Bild mit den dürren Ästchen zeigte, die sich aus dem Nebel reckten.

»Das hier ist ein echter Caspar David Friedrich.«

Frank Hellmer schritt auf das Gemälde zu. Es war keine Seltenheit, dass sich berühmte Originale in Privatbesitz befanden. Eine Unart, wie er fand, denn solche Meisterwerke gehörten in Museen und sollten der Allgemeinheit zugänglich sein. Er prüfte sein Kunstwissen. Friedrich war doch der Maler, der den Mann mit Umhang und Gehstock vor einem Nebelfeld gemalt hatte. Von dem das Bild eines von Schollen zermalmten Eisbrechers stammte oder eine dschungelhaft verwucherte Kirchenruine. Das zumindest fiel ihm dazu ein. Diese Nebelsuppe hingegen kannte er nicht.

Offenbar hatte Dorothea Bahl seine Gedanken erraten, denn sie referierte: »Caspar David Friedrich hat Hunderte von Gemälden erschaffen. Neunzig Prozent davon wurden zerstört, die meisten bei der Bombardierung Dresdens. Es ist ein Jammer. Düstere Motive hat er häufig verwendet, nicht erst in seinen letzten Jahren. Sehnsucht, Abschied, Tod, Stille. Aber es ist auch immer dem Betrachter überlassen, wie genau man seine Bilder interpretiert. Kennen Sie den ›Wanderer über dem Nebelmeer‹?«

Hellmer nickte. Das war jener Mann mit dem Stock, von dem man nur den Rücken sah. Die Felsen, die aus dem Nebel ragten und auf die er herabblickte. Oder suchten seine Augen die Ferne?

»Was macht der Wanderer?«, fragte Bahl. »Ein depressiver Mensch wird ihm Gedanken an den Tod andichten, vielleicht steht er da und trauert um jemanden. Aber für einen Naturliebhaber verkörpert er vielleicht das Glück auf Erden. Er wandert – und dann solch ein Panorama.«

»Oder es ist beides«, entgegnete Hellmer. »Der Wanderer könnte todkrank und am Ende seiner Reise angekommen sein. Was nun folgt …« Er geriet ins Stocken.

»… liegt im Ungewissen. Im Nebel!« Dorothea Bahl klatschte begeistert. »Sehen Sie, und deshalb liebte mein Vater dieses Bild so sehr. Er hat uns immer wieder Geschichten erzählt, über Caspar David Friedrich, über dieses Bild und über seine Geschichte.«

»Wie ist es denn in seinen Besitz gelangt?«

Bahl zuckte mit den Augenbrauen. »Es hat den Krieg in einem Versteck überstanden.«

»Hm. Also war es damals schon im Familienbesitz?«

»Mindestens seit unserem Großvater, ja.«

»Und vorher? Ich meine, wann hat der Maler gelebt?«

»1774 bis 1840 . In den letzten Lebensjahren wurden seine Bilder immer düsterer, er wurde krank und war zeitweise nicht in der Lage zu malen. Seine Bilder verkauften sich nicht mehr so gut. Ich muss ein bisschen vorsichtig sein, denn die Geschichten, die Vater uns erzählt hat, waren immer reichlich ausgeschmückt. Der Wahrheitsgehalt lässt sich leider nicht mehr überprüfen, aber das Gemälde dürfte vor Mai 1835 entstanden sein. Da erlitt er einen Schlaganfall mit Lähmungserscheinungen und musste auf Kur ins Sudetenland. Das konnte er nur durch den Verlauf einiger Gemälde finanzieren. Eines davon war dieses.« Sie holte langsam Luft. »Na ja, und mein Großvater war Sudetendeutscher. Die halbe Familie stammt von dort, um genau zu sein.«

Hellmer neigte den Kopf. »Aber wurden die Deutschen nicht nach dem Krieg vertrieben?«

Bahls Blick verdüsterte sich. »Deportiert wäre das bessere Wort. Nur mit dem, was sie tragen konnten. Es ist eine Schande, dass die Beneš-Dekrete, die diese Vertreibungen damals ermöglichten, noch immer in der Verfassung der Tschechei erhalten sind! Spätestens zum Beitritt in die EU hätte das gestrichen gehört. Aber ich schweife ab. Meine Oma hatte Glück, sie kam halbwegs unbeschadet durch. Ihr Mann krepierte in einem der Internierungslager. Tut mir leid, aber das ist ein wunder Punkt in der Familiengeschichte.«

»Die Geschichte von damals ist ein wunder Punkt für alle«, erwiderte Hellmer.

»Mag sein.«

»Wir sprachen über das Gemälde.«

Ein Lächeln huschte über Bahls Gesicht. »Mein Vater hat es in den Siebzigern rausgeholt.«

»Rausgeholt?«

»Als der Krieg verloren ging, haben sie es im Schuppen eingemauert. Die Familie besaß ein Reihenhaus in einer winzigen Bergarbeitersiedlung außerhalb von Teplitz. Da ist wohl nie ein Soldat durchgekommen, egal, von welcher Armee. Erst später, als sie die Deutschen verjagt haben. Da gab man die Häuser an Landsleute, die irgendwo aus den entlegensten Gegenden stammten. Man blieb unter sich, man wohnte und arbeitete, als wäre es nie anders gewesen. Und die Häuser sehen heute noch genauso aus wie damals.« Diesmal blieb das Lächeln auf ihren Lippen haften, als sie fortfuhr: »Mein Vater wurde ja noch drüben geboren. Irgendwann ist er also nach Teplitz gereist, um seine Vergangenheit zu erkunden. Er wusste von dieser Familienlegende, und er fand auch das Reihenhaus noch vor. Oma hatte sich geweigert, dieses Land noch einmal zu betreten, aber sie muss es ihm genauestens beschrieben haben. Er verfügte über allerlei gute Kontakte, es floss dabei sicher auch nicht wenig Geld, aber irgendwann kehrte er mit diesem Bild hierher zurück. Er hat es zwischen Baumaterial, Holzbrettern und Glasscheiben aus dem Land geschmuggelt.«

Hellmer nickte und musste zugeben, dass ihn das Ganze beeindruckte.

»Ich weiß nicht genau, warum Sie mir das zeigen wollten … aber Ihr Vater muss tatsächlich ein willensstarker Mann gewesen sein.«

»Oh, ja.« Bahl nickte, und ihr Blick verlor sich für wenige Sekunden. »Das – und ein tiefer Verehrer von Caspar David Friedrich. Es ist kein Zufall, dass wir beide nach ihm und seiner Schwester benannt sind.«

Hellmer musste grinsen. Natürlich. Das passte zu Gottlieb Bahl. Etwas in der Miene seiner Tochter brachte sein Vergnügen zum Erliegen.

»Sie finden das vielleicht witzig …«

»Nein, verzeihen Sie. Ich habe es nur eben erst zusammengebracht. Ihr Vater hat wirklich nichts dem Zufall überlassen.«

»Nein. Wahrlich … Wäre der Geburtstermin nicht schon im Mai gewesen, er hätte meiner Mutter vermutlich aufgezwungen, uns bis September im Leib zu halten. Damit wir auch noch dasselbe Geburtsdatum wie CDF haben. 5 . September 74 .« Sie lachte bitter. »Es war jedenfalls nicht einfach, als kleine Kopie eines großen Namens aufzuwachsen. Für David nicht und für mich später auch nicht. Schon vor seinem Tod musste ich mir immer anhören, dass die alte Catharina einst zwölf Kinder gebar. Und das war keine Gutenachtgeschichte. Das steckte eine klare Erwartungshaltung dahinter, die sich spätestens mit dem Tod meines Bruders zu einem Zwang aufbaute.«

»Blöd nur, dass man dafür einen Mann braucht«, kommentierte Hellmer, ein wenig platt, wie er sofort fand.

»Das wissen Sie also auch schon.«

»Es scheint kein großes Geheimnis zu sein, aber ein erwähnenswertes Detail. Finden Sie nicht?«

»Wieso? Sie haben sich doch auch nicht vorgestellt mit ›Hellmer, Kripo Frankfurt und heterosexuell‹.«

»Ich stehe auch nicht im Fokus einer Mordermittlung«, konterte dieser.

»Trotzdem frage ich mich, was mein Liebesleben relevant macht?«

»Das entscheiden wir im Verlauf der Ermittlungen. Wusste Ihr Bruder davon?«

»Noch mal, welche Bedeutung soll das haben? Für ihn und auch für seinen Tod?«

Hellmer spürte, dass er so nicht weiterkam. »War sein Tod nicht ein Schock für Ihren Vater?«

»Allerdings. Das hatte sein Masterplan nicht vorgesehen. Es hat ihn ziemlich aus der Bahn geworfen. Aber auf seine ganz spezielle Art. Nicht etwa so, dass die Familie dadurch zusammengerückt wäre. Dass es Herzlichkeit und Emotionen gab. So ticken die Uhren hier nicht.«

»Aber es hat Ihr Verhältnis zueinander verändert.«

Dorothea Bahl lachte erneut auf. »Ja. Sie erinnern sich an die zwölf Kinder? Jetzt war ich die letzte Hoffnung der Familie. Ein Stammhalter musste her. Und ich sollte diejenige sein, die ihn liefert.«

Hellmer räusperte sich und tat unwissend. »Haben Sie?«

Bahl schnaubte. »Sehen Sie hier irgendwo ein Kind rumlaufen?«

»Touché. Darf ich fragen, was nun mit dem Erbe ist?«

»Das deutsche Recht sieht ja einen Pflichtteil vor.« Sie zwinkerte. »Wenn der Kuchen groß genug ist, können auch zehn Prozent davon mehr sein, als man essen kann.«

Hellmer nickte. »Und der Rest? Irgendwo muss das ja mal hingehen …«

»Wer sagt denn, dass ich kinderlos bleiben werde?«, fragte die Hausherrin spitz.

Hellmer war sprachlos. Gewiss, es waren andere Zeiten angebrochen. Eine Frau (ob lesbisch oder nicht) konnte ohne Probleme ein Kind haben. Und Dorothea Bahl war eine Frau, die willensstark genug schien, um ihre Ziele durchzusetzen.

Ob sie es wollte oder nicht: Sie war ein würdiges Abbild ihres Vaters. Eine neue Generation Bahl, aber immer noch eine, die sich das Steuer nicht aus der Hand nehmen ließ.

17 :45 Uhr

Julia Durant lauschte den Wellen des Mainwassers, die ans befestigte Ufer schwappten. Meist nur ein Glucksen, hier und da ein Platschen. Es war fast windstill, kein Schiff schnitt seine Bugwellen in den Fluss, an der Promenade war kaum etwas los. Womöglich lag es an dem Nieselregen. Die Kommissarin hatte ihren Dienstwagen spontan in eine Parklücke gesteuert, um ein paar Schritte zu gehen. Sie massierte sich die Schläfen, um gegen das Stechen anzukämpfen. Erfolglos. Jeder Schritt schien ein neues Problem aufzutun, dagegen musste sie ankämpfen. Nur dann würde sie den Schmerz besiegen.

Claus Hochgräbe und seine neue Familie. Der Krebs seiner Tochter. Was konnte sie tun, außer verständnisvoll zu sein und die Dinge hinzunehmen? In guten wie in schlechten Zeiten. So lautete die Devise, und diese galt nicht erst ab Mai, wenn ein Standesbeamter ihnen den Trauschein stempelte. Ja, sie würde das hinkriegen. Sie hatte noch nie eine Anstrengung gescheut, und diese Beziehung war es mehr wert als jede zuvor!

Aleksander Salim. Unfall oder Mord? Sie musste sich eingestehen, dass sie die Falsche war, um das aufzuklären. Sie würde sich weder in die Strukturen des Männervollzugs hineindenken können, noch konnte sie sich undercover dort hineinwagen. Ob es ihr gefiel oder nicht: Das war ein Fall für Uwe Liebig. Ein Fall, in dem er sich ganz nach seinen fragwürdigen Maßstäben entfalten konnte. Sie musste lernen, das zu akzeptieren.

Im Gegenzug würde sie sich auf die Mordermittlung im Bahnhofsviertel fokussieren. Liebig hatte sich immer noch nicht gemeldet, sie hatte es vermieden, ihm hinterherzutelefonieren. War er weitergekommen, oder hatte sich Vivian Munz’ Zuhälter nur als Luftnummer entpuppt? Ihre Hände tasteten nach dem Smartphone. Sie musste ihn anrufen. Zuerst noch ein paar Schritte, eine letzte Runde auf dem Gedankenkarussell.

Frank Hellmer konnte sich den alten Fall vornehmen. Schaffte er das alleine? Bestimmt. Er war ein toller Ermittler, und wenn Julia jemandem zutraute, sich in der Welt der Reichen und Mächtigen souverän zu bewegen, dann war er es. Sie musste sich ja nicht ganz raushalten. Aber noch immer hatte sie das Gefühl, nur die Spitze des Eisbergs zu kennen. Für mehr fehlte ihr aber die Kapazität.

Wie musste das erst als Kommissariatsleiter sein? Claus Hochgräbe hatte den Anspruch, immer alles wissen zu wollen. Am besten in Echtzeit. Diesen Ausflug hatte sie einmal gewagt, das genügte. Wobei sich Claus ja nun früher zurückzog als erwartet. Irgendjemand musste diese Lücke füllen, ob man nun wollte oder nicht.

Dann musste sie an Doris und Peter denken. Weniger an die Arbeit selbst, sie bekam den Gedanken nur flüchtig zu greifen. Irgendwas war bei den beiden im Busch, das spürte sie, aber das war komplett an ihr vorbeigegangen. Ärger im Paradies? Das wollte sie nicht glauben. Sie waren alle bestens gelaunt aus dem Weihnachtsurlaub zurückgekehrt. Elisa war Julias Patenkind. Sie beschloss, sich bei nächstbester Gelegenheit mit dem Mädchen zu verabreden. Patin war man schließlich nicht nur an Weihnachten und Geburtstag.

Während ihre Finger im Kontaktverzeichnis nach Liebigs Eintrag suchten, musste Durant an Alina Cornelius denken. An die Wohnung. Was würde mit Salims schwangerer Freundin passieren?

Ihre Schläfen schmerzten noch immer.

Uwe Liebig meldete sich nach dem ersten Freizeichen.

»Gerade richtig«, verkündete er.

»Richtig wofür?« Seit ihrem Trip in den Westhafen waren über drei Stunden vergangen. Mit einem Vorwurf im Unterton ergänzte Durant: »Ich hab gedacht, du meldest dich mal.«

»Erst die Pflicht«, kam es zurück. »Jedenfalls sitzen wir hier im Präsidium, und der Typ ist reif. Du musst nur noch zum Pflücken kommen.«

»Wie, Moment, du hast ihn verhaftet?«

»I wo. Einkassiert hab ich ihn. Mal für ne Weile. Er war so großkotzig, da dachte ich, wir ärgern ihn ein wenig …«

»Verdammt!«, zischte die Kommissarin. »Ich hab dir doch gesagt, dass er seinen Frust an den Frauen auslässt. Warum kriegt ihr das bloß nicht in eure Männerschädel?«

»Entspann dich mal. Komm hierher, und dann reden wir weiter.«

Es knackte in der Leitung. Hatte er tatsächlich aufgelegt?

Julia Durant schäumte. Aber wenigstens ihre Schläfen spielten nun nicht mehr die Hauptrolle.

18 :05 Uhr

Kaum, dass der Kommissar das Familienanwesen verlassen hatte, hörte Dorothea Bahl ein Geräusch aus dem oberen Stockwerk. Sie fröstelte und spürte, wie die Gänsehaut sich unter dem dünnen Stoff ihrer Bluse ausbreitete. Sie rubbelte sich über die Unterarme und schritt durch den unteren Flur in Richtung Treppe.

Niemand war heute hier. Neben einem Hausmeister, der nur bei Bedarf erschien, und einer Gartenbaufirma, sie sich turnusmäßig um die anfallenden Arbeiten auf dem Außengelände kümmerte, gab es lediglich eine Haushälterin. Eva Schuhmacher. Ein altes, schwerhöriges Weib, die noch zu Lebzeiten ihrer Eltern eingestellt worden war und mit der die beiden Geschwister praktisch aufgewachsen waren. Eva gehörte damit zum Inventar des Hauses, auch wenn sie längst den Ruhestand hätte genießen können. An den Wochenenden allerdings hatte sie frei, und da gab es auch praktisch niemals eine Ausnahme.

Dorothea fuhr zusammen, als auf halbem Weg nach oben eine Person aus dem Schatten trat. Er. Ihre Beine fühlten sich mit einem Mal an wie Blei, und nur mit Mühe und in Zeitlupe nahm sie die restlichen Stufen. Mit Teppich belegte, breite Tritte, auf denen man nicht stieg, sondern schritt. So kam es auch nicht von der Anstrengung, dass ihr Herz bis unters Kinn pochte.

»Die Bullen wieder?«, krächzte seine Stimme, und der Klang der Worte machte eine Antwort auf die Frage überflüssig. Er wusste es. Er wusste einfach alles.

»Ja«, erwiderte sie dennoch. Im selben Augenblick erreichte sie den oberen Treppenabsatz. »Aber diesmal nur einer.«

»Was hat er gewollt?«

»Immer dieselben Fragen. Sie wissen nichts Neues.«

»Du hast ihm das Büro gezeigt.«

»Na und?«

Dorothea wusste, was als Nächstes passieren würde. Sämtliche Worte, die sie wechselten, waren nur eine Ouvertüre. Ein Vorspiel, mit dem er sie quälte.

Er genoss es sichtlich, wenn sie auf das Unvermeidliche wartete. Wenn sie sich wand, wenn ihr Körper zuckte. Wenn er seine Macht spürte.

Als er der Worte müde war, trat er an sie heran und griff ihren Hinterkopf. Zwang ihr die Zunge in den Mund und gab einen animalischen Laut von sich. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie auch schon herumgedreht. Seine Hände rissen ihre Blusenknöpfe so heftig auseinander, dass sie abrissen und zu Boden fielen. Der BH schnalzte auf. Als Nächstes spürte sie ihn vorne in ihrer Hose, während er seine hart gewordene Männlichkeit lüstern an ihrem Hintern rieb.

Dann schob er sie in Richtung des Treppengeländers.

»Hier?«, entfuhr es ihr unter schwerem Keuchen.

»Ist doch keiner da«, schnaufte er, während er ihr die Hose herunterzog und dann seinen eigenen Unterleib freilegte.

Er nahm sie von hinten, in harten, schmerzhaften Stößen. Und als er sich in sie entlud, war es kein Feuerwerk der Liebe, sondern nichts als die eigene Lust über seine Dominanz. Er tat, was er tun konnte, was er sich selbst erlaubte. Weil er die Macht dazu besaß.

Ihr wurde übel, doch sie zeigte es nicht. Sie nahm es schweigend hin, wie all die Male zuvor. Teilnahmslos, um ihm nicht auch noch den Triumph zu verschaffen, den ihm angstvolles Wimmern beschert hätte.

Dann hörte sie ein Geräusch, und ihr Kopf flog herum.

Sie sah in ein Paar Augen, die so weit aufgerissen waren, dass die Augäpfel jeden Moment herauszufallen drohten. Sie wusste, dass er dasselbe sah.

Seine Bewegungen erstarben, genau wie ihre, und eine unheilvolle Stille breitete sich aus.

Die Zeit – und wenn es auch nur für ein paar wenige Sekunden war – war mit einem Mal wie eingefroren.

18 :15 Uhr

Luca Novak saß an einem Tisch in einem fensterlosen Zimmer. An der Wand hingen weder eine Uhr noch ein Kalender, es standen weder ein Aufnahmegerät noch etwas zu trinken bereit. Einfach nur ein muskelbepackter Stiernacken von eins neunzig mit zu klein geratenen Augen, die dennoch hervorstachen. Vielleicht lag es an ihrer Dunkelheit, die trotz des Solariumteints und der schwarzen Haare ein deutlicher Kontrast war.

Uwe Liebig wartete an der angelehnten Tür, die gerade so weit offen stand, dass die Kommissarin einen Blick ins Innere werfen konnte. Kaum hörbar, aber voller Vorwürfe raunte sie ihm zu: »Was soll der Scheiß?«

Liebig grinste und zog die Tür zu, bis das Schloss klickte. »Ich sagte doch, ich wollte ihn ein bisschen ärgern.«

»Und ich sagte vorher, dass wir das behutsam angehen müssen.«

»Klar. Als ob uns dieser Fleischberg mit ›behutsam‹ auch nur einen Piep gesagt hätte.« Er winkte ab.

»Hat er denn was gesagt?«

Wieder ein Grinsen, ziemlich überheblich, wie Durant fand. »Er hat zugegeben, dass Selina Jacob das Opfer schon gestern Abend aufgefunden hat.«

»Und warum …«

»Warte doch einfach, ich bin ja noch nicht fertig. Ich habe ihn weiter in die Mangel genommen. Der Trick mit den Fingerabdrücken, du erinnerst dich? Hat auch beim zweiten Mal bestens funktioniert. Jedenfalls ist er am Ende damit rausgerückt, dass er selbst sie gefunden hat.«

Durant nickte anerkennend. »Gut. Aber warum er? Hält er sich nicht normalerweise raus?«

»Schon. Aber Frau Munz hatte einen weiteren Termin. Normalerweise gibt sie Bescheid, wenn ein Freier die Wohnung verlässt. Und dann kommt irgendwann der nächste. Das ist im Prinzip wie im Laufhaus, nur eben mit festem Termin.« Liebig zog eine Grimasse. »Also quasi die Privatpatienten unter den Freiern.«

Durant schwieg, sie verarbeitete die Informationen noch. Ihr Kollege fuhr fort: »Gut. Jedenfalls ist Novak hin, nachdem ihre Meldung ausblieb. Hat aufgeschlossen und ist reingegangen. Da lag sie in der Wanne. Das Wasser war warm, sie lag darin. Auch noch warm.«

»Hat er versucht, sie zu retten?«

»Er hat ihr den Puls gefühlt und die Atmung gecheckt. Aber da war nichts mehr.«

»Hmm. Gibt’s dazu auch eine Uhrzeit?«

Liebig nickte. Er warf einen Blick auf seine Notizen. »Wir müssen das noch mit Andreas Daten abgleichen, anhand der Zeitangaben scheint das ja wohl schlüssig zu sein.«

»Bleibt noch die Frage nach dem Handy des Opfers.« Durant versuchte sich zu erinnern. »Ist da schon irgendwas aufgetaucht? Sie muss doch mindestens ein Smartphone besessen haben oder einen Computer oder ein weiteres Gerät für private Zwecke.«

Liebig schüttelte den Kopf. »Ich weiß von nichts.«

»Dann hat es jemand verschwinden lassen.«

»Mag sein. Tippst du da auf den Täter? Immerhin müssten seine Kontaktdaten ja in ihrem Gerät zu finden sein.«

»Genau.« Durant sah in Richtung der Tür. »Aber parallel dazu hat er da drinnen sie sicher auch.«

»Er behauptet, er wisse nichts darüber.«

»Das soll er mir selbst erzählen. Hast du euer Gespräch aufgezeichnet?«

Liebig zwinkerte vielsagend. »Offiziell nicht.« Dabei tippte er sich an die Hosentasche. Die rechteckige Ausbeulung unter dem Jeansstoff zeichnete ein Bild, bei dem es wenig Raum für Interpretationen gab.

»Verstehe.« Durant legte die Hand an die Klinke, zögerte dann aber. »Was genau hast du mit dem Kerl abgezogen? Irgendwas, das ich wissen muss, auch wenn ich’s wahrscheinlich gar nicht wissen will?«

Liebig räusperte sich. »Es war im Grunde ganz leicht. Ich habe ihm gesagt, wenn er nicht kooperiert, fahren wir ihn mit einer Kolonne von Streifenwagen zurück in den Westhafen. Mit einem Schlenker durchs Bahnhofsviertel versteht sich. Und ich verbreite auf beiden Seiten des Mains, dass er uns eine große Hilfe war und bereitwillig ausgepackt hat.«

Bevor Durant etwas erwidern konnte, legte der Kommissar ihr hastig eine Hand auf den Unterarm und ergänzte: »Das Gleiche würde übrigens auch passieren, wenn eine seiner Damen in den kommenden Wochen auch nur den kleinsten Hinweis auf ein Veilchen aufweist. Du siehst: Ich habe dein Anliegen durchaus ernst genommen – und er wird das auch tun, da habe ich keinerlei Sorge.«

»M-hm.« Julia Durant entschied sich, nichts weiter dazu zu sagen. Uwe Liebig mochte ein Sonderfall sein, und sie würde vermutlich Monate brauchen, um auch nur ansatzweise mit seinen Methoden und seiner Einstellung klarzukommen. Aber seine Vorgehensweise verfügte über eine simple Effektivität, das musste der Neid ihm lassen. Früher hatte man alle Gespräche so geführt. Heutzutage brauchte man schon einen Anwalt, bevor man im Vernehmungsraum das Licht einschaltete. War das Justizsystem dadurch besser geworden? Oder stellte es sich am Ende selbst ein Bein?

Sie wischte den Gedanken beiseite und betrat den Raum.

Novak spannte sich an, als wolle er aufstehen. Als er Durant erkannte, ließ er sich zurücksinken und drehte die Augen in Richtung Zimmerdecke. »Wie lange soll das noch dauern hier?«

»Wenn wir fertig sind, können Sie gehen.«

Eben noch hatte Durant den Impuls gehabt, den Mann nach ein paar Fragen gehen zu lassen. Doch wenn es etwas gab, was sie auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann diese Art von Männern, die sich mit dem Verkaufen von Frauen befassten. Die sich als deren Beschützer ausgaben und gleichzeitig auf ihre Würde spuckten.

Betont langsam zog sie den Stuhl zurück, nahm darauf Platz und spielte mit den Fingern. Irgendwann hob sie den Kopf und lächelte den Mann an. »Mein Name ist Julia Durant. Ebenfalls Mordkommission, genau wie mein Kollege.«

»Schön für Sie.«

Sie überhörte seine Ablehnung. »Ich möchte noch einmal die Fakten durchgehen.«

»Ich aber nicht! Ich will einen Anwalt!«

Julia Durant neigte den Kopf und tat irritiert. »Hmm. Ich dachte, mein Kollege hätte die Modalitäten alle schon ausgehandelt. Sie haben natürlich das Recht auf einen Anwalt, im Grunde können wir Sie auch sofort zurück in Ihre Wohnung bringen. Oder Sie steigen direkt in der Elbestraße aus. Wenn Ihnen das nichts ausmacht …«

Ein verbissener Fluch in einer fremden Sprache knurrte wie ein heranrollendes Gewitter durch den Raum. Dann: »Okay, ist ja schon gut. Aber ich habe ihm alles gesagt.«

»Sagen Sie’s mir noch mal.« Sie lächelte. »Doppelt hält besser. Beginnen wir damit, als Sie an der Badewanne standen.«

»Hä?«

»Was haben Sie gemacht?«

»Na ja … sie sah irgendwie tot aus. Das Licht. Ihre Haut. Der Gesichtsausdruck.«

»Und weiter?«

»Ich habe ihr die Stirn gefühlt. Sie war warm. Das Badewasser auch. Danach den Puls. Außerdem habe ich gehört, ob sie atmet. Auf ihre Brust geschaut. Sie war ja nackt. Aber da war nichts, gar nichts

»Wo kamen Sie denn her?

»Ich war in der Nähe.«

»Erzählen Sie es mir.«

Novak strengte sich an. Durant hatte die Fragen bewusst an diesem Punkt angesetzt. Wenn er tatsächlich die Wahrheit sagte, dann konnte er die Geschehnisse auch rückwärts wiedergeben. Bei Lügenkonstrukten gelang das meist nur schwer. Aber alles klang so weit plausibel, genau, wie Liebig es auch eingeordnet hatte.

Durant machte sich vereinzelt Notizen. Danach fragte sie noch ein paar Einzelheiten ab, wie das System dieser sogenannten Hobbyhuren bei ihm funktionierte. Zuerst wollte er das Ganze kleinreden, aber nachdem sie ihm zugesichert hatte, dass sie nur die Mordermittlung interessiere, rückte er mit ein paar Informationen heraus. Alles in allem aber wenig Neues.

»Und das Smartphone von Vivian Munz haben Sie mitgenommen«, sagte sie ihm schließlich auf den Kopf zu.

»Was?«

»Das Smartphone. Mit ihren letzten Terminen. Wir können das Gerät natürlich orten, aber es wäre besser …«

»Ich habe das nicht!«

»Aber wer soll es denn sonst …«

»Der Mörder? Keine Ahnung! Ich habe es jedenfalls nicht!«

»Hmm. Wie gesagt«, Durant verfiel in ein geschäftiges Murmeln, »das lässt sich alles herausfinden.«

Sie notierte sich demonstrativ etwas. So riesig der Typ auch war, zwischen seinen Ohren arbeitete jedenfalls kein überdimensionales Gehirn.

»Ich habe die Daten aber auch bei mir«, verkündete er, und sie unterdrückte ein Grinsen.

»Das wäre für uns sehr wichtig. Haben Sie irgendein Foto, eine Handynummer, eine Adresse oder sonst was von ihrem letzten Freier?«

»Nur eine Nummer. Er hatte kein Smartphone. Normalerweise machen wir das nicht, aber manchmal …«

»Wer entscheidet darüber?«

»Na ich.«

»Ich dachte, die Frauen können mitbestimmen?«

»Vivian hat sich beim ersten Mal mit ihm in einer Bar getroffen. Ein Live-Treffen war Bedingung. Danach sind sie zu ihr gegangen.«

»Und wann war das?«

»Vor drei, vier Wochen. Müsste ich nachsehen.«

»Tun Sie das bitte. Wie viele Treffen hat es seitdem gegeben?«

»Drei, soweit ich weiß. Auch das kann ich …«

»Schon klar. Also hat Vivian sich nicht bedroht gefühlt. Hatten Sie das Gefühl, sie hat sich gerne mit ihm getroffen?«

»Gerne? Weil er gut zahlte?«

»Oder weil Gefühle ins Spiel kamen?«

Novak lachte schallend. »So eine Frage ist typisch Frau.«

»Wieso?«

»Pretty Woman gibt’s nur im Kino. Vivian war bei den Männern beliebt, sie konnte sich ihre Termine meistens aussuchen. Viele Stammkunden. Aber das war’s auch schon. Kunden. Freier. Pinkepinke.« Er rieb die Fingerspitzen aneinander.

»Haben Sie sie deshalb nicht besser beschützt?«

Der Muskelberg schluckte hart. »Ich habe den Typen beim ersten Treffen abgecheckt, so wie ich das bei allen mache. Aber wenn’s mal läuft, muss ich nicht jedes Mal Händchen halten gehen.«

»Gibt ja schließlich noch mehr Frauen, die Sie beschützen müssen«, gab Durant zurück, nicht ohne einen zynischen Unterton.

Novak verschränkte die Arme. »Wenn dreimal alles gesittet abläuft, warum sollte dann plötzlich …« Er sprach nicht weiter, sondern sah ins Leere.

Durant fing einen Gedanken ein, der ihr fast entflohen wäre. »Sie haben gesagt, Sie haben den Typen ausgecheckt. Was heißt das?«

»Ich war vor der Bar.«

»Und haben ihn gesehen? «

»Klar.«

Durant breitete die Hände aus. »Schon alleine deshalb müssten wir Sie eigentlich abstrafen! Wollten Sie das denn jemals aussagen?« Sie schüttelte sich. »Wie hat er ausgesehen? Ist er mit dem Auto gekommen? Haben Sie ein Kennzeichen? Wo ist er nach dem Treffen hingegangen?«

»Eins achtzig, mittlere Statur, mittleres Alter, normale Kleidung. So wie wahrscheinlich jeder dritte Kerl in Frankfurt. Kam zu Fuß. Ging zu Fuß. Ende der Geschichte. Hätte er eine Augenklappe, eine Prothese oder sonst was Auffälliges an sich gehabt, würden Sie das längst wissen.«

»M-hm. Vermutlich von Frau Jacob. Weil die beiden über solche Dinge gesprochen haben.«

Ein Grinsen zuckte im Gesicht des Mannes auf. »Möglicherweise.«

»Warum haben Sie ausgerechnet sie damit beauftragt, uns anzurufen?«

»Herrje. Es war Freitag. Das Haus war voll. Am Wochenende ist Hochkonjunktur. Am liebsten hätten wir sogar noch bis morgen gewartet, aber ich wollte nicht, dass es stinkt. Und am allerliebsten wollte ich selbst überhaupt nicht in Erscheinung treten. Sie wissen ja. Mit Bullen redet man nicht.«

»Da schickt man lieber ein Schäfchen vor, das vor lauter Angst vor den Wölfen alles tut, was es soll.«

Novak rollte die Augen. »Wir hielten das für eine gute Idee. Wenig Aufhebens, wenig Chaos. Es bringt doch keinem was …«

»Ich hoffe, Sie erinnern sich daran, wenn Sie sich wieder um Ihre Frauen kümmern«, sagte Durant fordernd. »Ansonsten sehen wir uns schneller wieder, als es Ihnen lieb ist. Aufhebens und Chaos inklusive.«

Novak nickte langsam. »Dasselbe Gespräch hatte ich schon mit Ihrem Kollegen.«

Er stand auf, und Durant sagte noch »Dann ist ja gut«, während sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie er sich in die Rippengegend fasste und einen gepressten Atemzug ausstieß.

Verdammt noch mal.

Hatte Uwe Liebig etwa …

Sie wollte es nicht wissen.

19 :05 Uhr

Das Büro roch muffig, dabei war es in den vergangenen Tagen nicht oft genutzt worden. Julia Durant ließ das Licht ausgeschaltet – es war hier ohnehin nie richtig dunkel – und nahm auf ihrem Schreibtischstuhl Platz. Der Stuhl gegenüber war leer. Für eine Sekunde überlegte sie, Frank Hellmer anzurufen. Sie brauchte jemanden, der ihr nahestand. Der wusste, wie es in ihr aussah. Claus hatte sich noch immer nicht gemeldet, sie wollte ihn nicht stören. Aber was hätte sie jetzt dafür gegeben, mit Frank eine Currywurst zu essen und dazu eine Dose Bier zu trinken. Auch wenn sie die Lust auf ein Bier in der Gesellschaft ihres Kollegen meistens unterdrückte. Man musste es einem trockenen Alkoholiker nicht schwerer machen, als es ohnehin schon war. Doch darum ging es im Moment nicht. Es ging um Lebensfreude, um Leichtigkeit. Nicht einmal das Radio wollte die Kommissarin anschalten, denn immer wieder war dort von dieser unheimlichen Lungenkrankheit die Rede, die sich wie ein Lauffeuer ausbreitete. Das China-Virus. Wieso hatte man nicht besser darauf geachtet, dass dieses bescheuerte Ding eingedämmt wurde? Vielleicht sah sie die Welt aber auch einfach zu depressiv. Jetzt, wo man darüber sprach und davon wusste, würde das Ganze schon nicht außer Kontrolle geraten. Das Leben war immerhin kein Katastrophenfilm, auch wenn es sich manchmal so anfühlen mochte. Es war eine Art Trotzreaktion, als sie den Computer hochfuhr und sich auf eine Brautmodenseite klickte. Drei Monate noch, dachte sie, und eine angenehme Wärme ergriff sie. Im Mai würde sie heiraten.

Dieses Mal den Richtigen. Den Mann fürs Leben.

Als sich Durants Handy meldete, zuckte sie zusammen, als habe man sie bei etwas Verbotenem erwischt. Andrea Sievers.

Können wir kurz telefonieren?

Sofort tippte die Kommissarin auf die entsprechenden Symbole, und der Ruf baute sich auf.

»Das nenn ich mal prompte Bedienung«, scherzte die Rechtsmedizinerin. »Mein Display war ja noch nicht mal dunkel.«

Durant war nicht nach Späßen zumute, doch dem Wesen ihrer Kollegin konnte man sich nur schwer verschließen. Sie schmunzelte: »Das ist jetzt der neue Standard. Gilt auch für dich.«

»Probst du etwa schon für den Chefsessel?«

Dieser Stich traf Julia ungewollt empfindlich. »Hör mal, Andrea, du weißt doch …«

»Mensch, das war doch nur so dahingesagt! Aber lassen wir das. Du brauchst dein dickes Fell, wenn ich dir gleich das restliche Wochenende auch noch versaue.«

Julias Puls beschleunigte sich. Andrea machte es gerne mal spannend, aber dafür lieferte sie dann auch die entsprechenden Ergebnisse. Keine Wolkenschlösser.

»Okay, ich bin ganz Ohr.«

»Du erinnerst dich an den erstochenen Typen vom Mainufer?«

Tatsächlich dauerte es ein paar Sekunden, bis sie den Fall auf dem Schirm hatte. Insgeheim hatte Julia Durant mit etwas völlig anderem gerechnet. Gehofft. Hinweise auf den vermuteten Gefängnismord. Spuren, die das skelettierte Mädchen freigegeben hatte, auch wenn die Chancen gen null gingen. Stattdessen …

Entsprechend leidenschaftslos fiel ihre Reaktion aus. »Okay. Die Messerstecherei.«

»Ein bisschen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf! Wir haben da nämlich eine zweite Blutspur entdeckt.«

Durant wurde tatsächlich hellhörig. »Ach ja? Wo denn?«

»An dem Mantel des ursprünglichen Angreifers. Der das Messer ins Spiel gebracht hat und dann damit erstochen wurde. Du kannst dich bei Platzeck von der Spurensicherung bedanken. Seit er das Video gesehen hat, schwört er darauf, dass der andere Tatbeteiligte ebenfalls eine Verletzung abbekommen hat. Und dass sich im Eifer des Gefechts Blut auf die Klamotten übertragen haben müsse.«

»M-hm. Genau wie Speichel, Schweiß, Hautschuppen oder Haare«, sagte Durant. »Aber ist das nicht längst alles gecheckt worden? Das ist doch schon zwei Wochen her.«

»Ja-ha. Aber wie du vielleicht weißt, hat der andere diese komische Mütze getragen. Auf Haare war da kaum zu hoffen, und auch alles andere wäre wie ein Sechser im Lotto gewesen. Das Blut allerdings ist neu.« Die Ärztin machte eine Pause. »Sag mal, ist etwas nicht in Ordnung?«

Durant brummte: »Tut mir leid. Mein Kopf explodiert gleich. Und das auch ohne diesen Messertypen. Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft, dass wir anderswo weiterkommen.«

Sievers kicherte. »Deshalb soll man den Tag auch nicht vor dem Abend abschreiben. Oder so ähnlich. Denn das Blut stammt definitiv nicht vom Opfer …«

Noch immer recht unwirsch fiel Durant ihr erneut ins Wort: »Was uns ohne Tatverdächtige herzlich wenig bringt!«

Andrea Sievers schwieg. Entweder war sie beleidigt, oder sie lachte sich heimlich ins Fäustchen. So viel zum Thema Luftschlösser. Warum fiel Julia immer wieder darauf rein? Gerade als sie erneut ansetzen wollte, meldete sich die Rechtsmedizinerin zu Wort: »Ich sehe schon, du bist heute wirklich nicht bei der Sache. Also mach ich’s kurz, auch wenn ich finde, dass solche Momente mehr gefeiert werden müssten. Das Blut hatte einen Treffer. Und weil dir heute offenbar nicht der Sinn nach Konversation steht, halt dich kurz fest: Der Treffer passt zu deinem Cold Case!«

Die Kommissarin schnappte nach Luft. »Moment! Wie bitte?«

»Na, wie ich schon sagte. Es ist die DNA von diesem … Caspar David Bahl.«

»Stopp, das kann nicht sein. Bahl ist tot.«

»DNA lügt aber nicht. Ich kann dir nur sagen, was ich herausgefunden habe. Und es ist nun mal ein Volltreffer.«

Durant blieb skeptisch. »Von einem Spritzer Blut?«

Sievers stöhnte. »Die Menge ist unerheblich. Schon mal von PCR gehört?«

Durant verneinte. Natürlich war sie sich über die grundlegenden Verfahrensweisen im Klaren, aber sie hatte im Moment kein Interesse, in ihren Erinnerungen zu wühlen.

Ihre Freundin blieb hartnäckig. »Polymerase Chain Reaction. Einfach ausgedrückt ein Kopierverfahren für DNA . Ohne dieses Verfahren hätte man das Genom des Menschen vermutlich bis heute noch nicht entschlüsselt. Aber all die spannenden Details erspare ich dir jetzt. Solche Wissenschaft wie das PCR -Verfahren wird die breite Masse der Normalsterblichen vermutlich nie interessieren. Das ist auch okay. Aber für uns beide liegt darin jetzt der Schlüssel zur Wahrheit! Denn bei frischem Material, so wie an diesem Kleidungsstück des Toten, ist diese Methode absolut zuverlässig.«

Durant zweifelte noch immer. »Trotzdem gibt es doch sicher eine statistische Abweichung«, antwortete sie, während eine Stimme in ihrem Kopf schrie: Mal abgesehen davon, dass der Typ, zu dem die DNA gehört, seit vielen Jahren tot ist!

Sievers grunzte. »Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Probe nicht mit der DNA von Bahl übereinstimmt, beträgt eins zu dreißig Milliarden.«

»Okay, warte bitte kurz. Ich muss das verarbeiten.« Julia Durant nahm das Telefon vom Ohr und begann, in ihrem Büro auf und ab zu gehen. Jetzt wäre es gut, Frank Hellmer in Hörweite zu haben. Jenen Kollegen, der praktisch alles über diesen alten Fall zu wissen schien. Julia hob das Gerät wieder an und fragte: »Woher stammt eigentlich diese Probe? Anfang neunzig gab es bei uns doch noch überhaupt nichts in Sachen DNA

Sievers lachte auf. »Das stimmt. Es war die Epoche der Blutgruppenbestimmung. Finsteres Mittelalter. Aber seitdem ist eine Menge passiert. Und Anfang zweitausend, ich glaube, es war um den zehnten Jahrestag des Verschwindens von Nicole Geßler, hat man unter allen bekannten Partygästen und weiteren Personen eine Reihenuntersuchung durchgeführt, um sie mit sichergestellten Spermaspuren abzugleichen. Bettlaken aus zwei Schlafzimmern mit entsprechendem Material wurden sichergestellt, aber es ist zu keiner Übereinstimmung gekommen.«

»Es gibt ja auch noch andere Orte, an denen man intim werden kann.«

Sievers lachte leise. »Ach, erzähl! Aber mal im Ernst: Wie gut bist du in der Materie denn drin?«

Durant stöhnte auf: »Das ist es ja! So gut wie gar nicht! Ich dachte, ich kann das einfach so übernehmen. Habe noch groß rumgetönt bei diesem Angersbach, dass das jetzt unser Bier ist. War bei Herrn Geßler, Nicoles Vater, wollte ihm das Ganze schonend beibringen. Und seitdem überrollt mich das alles irgendwie. Zum Glück habe ich Frank …«

»Und natürlich mich«, erwiderte Andrea. Ihr breites Grinsen war hörbar. »Natürlich habe ich mich auch mit den Akten befasst, denn ich wollte es selbst kaum glauben. Bahl hat damals an dem Test teilgenommen, so viel ist sicher, sonst gäbe es ja keine DNA -Probe von ihm. Aber unter uns gesagt: Dass es keine Übereinstimmung auf den Bettlaken gab, bedeutet nicht wirklich viel. Immerhin waren damals Kondome schwer in Mode. ›Gib AIDS keine Chance‹. Du erinnerst dich?«

»Klar, wer nicht?« Durant dachte nach. »Also bedeutet das jetzt Folgendes: Wenn wir eine DNA von Bahl haben, kann er nicht tot sein. Das wäre ja der Oberhammer!«

»Ich stelle nur die Ergebnisse zur Verfügung«, antwortete Sievers trocken. »Der Rest ist euer Job. Aber es wäre schön, wenn ihr mich nach Abschluss der Ermittlungen vielleicht lobend beim Nobelpreis-Komitee erwähnen könntet.«

20 :15 Uhr

Er hatte etwas falsch gemacht. Die Dinge waren ihm auf eine Weise entglitten, wie es niemals hätte passieren dürfen.

Mit hochgelegten Beinen saß er vor dem Fernseher. Die Tagesschau endete mit dem Wetterbericht. Auch wenn die wenigsten es wohl noch regelmäßig taten, so kannte wohl jeder die Rituale aus der eigenen Kindheit. Um acht Uhr abends herrschte eine bleierne Stille vor dem Fernseher, dann ertönte der Gong. Damals war es Dagmar Berghoff gewesen, heute war es Jan Hofer. Die Themen wechselten im Akkord. Ärger mit den neuen Rechten in den Landtagen, Demonstrationen gegen Rassismus auf den Straßen. Ein Kernkraftwerk im deutsch-französischen Grenzland ging vom Netz, die Wohnzimmer blieben trotzdem hell und warm. Ganz anders in den Flüchtlingslagern auf Lesbos. Eine griechische Insel, deren Namen man in seiner Jugend mit zwei nackten Frauen gleichgesetzt hatte. Pubertätsfantasien. Gleichzeitig meldete Italien zwei Tote an jenem neuartigen Coronavirus, das seit Kurzem seinen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung suchte. In der Bundesliga blieb Bayern an der Tabellenspitze, die Frankfurter Eintracht stand auf Platz zehn und würde an diesem Spieltag auch nicht weiter nach oben aufrücken. Wo war die Zeit geblieben? Wo standen Cottbus, Nürnberg, Kaiserslautern und Rostock heute? Wo waren der HSV , St. Pauli und 1860 München? Er schüttelte sich. Das Wetter versprach einen stürmisch-nassen Sonntag bei höchstens zwölf Grad. Nur an den Alpen stellte sich bereits der Frühling ein. Für einen Moment schloss er die Augen und stellte sich vor, wieder am Strand zu sitzen. Warme Sonnenstrahlen, die seinen nackten Oberkörper wärmten. Eine hohe Luftfeuchtigkeit, die seine Kleidung auch beim Nichtstun schweißnass werden ließ. Das helle Licht, der unendliche Horizont. Stattdessen …

Er schaltete den Fernseher ab. Die Welt hatte sich nicht verbessert, so wie es in seiner Jugend aus allen Richtungen skandiert worden war. Der Wind of Change hatte nur kurzzeitig geweht. Übrig geblieben waren lediglich versandete Träume. Selbst ihm war es nicht gelungen, die richtigen Wege zu gehen. Wie ein Magnet hatte das Schicksal ihn immer wieder in eine Richtung gezogen, die ihn schließlich hier auflaufen ließ. Ausgerechnet hier.

Er ging ins Bad, zog sich das T-Shirt vom Oberkörper und betrachtete sich im Spiegel. Abschlaffende Muskeln, hier und da ein paar Tätowierungen, kein Haar auf der Brust. Er überlegte, ob er ins Sonnenstudio gehen sollte. Diese Dinge waren wie Pilze aus dem Boden geschossen, nur Fitnessstudios gab es vermutlich noch mehr. Manche waren so schlau und kombinierten beides miteinander. Seine Finger zitterten ein wenig, als er den Plastikbeutel mit den Einwegrasierern aufriss. Rosafarbene Ladyshaver. Sie sparten ihm den Rasierschaum. Er benetzte Wangen und Hals mit Wasser und begann, die Klinge übers Gesicht zu ziehen. Dann über den Hals, während er das Kinn hob und die etwas zu lang geratene Haut mit den Fingern der zweiten Hand nach unten spannte. Die Stoppeln kratzten, immer wieder tauchte er den Plastikkopf ins Wasser des Waschbeckens. Dann setzte er neu an. Verzog das Gesicht, als es ziepte. Drückte eine Nuance zu hart. Beobachtete den rosigen Schleier im Wasser, der so aussah, als hätte er den Rasierer zum Schmelzen gebracht. Er sah in den Spiegel. Ein Tropfen Blut hing direkt unter dem Kinn. Wurde größer und fiel herab. Pitschte kaum hörbar ins Wasser und verlor sich in Schlieren, die aus winzigen Fäden zu bestehen schienen.

Verdammt. Er wusch sich die Stelle ab und drückte ein Stück Klopapier darauf. Es brannte ein wenig.

Warum hatte er es so weit kommen lassen?

Die Antwort war so einfach, dass sie ihm Angst einjagte.

Menschen veränderten sich nicht.

Man konnte Einfluss auf sein Aussehen nehmen. Haare, Gewicht, Kleidung. Das alles lag weit jenseits kosmetischer Operationen. Selbst für die Augen gab es dank Kontaktlinsen allerlei Möglichkeiten. Schuhe mit Absätzen, die einen größer erscheinen ließen. Die Möglichkeiten waren nahezu unbegrenzt. Nur für die Seele gab es nichts, was man tun konnte. Kein Kostüm, keine Operation.

Menschen veränderten sich höchstens optisch, aber sie änderten sich nicht.

Dinge würden immer wieder geschehen, denn er würde sie immer wieder tun.

So lange, bis ihn jemand stoppte.

*

Die Luft schmeckte kalt, als Julia Durant sich ihrem Zuhause näherte. Sie fror, ging aber trotzdem langsam. Alle Fenster lagen im Dunkeln. Niemand wartete auf sie. Ihre Gedanken kreisten um Vivian Munz und Selina Jacob. Wie sie in ihren schmucken Zimmern saßen und darauf warteten, dass jemand eintrat. An Luca Novak, der daran verdiente. Wie viele Frauen er wohl noch anschaffen ließ? Sie erreichte die Treppenstufen. Dachte an Novaks Vernehmung und an Uwe Liebig. Hatte er Novak tatsächlich bedroht oder sogar misshandelt? Das quälte sie, und natürlich wollte sie es wissen. Sie musste es sogar wissen. Hochgräbe musste davon erfahren.

Mit einem schweren Seufzer schloss Durant zuerst den Briefkasten auf, danach die Haustür. Nicht jetzt, dachte sie. Es ging einfach nicht. Nicht für Claus und auch nicht für sie. Aber irgendwann, bald, besser früher als später, musste sie der Sache auf den Grund gehen. Novak war viel zu kooperativ gewesen für einen Typen seines Formats. Für einen Kerl, der zwar nicht ganz oben, aber auch nicht am Fußende der Hierarchie stand. Nicht zum ersten Mal hatte Uwe Liebig sein Wissen um die Bandenstrukturen genutzt, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Er konnte mit Typen wie Novak umgehen. Sein Wissen einsetzen und dieselbe Sprache sprechen. So weit, so gut. Aber niemand durfte die Grenze zur körperlichen Gewalt verletzen, schon gar nicht so leichtfertig, wie Liebig das zu tun schien. Seine laxe Einstellung war gewöhnungsbedürftig, seine Kommentare oft grenzwertig. Aber es gab eine rote Linie, die für alle im Team gelten musste. Keiner durfte diese Linie überschreiten, nicht einmal in Gedanken. Aber das war nur die Theorie hinter einem Alltag, der in der Praxis unendlich viel schwerer aussah. Trotzdem …

»Nicht mehr heute«, stöhnte sie leise, als sie die letzten Stufen nach oben nahm. Öffnete die Tür, kickte sie mit dem Absatz zu und ließ sich wenige Minuten später ein heißes Bad ein.