R osenmontag.
Nicht, dass es der Kommissarin etwas bedeutet hätte. Als Dorfkind aus dem Speckgürtel Münchens war sie kein närrisches Treiben gewohnt. Aber sie wusste, wie viel Arbeit in den Umzugswagen und Kostümen steckte. Während die Sturmwarnungen tags zuvor bereits Köln und Düsseldorf lahmgelegt hatten, hatte es sich in der Nacht kaum beruhigt. Das Tief hieß Yulia. Ausgerechnet. Es brachte wütende Zerstörung. Und es würde auch vor dem heutigen Tag nicht haltmachen.
Julia Durant hielt das Telefon noch in der Hand. Eine Bandansage und drei Besetztzeichen waren alles, was sie erreicht hatte. Danach ein halbes Dutzend Freizeichen, die unbeantwortet blieben. Innerlich hatte sie sich schon darauf vorbereitet, ins Präsidium zu joggen und den nächstbesten Dienstwagen abzugreifen, um nach Höchst zu fahren. Immerhin würde sie sich damit gegen den Hauptstrom der Berufspendler bewegen. Lust verspürte sie allerdings keine.
»Behrmann.«
Sie fuhr zusammen.
»Hallo?«, sagte die Männerstimme. Ein angenehm klarer Klang. Jemand, dessen Worte man sich vermutlich gerne zu Herzen nahm. So weit wollte Julia dann aber doch nicht gehen.
»Hier ist Julia Durant, guten Morgen. Ich bin …«
»Es tut mir leid, wenn ich Sie direkt unterbreche. Falls Sie wegen eines Termins anrufen, muss ich Ihnen leider sagen, dass ich bis auf Weiteres keine neuen Patientinnen annehmen kann.«
»Wer sagt denn, dass ich eine Patientin werden möchte?«
Der Mann schluckte. »Verzeihung. Dann war ich wohl voreilig. Weshalb rufen Sie denn an?«
»Ich bin von der Kriminalpolizei. Es geht um ein Gutachten, das sie erstellt haben.«
»Aber warum rufen Sie dann auf dieser Nummer an?« Die Stimme klang nun gar nicht mehr so angenehm. Eher beunruhigt.
»Wir hatten bisher noch nichts miteinander zu tun. Die Suchmaschine war der erste Treffer.«
»Hmm. Meine letzte Tätigkeit für das Gericht liegt schon eine ganze Weile zurück. Keine Zeit. Können wir später telefonieren? Ich möchte die letzten paar Minuten gerne erreichbar sein, und mein erster Termin wartet auch schon draußen.«
Julia Durant passte das alles nicht. »Machen Sie irgendwann Pause? Heute Mittag?«
»Ja. Ab elf Uhr fünfzig. Bis um eins.«
»Dann komme ich um kurz vor zwölf bei Ihnen vorbei.«
Behrmann hatte keine Einwände und legte auf. Er hatte nicht einmal gefragt, um welchen Fall es ging.
Die Kommissarin warf einen Blick aus dem Fenster. Es regnete Bindfäden. Sie würde sich einen Schirm nehmen, zu Fuß zum Präsidium gehen und ein Gespräch mit Elvira Klein führen. Die Oberstaatsanwältin wusste sicher das eine oder andere über Behrmann zu berichten. Und über seinen Vorgänger Strobl.
Als sie das Präsidium erreichte, wunderte sie sich, dass Licht aus Claus’ Büro auf den Gang fiel. Die beiden waren sich am Vorabend nur kurz begegnet, als Claus sich ein paar frische Kleidungsstücke und sein Ladekabel abholen wollte. Für einige Minuten, in denen sie sich im Wohnzimmer stehend umarmten und keiner von beiden diese Berührung lösen wollte, hatte er weich und zerbrechlich gewirkt. War seine Anspannung für einen kurzen Moment verflogen, und er gab sich der Stärke seiner Zukünftigen hin.
»Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll …«, wisperte es in die Stille. »Wie wir – wie Clara …«
»Ist schon gut, Schatz«, beruhigte Julia ihn, und ein Beben durchfuhr seinen Körper. Dann aber schaltete er wieder um. Er musste zurück zu Lynel. Und er wusste nicht, für wie lange.
Julia Durant küsste ihn und sah ihm nach, als die Haustür schon längst ins Schloss gefallen und seine Schritte auf der Treppe verhallt waren. Sie wusste, wie sehr ihn das alles belastete. Der Gedanke, zweieinhalb Monate vor ihrer Hochzeit in eine andere Wohnung zu ziehen, auch wenn die Gründe dafür auf der Hand lagen. Der Gedanke, das Präsidium im größten Chaos zu vernachlässigen – das Präsidium und auch sie selbst.
»Du schaffst das«, hatte sie in die Leere gemurmelt, und hinterher hätte sie nicht einmal sagen können, ob sie damit nur Claus oder auch sich selbst gemeint hatte.
Als die Kommissarin die offen stehende Bürotür erreichte, war es wirklich ihr Liebster, der mit verwuschelten Haaren am Schreibtisch saß. Sein Blick erhellte sich, als er sie bemerkte. Julia küsste ihn auf den Mund.
»Schön, dass du da bist, auch wenn ich nur auf dem Sprung bin.«
»Was machst du überhaupt hier?«
»Organisatorisches. Es ist ein Albtraum. Ich müsste mit dir über so viel reden, aber leider …«
Julia legte sich den Zeigefinger auf die Lippen. »Du bist wichtiger. Die Familie. Den Rest kriegen wir schon gedeichselt.«
»Aber wie krass!«, sagte Claus, und sein Blick loderte. »Da soll ein Totgeglaubter plötzlich nicht mehr das Opfer sein, sondern am Ende selbst einen Mord begangen haben. Das ist der Wahnsinn. Und glaub mir, ich würde mir das unter allen anderen Umständen nicht entgehen lassen.«
»Da fallen mir gleich mehrere ein«, widersprach sie, »auch wenn du natürlich recht hast. Wir müssen so viele Sachverhalte neu bewerten, dass mir schon beim Gedanken daran schwindlig wird. Aber es wird immer wieder Fälle geben, an denen man nicht teilhaben kann. Wenn du krank zu Hause lägest oder im Urlaub in einem dreiwöchigen Funkloch stecktest, müsste es auch ohne dich gehen.«
»Na ja«, er grinste schief, »wie wahrscheinlich ist das denn?«
»Wahrscheinlich etwa so, wie diesen Schäfer zu finden«, seufzte Julia.
»Seid ihr an ihm dran?«
»Wir werden wohl nach ihm fahnden müssen. Seit der Haftentlassung fehlt von ihm jede Spur. Aber eine richtige Begründung haben wir keine, außer vielleicht, dass er der Einzige ist, der uns über damals Aufschluss geben könnte.«
Claus wippte zweifelnd mit dem Kinn. »Ein psychisch Kranker, von dem man nicht mal sicher weiß, ob er noch am Leben ist?«
»Ein Grund mehr, warum wir das absichern müssen«, erwiderte Julia, und ihre Miene verdüsterte sich. »Ich könnte mir in den A…llerwertesten beißen, dass wir dem nicht schon viel früher nachgegangen sind. Aber momentan geht alles schief, dann diese Tote im Bahnhofsviertel und die Sache mit Doris.« Sie hob die Hände in Richtung des Deckenstrahlers. »Manchmal wünschte ich mir, dass wir seit drei Wochen in diesem besagten Funkloch säßen und das alles nicht mitkriegen müssten.«
Sie verstummte abrupt und prüfte sein Gesicht, denn sie hatte das natürlich nicht auf seine Tochter bezogen. Doch der Kommissariatsleiter lächelte nur matt: »Deshalb finde ich ja auch keinen Absprung. Und wegen Doris …«
»Nein.« Julia schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe dir gesagt, wir regeln das, und du kümmerst dich dafür um Clara. Basta.«
Auch wenn ihr war, als ob Claus sich dazu zwang, etwas Wichtiges zu unterdrücken, schwieg er mit einem dankbaren Nicken.
»Meld dich im Lauf des Tages mal, okay?«, fragte sie zum Abschluss. Dann ein letzter Kuss, eine feste Umarmung.
Wer konnte schon wissen, für wie lange.
Julia Durant erreichte ihr Ziel mit einem gehörigen Zeitpuffer. Sie war über die A66 gekommen, Ausfahrt Höchst, dann unter der Autobahn hindurch auf der Königsteiner Straße. Eine Allee wie mit dem Lineal gezogen, gesäumt von drei- und vierstöckigen Gebäuden mit bunten Fassaden. Hier und da alte Sandstein- oder Ziegelbauten, bunte Werbeflächen und mutige Farbanstriche. Weil die Sonne sich zeigte, griff sie ihre Jacke und entschied, ein Stück spazieren zu gehen. Die Gegend war vielleicht nicht so einladend wie der Holzhausenpark, aber man fühlte sich auch nicht so verloren wie zwischen den engen Häuserschluchten im Stadtzentrum. Sie konnte den Horizont sehen, die Luft schmeckte frisch, wenngleich die Böen für ihren Geschmack zu heftig waren. Sie hielt sich den Kragen zusammen. Kaum vorzustellen, dass hier einmal die schlechtesten Umweltbedingungen geherrscht hatten. Ein paar Jahrzehnte zuvor, bevor es Filteranlagen für Industrieabgase gab und als die Farbwerke Höchst der Arbeitgeber für die Region waren. Die Arbeiter waren aus den entlegensten Dörfern in Taunus, Vogelsberg, Spessart und Rhön hierher gependelt. Bei jeder Witterung.
Sie zog das Smartphone aus der Tasche. Elvira Klein war den ganzen Vormittag über nicht zu erreichen gewesen. Gerichtstermine, wie es hieß. Dabei wäre es ein immenser Vorteil gewesen, etwas besser vorbereitet gewesen zu sein. Ein letzter Versuch. Fehlanzeige.
Doch es gab einen Lichtblick. Durant hatte sich mit den Gutachten von Dr. Strobl befasst. Seine Praxis hatte einen Nachfolger gefunden, die Dame am Telefon war noch dieselbe. Das hatte die Kommissarin im Laufe des Gesprächs herausgefunden.
»Stundenweise«, hatte die Stimme, die irgendwo zwischen vierzig und sechzig Jahren einzuordnen war, bekräftigt. »Termine, Abrechnung, Steuer. Eben die ganze Bürokratie, die dahintersteckt. Im Laufe der Zeit ist das ja nicht weniger geworden.«
»Zählen dazu auch ärztliche Berichte?«, hatte Durant gefragt.
»Wie? Ach so. Na ja, Strobl hat gerne das Diktafon benutzt. Das habe ich dann manchmal abgetippt. Aber an die wirklich wichtigen Sachen hat er niemanden rangelassen.«
»Dazu zählen vermutlich auch die Gutachten fürs Gericht.«
»Nein. Im Gegenteil. Aber wieso wollen Sie das eigentlich so genau wissen?«
»Es geht um eine Ermittlung. Ich darf Ihnen leider keine Details nennen. Aber wie meinen Sie das: im Gegenteil? Waren diese Gutachten nicht von besonderer Wichtigkeit?«
Ihre Gesprächspartnerin zögerte. »Ich kann Ihnen dazu nichts weiter sagen. Da kommt auch gerade ein Telefonat auf der anderen Leitung rein.«
Julia Durant hatte gespürt, dass sie abgewimmelt werden sollte, konnte aber nichts dagegen tun. Doch sie schrieb sich diese Sache auf die Agenda.
Um Viertel vor zwölf stand sie vor dem Haus, in dem Behrmann seine Praxis hatte. Dritte Etage. Ein Neubau, der sich im Vorbeifahren nicht von den anderen Fassaden unterschied. Ohne Seele, wie Durant fand, die selbst das Glück hatte, in einem charaktervollen Sandsteinbau zu leben. Dabei war in diesen Häusern hier die Heizungsrechnung vermutlich nur ein Drittel so hoch.
Sie drückte auf den Klingelknopf. Sekunden später summte es. Sie drückte die Tür auf und betrat einen Flur, an dessen Ende eine Treppe begann. Bevor sie die letzte Windung erreichte, hörte sie Behrmanns Stimme: »Frau Durant, sind Sie das?«
»Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war ich’s noch«, erwiderte sie keuchend. Dann sah sie ihn auch schon da stehen. Ein Glatzkopf, wie aus dem Ei gepellt, frisch rasiert, in Jeans und Hemd. Ein sportliches Sakko und ein Halstuch rundeten das Bild ab. Sie nahm die letzten Stufen und versuchte, nicht allzu sehr außer Atem zu wirken. Es gelang ihr kaum. Sie schüttelten Hände, und Behrmann fragte: »Normalerweise gehe ich immer eine Kleinigkeit essen. Muss aber nicht sein. Ich habe guten Kaffee und jede Menge Plätzchen.«
»Bei den Plätzchen passe ich, und mir wäre es lieber, wenn wir uns aufs Wesentliche konzentrieren könnten.«
»Kein Problem.«
Er führte sie in seine Räume, die er offenbar für sich hatte. Erinnerungen an Alinas Praxis kamen in ihr auf. Eine warm gestrichene Tapete. Nur dass an den Wänden hier andere Bilder hingen. Quadratische Keilrahmen mit Leinwand. Abstrakte Motive, in denen sich jemand mit Acrylfarben ausgetobt hatte. Vielleicht ein Patient, vielleicht Behrmann selbst. Vielleicht ein überteuerter Künstler. Dieser Gedanke brachte die Kommissarin zurück aufs Thema. Kunsthaus Bahl. Dennis Schäfer.
Behrmann öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer. Dort stand die obligatorische Couch, aber das Setting erinnerte mehr an Wohnzimmerbehaglichkeit als an Psychoanalyse. Ein zeitloser Stoffbezug in Grau, bunte Kissen, ein dazu passender Einsitzer. Außerdem gab es einen Stuhl und einen Schreibtisch mit Flachbildschirm und lendenstützendem Sessel.
»Suchen Sie sich einen Platz aus«, sagte er und deutete ins Leere. Ob er das immer so machte? Ob er bereits die Platzwahl beim Erstkontakt analysierte und bewertete? Was sagte es über jemanden aus, der sich auf die Couch setzte? Oder gar legte. Einen hohen Therapiebedarf?
Durant fiel auf, dass das Sitzmöbel im Grunde viel zu kurz war, um sich dort hinzulegen. Da hörte sie Behrmann sagen: »Die Liege befindet sich nebenan.«
Sie fuhr zusammen. »Können Sie Gedanken lesen?«
»Schön wär’s. Dann müsste ich nicht fragen, wie Sie Ihren Kaffee wollen.«
»Schwarz. Danke.«
»Die meisten wundern sich, warum es hier kein Liegemöbel gibt. Das ist vermutlich genau wie bei Ihnen. Jeder erwartet Vernehmungszimmer mit Glasscheiben, durch die man von der anderen Seite hineinsehen kann. Vielen Dank an das Fernsehen!«
Er eilte nach draußen, Porzellan klapperte, ein Brummen ertönte. Als er wiederkehrte, hatte Durant auf dem Sessel Platz genommen und ihr Notizbuch bereitliegen. Auf dem duftenden Kaffee lag eine herrliche Crema. Durant bedankte sich und nippte daran.
»Fantastisch. Und danke auch, dass Sie sich so schnell Zeit nehmen konnten.«
Behrmann lächelte und wählte die Couch. Stellte seine Tasse auf den Glastisch zwischen ihnen und antwortete: »Es schien wichtig zu sein.«
»Das ist es auch. Sie haben vor zwei Jahren ein Gutachten erstellt. Dennis Schäfer.«
Ihr war, als würde er einen Schreck unterdrücken. Doch in seiner Stimme schwang nichts Verdächtiges, als er fragte: »Ich erinnere mich. Es ist doch hoffentlich nichts passiert?«
»Was könnte Ihrer Meinung nach passiert sein?«
Behrmann zuckte mit den Schultern. Offenbar war er daran gewöhnt, diese Art von Fragen selbst zu stellen, aber er schlug sich gut. Durant scheiterte jedenfalls bis jetzt bei dem Versuch, ihm eine verräterische Mimik oder Gestik zu entlocken. Aber das Gespräch war ja noch jung.
»Haben Sie das Gutachten denn gelesen?«
Eine Gegenfrage statt einer Antwort. Nun gut.
»Ich denke, das Wichtigste habe ich erfasst.«
»Und die Gutachten meines Vorgängers?« In Behrmanns Gesicht lag etwas Neues. Dazu Schwingungen in der Stimme. Unterm Strich ordnete die Kommissarin das als Verachtung ein. Und tatsächlich sagte er im nächsten Moment: »Strobl war ein schwarzes Schaf, wenn Sie mich fragen. Aber das werde ich nirgendwo offiziell aussagen.«
Durant beugte sich vor. »Ach. Wie meinen Sie das? Er hat zahllose Gutachten verfasst, soweit ich weiß.«
»Ja. Aber es kommt immer auf die Qualität an. Haben Sie sich nicht gewundert, weshalb ich zu einem völlig anderen Ergebnis gekommen bin als er?«
»Nicht unbedingt«, gab Durant betont wertungsfrei zurück. »Schäfer könnte am Ende seiner Haftzeit doch rehabilitiert gewesen sein.«
»Schäfer musste nicht rehabilitiert werden! Ich bin fest davon überzeugt, dass er ein Bauernopfer war. Aber auch das ist eine Sache, mit der ich nicht öffentlich hausieren gehen werde.«
»Warum nicht? Weil Sie Zweifel haben?«
»Nein. Weil Strobl überall mächtige Freunde hatte. Und ich habe keine Lust, dass die mir das Leben zur Hölle machen. Wissen Sie, wie schnell man als Psychiater in Verruf geraten kann? Vertrauen ist die Grundsubstanz, das Fundament, mit dem wir arbeiten. Wenn das einmal beschädigt ist …« Er winkte ab, nahm sich seinen Kaffee und trank ein paar Schlucke.
»Aber mit mir sprechen Sie ja ganz offen«, sagte Durant, ebenfalls die Tasse in beiden Händen haltend. Sie beugte sich nach hinten und gab ihrem Gegenüber ein wenig Zeit.
»Nun ja«, sagte Behrmann schließlich, »Sie sind die Erste, die danach fragt. Und ich habe mich außerdem im Internet über Sie schlaugemacht. Sie kannten Alina.«
Julia Durant zuckte zusammen. »Sie … auch?«
»Kunststück. Ich habe immerhin in ihrem Revier gewildert. Als ich diese Räume gemietet habe, war ich so fair, Kontakt zu ihr zu suchen. Damit sie weiß, dass ein weiterer Kollege sich hier ansiedelt. Sie hat’s mir nicht krummgenommen. Wie Sie vielleicht wissen, sind Termine bei uns sehr gefragt. Da können selbst Augenärzte sich hintenanstellen. Jedenfalls hat sie mir viel Erfolg gewünscht und mir damit gedroht«, er setzte das Wort mit den Fingern in Anführungszeichen, »mir das erste Dutzend Patienten ihrer Warteliste zuzuschanzen.«
Julia wurde warm ums Herz. Genauso hielt sie Alina in Erinnerung. Warmherzig und offen.
»Schlimm, dass sie nicht mehr da ist.« Behrmann sah sie nachdenklich an.
»Allerdings.« Ein Kloß formte sich in ihrem Hals. »Wir waren mehr als Kollegen. Sie war meine beste Freundin.«
»Verstehe.«
Während er sich erneut seinem Kaffee widmete, beäugte sie ihn mit Argwohn. Analysierte er sie? War sein Verständnis nur professionell und aufgesetzt? Bei Alina hatte sie solche Gedanken nicht gehabt. Aber diese war auch zuerst eine Zeugin (und sogar Verdächtige) gewesen, und alles andere hatte sich hinterher entwickelt. Zuerst das Vertrauen, dann die Freundschaft.
»Lassen Sie uns über Schäfer sprechen«, sagte Julia schließlich und wischte die Erinnerungen beiseite. Dabei fiel ihr auf, dass es Gedanken voller Wärme waren. Keine Bilder der ermordeten Freundin und mehr als blanke Trauer. Irgendwann, hoffte sie, würden die schönen Erinnerungen überwiegen und die schmerzvolle Lücke, die geblieben war, nicht mehr so riesig sein. Irgendwann.
»Schäfer, natürlich.« Behrmann lächelte. »Es tut mir leid, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als wäre das hier ein Erstgespräch. Wobei Sie sicher nicht die erste Kriminalbeamtin wären, die so etwas tut.«
»Mag sein.«
Bis vor Kurzem war es Alina gewesen, die auch diesen Bereich in Julias Leben abgedeckt hatte. Und schon klaffte sie wieder, diese grausame Lücke. Wie eine Wunde, in die jemand immer dann, wenn sie zu heilen schien, Salz rieseln ließ.
Behrmann räusperte sich. »Ich habe Schäfer nicht lange gekannt, und ich möchte auch keine Behauptungen aufstellen, die ich nicht beweisen kann. Aber ich widerspreche Strobls Gutachten in fast allen relevanten Punkten. Zuerst sollte es eine Psychose sein, man hat an dem Ärmsten mit allerlei Medikamenten herumexperimentiert. Irgendwann hat er aufgegeben, das wurde dann als Erfolg verbucht. Die Gespräche, die Strobl mit ihm geführt haben will, sind nur stümperhaft dokumentiert, und es ist für mich kaum nachzuvollziehen, wie er auf seine Schlussfolgerungen kam. Schubladendenken? Das wirkt so, als stammte Strobl noch aus einer Zeit, in der man Elektroschocks als vielversprechende Behandlungsmethode betrachtete. Oder steckt da etwas anderes dahinter?«
Julia Durant versuchte ihm zu folgen. Im Grunde hatte er noch nichts Konkretes gesagt. »Können Sie das vielleicht an Beispielen erläutern? Ich fürchte, sonst …«
»Kein Problem.« Behrmann überlegte nicht lange, dann zählte er unter Zuhilfenahme seiner Finger auf: »Die Verleugnung seiner Schuld. Logisch, das gibt es öfter. Aber er hat behauptet, dass es eine Art Verschwörung gab. Als Psychose abgestempelt. Dann, geraume Zeit später, ein neuer Anlauf. Schäfer hat nicht aufgehört, seine Unschuld zu beteuern. Also ein neuer Versuch unter anderem Namen. Persönlichkeitsstörung. Neue Medikamente. Eine andere Schublade. Und immer in der Gewissheit, dass er im Kittchen bleibt, solange er nicht seine Schuld eingesteht und daran arbeitet. Strobl stellte es so dar, wie man gespaltene Persönlichkeiten aus dem Fernsehen kennt. Helle Seite, dunkle Seite. Die eine weiß nicht, dass die andere existiert. Puh!« Behrmann fuhr sich über den glatt rasierten Schädel, der im Laufe seiner Schilderungen zu glänzen begonnen hatte. »Das ist für uns ja ein rotes Tuch.«
»Trotzdem hat es solche Fälle durchaus gegeben«, wusste Durant.
»Ja. Aber nicht in der Häufigkeit, wie man es uns seitens der Unterhaltungsbranche vielleicht vermitteln will. Oder haben Sie da etwa andere Erfahrungen?«
»Nein, natürlich nicht.« Im Laufe ihrer Dienstzeit war die Kommissarin so mancher kranken Seele begegnet. Häufig (viel zu häufig) waren es Produkte aus kranken Systemen, Menschen, die bereits als Kinder unvorstellbares Leid erfahren hatten. Manchmal schützte die eigene Psyche einen, jedenfalls so lange, bis sie an ihre Grenzen stieß. Und dann? Dann wurden aus Opfern zuweilen Täter. Das war ein Teil der Realität, natürlich nicht alles. Genauso unerträglich waren jene Menschen, deren Gefühle sich nie gesund entwickelt hatten. Tote Seelen, die aus reinem Spaß – und nicht einmal aus sexueller Freude, was nicht heißen sollte, dass das ein besserer Grund wäre – quälten oder töteten.
Durant atmete gegen ihre Beklommenheit an. »Wann genau sind Sie zu der Erkenntnis gelangt, dass Dennis Schäfer, hmm, falsch diagnostiziert wurde?«
»Gleich beim ersten Treffen.«
»Also kann es nicht daran liegen, dass Strobl aufgrund der besonderen Umstände ein falsches Bild von ihm bekam? So eine Beurteilung in Haft ist ja etwas anderes als ein Erstgespräch mit Kaffee.«
Behrmann lächelte schief. »Normalerweise biete ich da keinen Kaffee an.«
»Das dachte ich mir bereits.« Durant lächelte zurück.
»Jedenfalls keinen mit Koffein …«
»Ja, ich weiß, weil Koffein eine psychotrope Substanz ist, die die Stressoren beeinflusst.«
Behrmann nickte. »Oha. Eine Expertin!«
»Ich sagte ja, Alina und ich waren eng befreundet. Außerdem kenne ich mich mit Angststörungen aus.«
Verdammt! Julias Brust krampfte, noch während sie sich selbst reden hörte. Hatte sie das eben wirklich gesagt?
»Eine Volkskrankheit, über die niemand gerne spricht. Aber das stimmt natürlich, Koffein kann eine angststeigernde Wirkung haben. Allerdings gewöhnt sich der Körper an einen gewissen Level. Trotzdem«, er zwinkerte, »gibt es draußen im Wartezimmer nur die Variante ohne.«
»Wie gut, dass wir hier drinnen sitzen«, sagte Durant, verkniff es sich aber, zurückzuzwinkern. Irgendwo in ihr schrillte eine Alarmglocke, aber sie wusste noch nicht einzuordnen, wovor sie sie warnen wollte.
»Halten Sie Herrn Schäfer für unschuldig?«, fragte sie daher, bevor Behrmann reagieren konnte.
»Na ja, unschuldig vielleicht nicht. Aber dass er das ganz alleine geplant und durchgezogen haben soll …«
»Und wenn ich Ihnen nun sage, dass wir Zweifel daran haben, dass er den Doppelmord überhaupt begangen hat?«
Behrmanns Augen weiteten sich. »Wie jetzt? Tatsächlich?«
»Ich darf Ihnen keine Details sagen, tut mir leid, aber aktuell steht zumindest einer der beiden Morde auf dem Prüfstand.« Durant prüfte weiterhin jedes Zucken im Gesicht ihres Gesprächspartners. Doch da war kaum etwas zu erkennen. Sie setzte nach: »Auch das ist übrigens eine Sache, die ich Ihnen nur inoffiziell sage.«
»Danke. Aber was genau heißt das denn? Schäfer soll nur einen der beiden ermordet haben? Also gab es einen zweiten Täter? Oder wie muss ich das verstehen? Ist das die Verschwörung, von der er immer geredet hat? Das würde natürlich so manches erklären.«
Julia Durant wog ab, ob sie die Vermutung, dass eines der Opfer überhaupt nicht tot war, aussprechen sollte. Entschied sich dagegen und sagte stattdessen: »Zwei Täter halten wir eigentlich für unwahrscheinlich, und eine Leiche gibt es ja in jedem Fall noch. Hat Schäfer Ihnen gegenüber geäußert, was er nach seiner Haftentlassung vorhatte?«
»Nicht direkt. Er wollte ein neues Leben beginnen. Alles anders machen.« Behrmanns Stimme trübte sich ein. »Niemandem mehr vertrauen.«
»Das klingt ziemlich düster. So, als glaube er noch immer an die Verschwörung.«
»Er hat auch mir gegenüber auf seiner Unschuld beharrt. Er hat sich so ausgedrückt: ›Ich bereue vieles, was ich getan habe. Oder was ich nicht getan habe. Am meisten aber bereue ich es, den falschen Leuten vertraut zu haben.‹«
»M-hm. Und damit meinte er wen?«
»Hauptsächlich Caspar Bahl, da bin ich mir sicher.«
Damit hatte die Kommissarin gerechnet. »Das nährt die Theorie der Beziehungstat. Dreiecksbeziehung, Eifersucht.«
»Mag sein. Aber Affekt und Psychose sind zwei Paar Schuhe.« Behrmann seufzte. »Wenn man das wirklich verstehen will, müsste man Strobl ein paar unbequeme Fragen stellen. Doch das geht ja leider nicht mehr. Bleibt nur noch Schäfer.«
»Der ist seit seiner Entlassung spurlos verschwunden«, gab Durant zu bedenken. »Gibt es da wirklich nichts, was er Ihnen gegenüber erwähnt hat? Vielleicht beiläufig?«
Behrmann lachte auf. »Was denn? Sollte er sich eine Insel in der Karibik kaufen? Oder einen Rachefeldzug starten? Ich habe keine Ahnung, absolut null. Tut mir wirklich leid.«
»War Rache denn ein Thema?«
Behrmann zuckte. »Nein! Ich hab’s nur so gesagt. Als Kontrast zu der Südseeinsel.«
Julia Durant erwiderte nichts.
Nach kurzem Schweigen, das jeder dazu nutzte, den Kaffee zu leeren, drehte Behrmann den Kopf in Richtung der Wanduhr, die dem Design einer Bahnhofsuhr nachempfunden war.
»Nichts für ungut«, sagte er, »aber ich würde mir dann vielleicht doch noch was vom Bäcker holen.« Er zwinkerte vielsagend. »Meine Nachmittagstermine haben es nämlich in sich.«
Durant stand auf. »Kein Problem, danke für Ihre Zeit … und den guten Kaffee.«
Auch Behrmann erhob sich. »Ich will Sie nicht rauswerfen. Doch wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Schauen Sie sich Strobls Gutachten noch einmal genau an. Oder lassen Sie sie gegenprüfen. Irgendetwas stimmt da nicht, das habe ich im Gefühl. Und auf meinen Bauch kann ich mich nicht nur beim Mittagessen verlassen.«
Etwas in ihrem Inneren kribbelte. Es war Julias eigenes Bauchgefühl. Dieser Typ war ihr unheimlich, wenn auch auf eine sympathische Weise. Das Bauchgefühl. Wie oft hatte sie schon auf das ihrige gehört, auch wenn alle Stimmen um sie herum Nein schrien? Und wie oft hatte sie recht behalten?
Sie wollte in dieser Sekunde nur raus hier, ein wenig Distanz zwischen sich und diesen Mann bringen, der ihr offenbar immer genau dann ins Innerste blickte, wenn sie es am wenigsten ahnte.
Doch schon am Türrahmen stoppte sie. Ihr Blick fiel auf den Computermonitor, der gerade so gedreht stand, dass sie den Bildschirmschoner erkennen konnte. Eine Fotogalerie, ganz offensichtlich, soeben wechselte das Motiv. Vorher war es eine Hausfassade gewesen, von blühenden Pflanzen gesäumt. Flieder. Aufgeplatzter Verputz. Nun eine alte Tankstelle, die sich nicht auf einer Straße, sondern in einer Art Innenhof befand.
Der Innenhof.
»Das alte Präsidium!«, stellte die Kommissarin fest, und sie hörte sowohl Begeisterung als auch Unsicherheit in ihrer Stimme. Hatte sie nicht eben erst von damals geträumt? Unheimlich.
»Wie? Ach so, ja. – Kompliment!«
»Kunststück«, feixte Durant. Die beiden standen wieder zueinander gedreht. »Ich habe meine Dienstzeit in Frankfurt dort begonnen.«
»Tatsächlich.«
»Na ja, so wie eigentlich alle Kollegen, die seit damals schon dabei sind. Aber was interessiert Sie daran?«
»Ich fotografiere Lost Places«, antwortete Behrmann. »Nicht mehr so häufig wie noch vor ein paar Jahren, aber ich habe eine ziemlich coole Sammlung auf dem Computer. Die Großmarkthalle zum Beispiel. Ist ja alles weg mittlerweile. Jede Menge alter Bahngebäude. Auch da ist in Frankfurt einiges verschwunden. Und dasselbe steht dem alten Präsidium bevor. Es ist das erste große Objekt, das ich mir nach einer längeren Pause vorgenommen habe. Unglaublich, was man da drinnen noch alles finden kann. Die Fotos reichen jedenfalls für mehrere Mittagspausen.«
»Aha. Ich wusste gar nicht, dass man da so einfach rein kann.«
»Einfacher, als mancher denkt.« Behrmann lachte auf. »Aber ich werde mich jetzt nicht selber reinreiten. Also fragen Sie besser nicht.«
»Schon gut. Ich bin weg.«
»Warten Sie bitte noch kurz.«
»Ich dachte, Sie wollten zum Bäcker?«
»Moment.« Behrmann hatte sich an ihr vorbeigeaalt und stand über die Tastatur gebeugt. Einige Mausklicks später zeigte der Bildschirm eine Innenaufnahme, die zum Großteil aus einer rechteckigen, gläsernen Fläche bestand. »Erkennen Sie das? Da kam ich gerade drauf, weil wir vorhin davon gesprochen haben.«
Durant stellte sich hinter ihn und kniff die Augen zusammen. »Was soll das sein?«
»Ein Spiegel. Muss also das Vernehmungszimmer sein. Oder die Gegenüberstellung.«
Sie lachte und erwiderte mit einem Kopfschütteln: »Nicht bei uns! Nicht, solange ich im Dienst war, und ich habe meine Umzugskisten am letzten Tag selbst rausgeschleppt.«
»Dann stimmt die Legende also«, murmelte Behrmann. »Es heißt, dieser Glasrahmen wurde erst hinterher extra für Filmaufnahmen eingebaut.«
»Das mag sein.« Durant kam eine Erinnerung. »Ja. Die haben damals mitten im größten Trubel einen Tatort gedreht.«
»Na gut. Schön, dass wir das klären konnten. Dann weiß ich etwas, was andere Urbexer nicht wissen.«
»Urbexer«, wiederholte sie. Doch auch hierzu kam eine Erinnerung. Menschen, die verlassene Gebäude oder vergessene Orte erforschten. Die ehrenwerten unter ihnen hinterließen keine Spuren. Fotos wurden nur ohne genaue Angabe des Ortes veröffentlicht. Die weniger ehrenwerten klauten alles, was nicht niet- und nagelfest war. Und die, die ihnen folgten, brachten den Vandalismus. Wie es wohl nach so vielen Jahren Leerstand im alten Präsidium aussah?
Julia Durant beschloss, diese Frage nicht laut zu stellen. Ohne Zweifel: Behrmann hätte sich ihr als Fremdenführer aufgeschwatzt, und sie hätte ihn nur mit Mühe und Not abwehren können. Doch Ablenkungen wie diese konnte sie im Moment nicht gebrauchen. Abgesehen davon, dass die Vergangenheit längst vorbei war und die aktuelle Gegenwart keine weitere Ablenkung zuließ.
Der Anruf, der sie retten sollte, kam von Frank Hellmer.
Sie verabschiedete sich übereilt von Behrmann mit dem Hinweis, dass der Anruf wichtig sei. Spürte die Blicke des Mannes noch einige Sekunden im Rücken, bis sie die ersten Treppenstufen hinab genommen hatte.
»Ich kann auch noch mal anrufen«, sagte Hellmer.
»Bloß nicht«, sagte sie und atmete hörbar ein und aus.
»War es so schlimm? Hat er dich etwa analysiert?«, neckte Hellmer.
»Witzbold. Was liegt denn an?«
Als die Sonne in den Innenhof des Präsidiums fiel, spiegelte sie sich auf der Dachhaut des frisch gewachsten Porsche 911 . Eine Schönheit, Frank Hellmer würde das nie anders sehen, aber wie in der Liebe gab es auch Tage, an denen der Schmerz regierte. Alles hatte schon am Abend zuvor begonnen, als seine Frau Nadine ihn mit seiner Pleite rund um den abgeschleppten Wagen aufzog. Nicht verletzend, so war sie nicht, und wenn man es nüchtern betrachtete, war die gesamte Aktion zugegebenermaßen auch ziemlich dümmlich verlaufen. Irgendwo zwischen Verstehen Sie Spaß und Pleiten, Pech und Pannen.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, hatte sie gefragt.
Rückblickend fragte er sich das auch. Andererseits hatte er sich an diesem Samstagnachmittag nicht schneller zu helfen gewusst.
»Spontan schien das jedenfalls alles voll okay zu sein«, hatte er daher gekontert, »und mal abgesehen von dem Abschlepper ging ja auch alles gut.«
Das Argument hinkte natürlich, aber Nadine wusste, wann sie aufhören musste.
Pünktlich um halb neun war Hellmer dann am heutigen Morgen aus dem schwarzen SUV gestiegen, und Nadine war ans Steuer gerutscht. Sie verabredeten, dass sie noch einen Moment warten solle, nur zur Sicherheit. Zehn Minuten später empfing sie die Nachricht, dass alles geregelt sei. Nadine textete zurück, darunter ein Kuss-Smiley, dann drehte sie den Innenspiegel zurecht, stellte Sitz und Lenkrad auf ihre Maße ein und startete den Motor. Fast zeitgleich erschien die Schnauze des Porsches in der Ausfahrt der Autoverwahrung. Ein unscheinbares graues Rolltor inmitten zweier Häuserblöcke. Viel näher an der Innenstadt, als man es vermutet hätte. Frank warf ihr ebenfalls eine Kusshand zu, nutzte die nächste Lücke im Verkehr und startete durch. Nadine blickte ihm hinterher. Die alten Nummernschilder trug der Sportwagen noch immer, das hintere hing ein wenig schief. Aber heute würde dem Kommissar nichts passieren, denn er würde das Fahrzeug erst wieder verlassen, wenn er sich auf sicherem Terrain befand.
Der Innenhof des Polizeipräsidiums war ein solches Terrain, hier kamen weder Passanten durch, noch fuhr ein Abschlepper durch die Schranke, es sei denn, jemand im Haus hatte ihn angefordert. Und der Porsche parkte auch nicht zwischen den beiden aufgemotzten Karren, die am Wochenende aus dem Verkehr gezogen worden waren. Vermutlich ein illegales Rennen, Gutleutstraße oder Friedberger Landstraße. Idioten, die leichtfertig Menschenleben riskierten. Leichtfertig genug, dass die Justiz darüber nachdachte, solche Taten künftig als Mordabsicht zu werten. Hellmer konnte nicht anders, als diese Gedanken nachzuvollziehen. Er fuhr gerne schnell, aber eben nur dann, wenn es die Verkehrssituation auch zuließ.
Das alles aber war in den vergangenen Stunden in den Hintergrund getreten. Er saß alleine im Büro, trank seine dritte Tasse Kaffee, führte ein halbes Dutzend Telefonate und rief allerlei Dokumente auf. Dazu noch Internetrecherche. Alles nicht seine Lieblingstätigkeiten, aber es gehörte nun mal zum Job. Irgendwann griff er zum Hörer und drückte die Kurzwahl zu Julia Durants Diensthandy, auch wenn er wusste, dass sie sich vermutlich noch im Gespräch mit diesem Behrmann befand.
Aber sie nahm unerwartet schnell ab, drückte ihn weder weg, noch formulierte sie eine knappe Bitte, später anzurufen. Im Gegenteil. Julia klang regelrecht erleichtert.
Er berichtete ihr, was anlag. »Schäfer saß ganz in deiner Nähe, JVA Höchst. Kurz vor der Schließung hat man ihn nach Schwalmstadt verlegt, und von dort verliert sich seine Spur.«
Er erinnerte sich noch gut an das Höchster Gefängnis. Der gute Nachbar, inmitten von Wohnhäusern, mit seiner hundertjährigen Geschichte, die nicht immer rühmlich gewesen war. Gerne erinnerte man sich an die Fußballspiele auf dem Innenhof, inklusive der geplatzten Bälle, die in den Stacheldrahtbahnen hingen und von außen einen etwas befremdlichen Eindruck vermittelten. Weniger gerne sprach man über die dunklen Jahre der Nazizeit. Wenn die Gitter, die Wände und die alten Türen nur reden könnten. Vielleicht würden sie dann auch von Schäfers Plänen berichten. Fluchtpläne? Rachepläne? Weitere Mordabsichten? Oder waren es nur die Stimmen in seinem Kopf, die da sprachen? Stimmen, die niemand anderes hören konnte?
»Ich fange mal hinten an«, begann der Kommissar, »es gibt in Schwalmstadt einen Mithäftling, der noch immer dort einsitzt. Er hört kaum noch was, deshalb haben Peter und Doris sich auf den Weg dorthin gemacht.«
»Hoffentlich funktioniert sein Erinnerungsvermögen.«
»Ja, das wäre nicht schlecht. Denn die Zeit vorher, in Höchst, ist leider ziemlich verwaschen. Ich habe zwei Beamte aufgetan und auch Kontakt zu einem Sträfling gesucht. Aber alle drei konnten sich zuerst nur oberflächlich an Schäfer erinnern, und dann kam auch nicht mehr viel. Ein in sich gekehrter Mann, dessen Seele krank war. Kein Psycho zwar, aber niemand, in dessen Gesellschaft man sich wohlfühlte. Schäfer sei ein Einzelgänger geblieben, wortkarg und eigenbrötlerisch.«
»Aha.« Julia Durant machte eine Denkpause, vermutlich rief sie sich in Erinnerung, was sie bisher über Dennis Schäfer wusste. Oder zu wissen glaubte. »Irgendwie passt das nicht, finde ich«, sagte sie schließlich.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, Schäfer fühlte sich entweder ungerecht behandelt, möglicherweise sogar betrogen. Oder aber er wusste genau, was er getan hat. Es besteht ja zumindest noch die Möglichkeit, dass er den Jaguar mit zwei Insassen darin versenkt hat und nie erfahren hat, dass Bahl das Ganze überlebt haben könnte.«
Hellmer nickte bedächtig. »Das sehe ich auch so. Wenn Schäfer von Anfang an gewusst hat, dass Bahl nur eine Show abziehen will, hätte er sich doch nicht für einen Doppelmord verurteilen lassen.«
Er hörte seine Kollegin durchs Telefon aufstöhnen. »Herrje, das macht mich total kirre! Denn er hat ja beteuert, dass alles ganz anders war. Aber der Staatsanwalt hat ihm keinerlei Raum gelassen, die Beweise waren erdrückend, insbesondere der SMS -Austausch mit Bahls Freundin. Die Todesdrohung. Dazu Dorotheas Aussage. Ich komm einfach nicht drauf, wie das Ganze aufgelöst werden könnte. Bahls DNA . Ich weiß ja, dass die Wahrscheinlichkeit gegen mich spielt, aber ich will irgendwie nicht glauben, dass er noch lebt.«
»Und das aus dem Mund einer Kriminalbeamtin«, erwiderte Hellmer spöttisch, dann wurde er ernst. »Aber ich kann’s dir eins zu eins nachempfinden. Das Ganze ergibt so oder so keinen Sinn. Was hat denn dein Therapeut gesagt?«
»Er ist nicht mein Therapeut«, kam es mit entsprechender Schärfe zurück, »und er hat gesagt, dass sein Vorgänger Strobl ganz schön geschlampt hat. Das hat einen üblen Beigeschmack, finde ich. Wenn jemand als Profi gilt, sollten ihm keine groben Fehler passieren. Nicht, wenn die Justiz auf dieser Grundlage ihre Urteile fällt.«
»Da stimme ich dir zu. Aber was wollen wir diesbezüglich unternehmen?«
»Wir nehmen uns alles vor, was noch da ist. Allerdings müssen wir mit Gegenwind rechnen.«
»Ich kümmere mich darum, dass wir einen entsprechenden Beschluss kriegen«, sagte Hellmer betont optimistisch. Dieses Gefühl verflog jedoch sogleich, denn auf welcher Grundlage sollte das geschehen? Elvira Klein ließ sich nicht mal eben beschwatzen, auch wenn sie der Mordkommission äußerst zugetan war. Immerhin war sie mit Peter Brandt, dem Leiter des K11 in Offenbach, liiert.
»Dann komme ich erst mal zurück ins Präsidium«, verkündete Julia Durant.
Behrmann trat nach draußen und richtete den Knoten seines Wollschals. Es war nasskalt und stürmisch, ein typischer Winter, wie man sie heutzutage in der Stadt kannte. In seiner Kindheit hatte er noch richtige Winter erlebt, im Hintertaunus, wo der Schnee an manchen Tagen auch auf der Hauptstraße einfach liegen blieb. Wo die Schule ausfiel und Kinder von den niedrigen Dächern direkt über meterhohe Schneehaufen rodelten. Kaum vorstellbar, mit welcher Leichtigkeit sich Wintersport damals dargestellt hatte. Heute fuhr man in die Berge. Schickimicki statt Sport, und der bedeutendste Slalom war der, den man betrunken zwischen Bar und Hotel vollführte. Früher hatte man gewusst, dass kalte Nasen und Ohren einem Fieber einbrachten. Jetzt war in den Nachrichten von dieser China-Grippe die Rede, einem mutierten Virenstamm, der hochansteckend sein sollte und den Menschen auf die Lunge schlug. Wenn er solche Dinge hörte, dann sehnte er sich nach der Abgeschiedenheit des Dorfes seiner Kindheit.
Ein Flugzeug donnerte vorbei. Wie lange würde es wohl dauern, bis das globalisierte Treiben zu einer Epidemie führen würde, wie man sie bisher nur aus dem Fernsehen (oder Computerspielen) kannte? Und warum schob man dem Flugverkehr aus China nicht einfach einen Riegel vor? Behrmann musste über seine eigene Naivität schmunzeln. Woher stammten denn all die Medikamente, auch Psychopharmaka? Die Hygieneartikel, das OP -Besteck, der Inhalt jedes Erste-Hilfe-Koffers? Er schüttelte den Kopf. Die Globalisierung konnte man nicht einfach mal stoppen. Als er den geschwungenen Schriftzug eines Asia-Imbisses erblickte, musste er lächeln. Er machte sich einfach zu viele Sorgen. Zehn Minuten später, bei gebratenen Nudeln mit Hühnchen und Krabben, dachte er an angenehmere Dinge.
An Julia Durant.
Sie erreichte den Innenhof des Präsidiums, parkte den Dienstwagen und eilte durchs Treppenhaus in den vierten Stock. Oben angekommen, blieb Julia Durant einen Moment lang stehen, um ihren Atem zu beruhigen, dann schritt sie in Richtung Büro.
»Na«, sie grinste Frank Hellmer an, der gerade den Telefonhörer ablegte, »hast du deine PS -Schleuder zurückerobert?«
Frank grinste schief. »Themenwechsel.«
»Solange du unten im Hof keine Kaufinteressenten empfängst, hörst du von mir keinen Pieps.«
»Keine Sorge. Ich werde hier niemanden mehr mit meinem Porsche belustigen. Aber denk bloß nicht, dass die Kutsche euch dann im Mai zur Hochzeit noch zur Verfügung steht!«
Julia musste lachen. »Ich stell’s mir gerade vor. Du im Chauffeurs-Outfit, und Claus und ich quetschen uns hinter die Vordersitze. Nein danke.«
»Genau, und den kleinen Lynel nehm ich neben mich.«
Abrupt verstummten beide. Frank brauchte eine Sekunde länger, aber er reagierte sofort, als Julias Gesichtszüge einfroren.
»Sorry, das war unbedacht«, sagte er. »Wie geht es Clara denn?«
»Du kannst ja nichts dafür. Aber es scheint aussichtslos. Und wenn ich daran denke, dass wir in drei Monaten auf Friede, Freude, Eierkuchen machen sollen, bekomme ich Panik. Nicht, weil ich Zweifel hätte. Aber wegen Claus. Stell dir das doch mal vor …«
»Hast du ihm angeboten, das Ganze zu verschieben?«
Julia seufzte. »Wir reden momentan fast gar nicht. Wir sehen uns ja nicht mal jeden Tag. Er ist ja ständig …«
Sie unterbrach sich, weil der anschwellende Kloß im Hals das Reden unmöglich machte. Stattdessen begannen die Tränenkanäle, den angestauten Frust, den Stress und die Sorgen zu entladen. Gepaart mit heftigem Schütteln und dem einen oder anderen Schluchzen. Und es war Hellmer, der für sie da war. Immer wieder, seit so vielen Jahren, waren sie einander Stütze.
Langsam beruhigte sie sich. Auch wenn der Krampf sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte, es waren kaum zwei Minuten vergangen. Julia rieb sich die Augen trocken und fischte eine Packung Taschentücher aus einer ihrer Schreibtischschubladen.
Nachdem sie sich geschnäuzt hatte, fragte sie: »Konntest du in Sachen Strobl etwas erreichen?«
»Nicht wirklich. Ich habe Elvira zwar erreicht, aber sie braucht mehr Fakten. Vor allem, weil sie nicht den Zusammenhang zu unserer aktuellen Ermittlung sieht.«
»Das passt zu ihr«, schnaubte Julia. Sie schätzte die Oberstaatsanwältin sehr, denn sie war eine integre Person, die sich niemals etwas zuschulden kommen ließ. Unbestechlich und geradlinig. Einem der wenigen Menschen, dem sie zu einhundert Prozent vertraute. Was allerdings auch bedeutete, dass sie sich nicht auf leichtfertige Aktionen einließ.
»Ich rede selbst noch mal mit ihr«, entschied sie.
»Wenn du meinst.« Frank kratzte sich am Kinn. »Aber sie hat auch nicht unrecht. Was bringt uns das alles?«
»Jedenfalls schadet es keinem mehr. Und falls es einen Justizirrtum aufzuklären hilft …«
»Hmm. Ich frage mich halt trotzdem, was der Effekt ist. Schäfer wurde mittlerweile freigelassen, und kein Mensch weiß, wo er steckt. Selbst wenn sich herausstellt, dass da etwas falsch gelaufen ist: Was hat er davon? Ein bisschen Geld vom Staat? Aber wie soll er davon erfahren?«
»Das mag alles sein. Aber vielleicht lockt es ihn ja aus seinem Versteck. Ich meine: ob einen, zwei oder gar keinen Mord. Seine Strafe hat er abgesessen, da kann ihm nichts mehr passieren.«
Hellmers Zeigefinger schnellte nach oben. »Es sei denn, er ist auch für die Kleine, wie heißt sie noch mal, Nicole, verantwortlich. Diese Möglichkeit besteht doch, oder?«
»Schon. Jedenfalls in der Theorie.« Julia Durant musste diesen Gedanken erst einsortieren. Sie schürzte die Lippen. »Mal angenommen, er war das damals, aber dafür war er an dem Doppelmord im Jaguar ganz oder teilweise unschuldig …«
Hellmer hüstelte. »Genau. Vielleicht denkt er, er kann die verbüßte Haft als Guthaben auf neue Verbrechen anwenden. Nein, auf alte, um genau zu sein.«
»Blödmann«, lachte Durant. »So denkt doch keiner.«
»Hoffen wir’s mal. Aber denk immer an die sprichwörtlichen Pferde.«
Die Kommissarin wedelte mit den Händen. »Schluss jetzt damit. Ich rufe Elvira an.«
Hellmer grunzte und setzte sich zurück an seinen Bildschirm.
Durant griff zum Hörer, besetzt, sie versuchte es ein zweites Mal. Doch die Leitung war immer noch nicht frei.
Sie plumpste in den Bürostuhl, der bedenklich ächzte. Vielleicht sollte sie sich den Chefsessel aus Claus’ Büro sichern, bevor jemand Neues dort einzog? Wer auch immer das sein würde. Normalerweise wusste man solche Dinge lange vorher, doch die momentane Situation entsprach nicht gerade dem, was man als normal bezeichnen würde.
»Keiner da?«
»Besetzt.«
Hellmer atmete hörbar ein und aus. »Dann sollten wir vielleicht mal über einen anderen Punkt reden«, leitete er bedeutungsschwanger ein. »Ich bin da nur zufällig hängen geblieben, aber es ist eigentlich ein bisschen zu viel Zufall für meinen Geschmack.«
Julia Durant hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte, und das sah er ihrem Blick offensichtlich an. Ohne Zögern zählte er drei Namen auf. Das tote Mädchen im Steinbruch, die ermordete Freundin von Bahl und zu guter Letzt die Prostituierte im Bahnhofsviertel. »Dreimal schwere Schädelfrakturen, dreimal ausgeprägte Würgemale. Jede einzelne Obduktion ergab eine geradezu exzessive Gewalteinwirkung. Selbst an dem Skelett konnte man das noch erkennen. Jedes Mal muss es ein deutlich stärkerer Täter gewesen sein, und jedes Mal kann man von einer Tötungsabsicht ausgehen.«
Es war nicht gerade ein Gedankensturm, den der Kommissar damit bei ihr auslöste, denn auch ihr selbst waren die Gemeinsamkeiten aufgefallen. Aber mal abgesehen von dem zeitlichen Rahmen: Waren das mehr als nur zufällige Gemeinsamkeiten?
»Nicole könnte immer noch abgestürzt sein«, erinnerte sie sich. »Man hat sie ja in einem Steinbruch gefunden, wohin man sich gerne zum Knutschen oder auch für mehr zurückzog.«
»Aber sie hatte Würgemale.«
»Würgen ist beim ungewollten Geschlechtsverkehr leider kein seltenes Phänomen. Trotzdem sind Vergewaltigung und Mord immer noch zwei Paar Schuhe. Und diese Manuela Voss, also Bahls Freundin, fällt womöglich unter die Kategorie Beziehungstat. Affekt. Was auch immer.«
Hellmer schüttelte den Kopf. »Jetzt klingst du wie Berger, wenn er dir das Bauchgefühl ausreden wollte.«
»Wieso ausgerechnet Berger?« Durant verengte die Augen zu Schlitzen. Der alte Boss, unter dem sie im Polizeipräsidium in der Friedrich-Ebert-Anlage einst angefangen hatte. Jemand, an den sie schon eine ganze Weile nicht mehr gedacht und der sie doch geprägt hatte. Berger stand auf der Gästeliste für die Hochzeit. Aber warum erwähnte Frank ihn jetzt? Hatte er am Ende vor, seinen Ruhestand zu opfern, um vorübergehend ins Chefbüro zu ziehen? Nein, das war absurd.
»Berger hat dich gerne mal abgewimmelt, und am Ende hattest du trotzdem recht«, sagte Hellmer.
»Und jetzt glaubst du, dass du recht hast?«
»Ich wollte es nur gesagt haben. Und in jedem anderen Fall wäre das längst Thema gewesen.«
Julia seufzte. »Du hast recht. Momentan droht alles aus dem Ruder zu laufen. Wir müssen uns echt derbe zusammenreißen.«
»Du klingst immer noch wie Berger«, grinste Frank, »bist du dir wirklich sicher damit, dass du nicht ins Chefbüro wechselst?«
»Hör auf damit!«
»Ich meine ja nur. Du bist nah dran an der Quelle. Näher als sonst wer.«
Julia schnaubte. »Ich weiß trotzdem nichts.«
Es war nicht nur die Genervtheit, die da aus ihr sprach. Tatsächlich war sie nah dran an Claus, wie sollte es auch anders sein, wenn man zusammenlebte. Aber er wich dem Thema seit Wochen aus, er meinte, die Sache sei politisch. Vermutlich ein Anwärter oder eine Anwärterin, die man entsprechend platzieren wollte. Normalerweise liefen solche Dinge in geordneten Bahnen, man wusste manchmal Jahre im Voraus, wer auf welchen Posten hinarbeitete oder wer die besten Aussichten darauf hatte. Auch wenn das neue Präsidium nicht mehr aus der preußischen Zeit stammte: Das deutsche Beamtentum funktionierte noch immer. Das einzige Problem waren die Umbrüche, die es vor ein paar Jahren im Haus gegeben hatte. Ein Polizeiskandal, von dem man hauptsächlich intern mitbekommen hatte, hatte das Personalwesen erschüttert. Eine Gruppierung, die sich nach alter Manier aus den dunkelsten Zeiten deutscher Polizeiarbeit formiert hatte. Von Selbstjustiz bis hin zur Bedrohung anderer war da alles dabei gewesen, bis Julia Durant und ihr Team das Ganze ausgemistet hatten. Die Öffentlichkeit hatte davon so gut wie nichts mitbekommen. Berger hatte seinen Hut genommen, wobei er dies auch ohne den Skandal getan hätte. Aber seine Nachfolge war ins Wanken geraten. Innerhalb des Präsidiums gab es eine Reihe von Personalverschiebungen. Nur deshalb hatte Claus Hochgräbe es auf den Chefposten geschafft. Und jetzt?
»Ich sag’s dir gern jeden Tag aufs Neue«, murrte Julia Durant, »aber ich weiß nichts, und momentan werde ich den Teufel tun, Claus mit dieser Sache zu behelligen.« Wie sehr ihr Vater, der Pastor, sie für diese Ausdrucksweise gerügt hätte.
»Ist ja schon gut.« Frank Hellmer wischte das Thema mit einer Handbewegung beiseite. »Jetzt mal Tacheles: drei tote Frauen, drei Tatmuster. Und unterm Bruchstrich dieser Caspar Bahl, der bei Opfer Nummer eins noch lebte und das ja offenbar bis heute tut.«
»Ich weiß, das wurmt mich ja auch!«, sagte Durant. »Aber was soll er die ganzen Jahre über gemacht haben? Und warum fängt er das Morden so plötzlich wieder an?«
»Keine Ahnung. Ich geb’s zu: Die Widersprüche sind nicht ohne.«
»Umso wichtiger, dass wir irgendwie an diesen Schäfer rankommen. Ich probiere es noch mal bei Elvira.«
Gesagt, getan. Dieses Mal klingelte es endlos, aber niemand nahm ab.
Enttäuscht knallte die Kommissarin den Hörer zurück auf den Apparat und schrieb der Staatsanwältin per Handy eine Textnachricht. Dann legte sie das Telefon gut sichtbar auf den Schreibtisch, nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, dass es nicht auf lautlos geschaltet war.
»Ich glaube nicht, dass das ein Muster ist«, sagte sie irgendwann. »Schädelfrakturen und Würgemale sind die häufigsten Verletzungen in Verbindung mit sexueller Gewalt. Wenn eine Frau zu Boden geworfen wird, mit dem Kopf aufknallt und der Täter ihr den Hals zudrückt.«
»Ich weiß«, antwortete Hellmer. »Es war ja auch nur ein Strohhalm. Und lägen nicht so viele Jahre zwischen den Opfern, hätten wir das Ganze längst durchdiskutiert.«
»Mag sein.« Durant nickte und lächelte matt. »Für Elvira kommt uns das übrigens gerade recht.«
Ihr Partner wollte soeben nachfragen, was sie damit meinte, da klingelte auch schon das Smartphone.
Die beiden Kommissare drehten einen Schlenker über Okriftel, um Hellmers Porsche zurück in seinen Stall zu bringen. Danach ging es im Dienstwagen weiter in den Taunus, wo Strobl seine Praxis in einer ansehnlichen Villa unterhalten hatte. Das goldfarbene Namensschild an der mit Schnitzereien verzierten Doppeltür wies zwei Namen als seine Nachfolger auf. Der Name Strobl stand aber noch immer über allem.
Nach einem wortkargen Austausch per Gegensprechanlage, bei dem Durant und Hellmer sich als Polizeibeamte zu erkennen gaben, entriegelte der Summer das Eingangsportal.
»Heute bin nur ich da«, eröffnete eine Dame in den Sechzigern. »Es wäre besser, Sie hätten einen Termin ausgemacht.«
Frank Hellmer gab sich charmant. »Es tut uns leid, wenn wir Ihnen so kurzfristig Umstände bereiten. Aber wir ermitteln in einem delikaten Fall, und Sie könnten uns dabei von großer Hilfe sein.«
Während Julia ihr Amüsement zu verbergen versuchte, prallten die warmen Worte an ihrem Gegenüber ab wie Flummis auf Beton.
»Ich habe auch ohne Sie genug zu tun«, kam es frostig zurück. »Und wenn es um Gutachten geht, bin ich sowieso die falsche Ansprechpartnerin.« Sie widmete sich wieder ihrem Computermonitor.
»Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte Julia.
»Wieso wollen Sie das wissen?«
»Es geht bei unserem Fall um Dr. Strobl.«
Die Dame verdrehte die Augen und stöhnte auf. »Das wird ja immer besser!«
Hellmer hüstelte. »Wieso. War Strobl wirklich so schlimm, wie man hört?«
Durant wusste nicht, was er mit seiner Frage bezweckte, aber sie ließ ihn gewähren.
In der nächsten Sekunde lief das Gesicht der Dame auch schon puterrot an. »Schlimm?! Ich habe hier vom ersten Tag an gearbeitet. Dr. Strobl war ein feiner Mann, das lassen Sie sich gesagt sein! Immer korrekt, immer galant. So etwas gibt es heutzutage gar nicht mehr.«
Hellmer schob die Unterlippe hervor, als sei er beleidigt. »Verstehe. Dabei gebe ich mir doch so große Mühe.«
Er blinzelte ein paarmal, und prompt musste seine Gesprächspartnerin lächeln. »Hören Sie schon auf. Was wollen Sie denn jetzt eigentlich?«
»Es geht um einen alten Fall, für den Strobl verantwortlich war. Sie haben doch sicher ein Archiv oder so etwas?«
Sie zögerte.
Durant schaltete sich ein: »Wir sind sehr auf seine Hilfe angewiesen. Wie Sie schon sagten: Solche Kollegen gibt es heute ja kaum noch.«
Die Dame nickte. »Das Archiv befindet sich unterm Dach. Ich müsste also wissen, wonach Sie suchen.«
Durant nannte den Namen. Die Dame stand auf, hielt dann aber inne: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen diese Unterlagen einfach so aushändigen darf.«
»Wir haben einen entsprechenden Beschluss, der sämtliche Unterlagen aus der betreffenden Zeit umfasst. Bandaufnahmen, digitale Medien oder Akten«, erklärte die Kommissarin.
Die Dame nickte langsam.
»Sie können sich gerne bei Ihren Chefs rückversichern«, bot Hellmer ihr an, »allerdings ist die Zeit etwas knapp. Wenn Sie das also bald klären würden, käme uns das sehr gelegen.«
»Schon gut.«
Ein kurzes Telefonat später verschwand die Frau. Beim Hinausgehen schenkte sie den beiden einen argwöhnischen Blick. Dann hörte man ihre Schritte treppaufwärts gehen.
Julia Durant nahm in einem der Polsterstühle Platz, und Hellmer tat es ihr gleich. Sie dachte an das Telefonat, das sie mit Elvira Klein geführt hatte, um den Beschluss zu erwirken. Es war nicht so, dass Julia sie ausgetrickst hatte. Sie hatte lediglich Franks Argument verwendet, die Hypothese, es könne sich um einen Täter handeln, der immer wieder zuschlug. Ein Täter, der womöglich schon vor dreißig Jahren aktiv gewesen war. Wie weit hergeholt das auch erscheinen mochte, es war zumindest theoretisch eine Möglichkeit.
»Das glaubt ihr?«, hatte die Oberstaatsanwältin gefragt, und es hatte mehr als nur eine Prise Ungläubigkeit in ihrer Stimme gelegen.
»Wenn wir es genau wissen wollen, müssen wir die Vergangenheit verstehen. Und Strobls Unterlagen sind ein wichtiges Puzzleteil. Es besteht der dringende Verdacht, dass er falsche Gutachten geschrieben hat.«
Ein Verdacht, der vorläufig auf der Aussage eines Einzelnen beruhte.
»Vorsätzlich?« Die Ausmaße, die ein solcher Verdacht, wenn er sich bestätigte, für die Staatsanwaltschaft haben würde, ließ Elvira entsetzt nach Luft schnappen.
»Das müssen wir herausfinden. Aber wer das einmal tut, der tut es womöglich auch öfter.«
Daraufhin war es ganz schnell gegangen. Nur eine Bedingung hatte Elvira geäußert und sich diese gleich dreimal von Julia beschwören lassen.
Stillschweigen. Absolutes Stillschweigen.
Kein Wort zu niemandem!
Der Bestand in Dr. Strobls Archiv war weniger umfangreich als erwartet. Nach einer ersten Durchsicht von Dokumenten, an denen sie nichts Verdächtiges ausmachen konnte, fiel Julia Durant das Transkript einer Tonbandaufnahme in die Hände. Dem Kopfvermerk nach die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Strobl und Schäfer, wenngleich es weniger wie ein therapeutischer Dialog klang, sondern mehr einer Befragung glich.
Dennis Schäfer war kein Patient, auch kein Klient, den man schützen wollte. Niemand, den der Psychiater heilen wollte oder ihm zumindest zu einer besseren Lebensstrategie verhelfen. Strobl setzte seinem Gegenüber hart zu. Durant konnte das Gespräch förmlich hören, auch wenn sie die Stimmen der beiden Beteiligten nicht kannte.
Das erste Geplänkel überflog sie, bis es dann richtig zur Sache ging:
…
Ja, verdammt, ich habe das getan. Wie oft soll ich das denn noch sagen? Ich habe ihn k.o. geschlagen, auf den Fahrersitz gesetzt und die Kiste versenkt. – Aber auf seinen Wunsch hin, Mann! Er wollte das so!
Bevor oder nachdem Sie seine Lebensgefährtin ermordet haben?
Verdammt [ wütendes Wimmern], wie oft denn noch? Ich habe das nicht gemacht. Ich hab ja gar nicht gewusst, dass sie da im Kofferraum liegt.
Also behaupten Sie, jemand anderes habe sie dort hineingelegt.
Ja. Muss ja. Ich schwöre, ich war das nicht. Ich habe …
… sie geliebt?
Nein.
Gevögelt?
Wie bitte [ Lachen; Hysterie]? Das war doch seine Schnalle!
Mit der Sie einen regen SMS -Austausch gehabt haben.
So ein Quatsch!
Wir haben Ihr Handy und auch das von Frau Voss. Leugnen Sie, dass das Ihre SMS sind?
Nein. Klar haben wir uns geschrieben. Aber …
Also leugnen Sie es nicht.
Nein! Aber wir haben …
… eine Affäre gehabt.
Nei-ein [ schlägt auf den Tisch]! Wir waren Freunde. Nicht mehr als das.
[Atempause]
Julia Durant ließ das Papier sinken. Sie hatte so manches Verhör geführt, auch schon in Zeiten, in denen nicht sofort ein Anwalt dazwischenfunkte, wenn es interessant wurde. Ebenso kannte sie nicht wenige Gutachten. Doch dieser Strobl zeigte keinen Funken Empathie. Dieser Dialog las sich wie ein Kreuzverhör.
Sie rieb sich übers Gesicht und las weiter.
Eine gut aussehende Frau wie Manuela Voss – das war sicher nicht leicht, da eine Grenze zu ziehen.
Habe ich aber.
Und sie?
Was ist mit ihr?
Hat sie diese Grenze auch gezogen? Ich zitiere [Handyauswertung Manuela Voss, 2 Tage vor ihrer Ermordung]: ›Heute ist es wieder schlimm. Ich wünschte, wir könnten uns sehen. Du fehlst mir.‹ – Ihre Antwort darauf: ›Du mir auch <3 ‹ Die zwei Zeichen am Ende symbolisieren ein Herz, nicht wahr?
Ich …
Zwei Minuten später dann noch ein Nachtrag von Ihnen: ›Bitte, Du musst diese Nachrichten unbedingt löschen! Das darf niemand außer uns lesen, okay?‹
Mannomann, das ist doch alles ganz anders [ fuchtelt mit den Händen]. Klar haben wir manchmal getextet, aber wir haben diese Nachrichten auch immer gelöscht. Das musste keiner dem anderen sagen, das war doch auch so klar.
Was war klar?
Na, dass kein anderer das lesen soll! Er schon gar nicht. Sie hat mir immer ihr Leid geklagt. Ich sagte doch, wir waren Freunde.
Mehr als Freunde, hm? Oder schicken Freunde einander Herzchen?
Das weiß ich doch nicht! Wir waren jedenfalls Freunde, aber ich habe ihr keine Herzchen gesendet!
Das klingt jetzt seltsam. Eben haben Sie doch …
[ Handfläche schlägt erneut auf den Tisch] Ja, aber Sie drehen mir ja jedes verfickte Wort im Mund rum! Ich weiß, was ich getan habe und was nicht!
Dessen bin ich mir nicht so sicher. Sie haben Ihren Freund getötet. Machen Freunde das etwa?
Ja, aber er wollte doch … [ beugt sich vornüber und brabbelt] … ich sollte das doch alles so machen.
Das hat er Ihnen aber nicht per SMS geschrieben.
Nein. Natürlich nicht! Das sollte unser Geheimnis bleiben.
Viel mehr hat er Manuela – Ihrer Freundin also! – geschrieben, dass er Angst vor Ihnen habe. Dass sie sich ebenfalls in Acht nehmen solle, dass er fürchtet, dass Sie etwas Schlimmes vorhaben.
[ Augen flitzen hin und her. Mimik und Gestik weisen Anzeichen eines Realitätsverlustes auf.] Ich … Er … Können wir eine Pause machen?
Zuerst möchte ich die Wahrheit wissen. Warum hatte Caspar Bahl Angst vor Ihnen?
Ich …
War es, weil er von Ihrer Affäre gewusst hat? Oder weil Sie ihn sogar damit konfrontiert haben? Weil er Sie gut genug kannte, um zu wissen, dass Sie überreagieren könnten?
Nein! Nein! [ er taumelt und schlägt um sich] Ich kann nicht mehr … ich muss hier raus … ich habe das nicht gewollt …
[vorläufiger Abbruch der Befragung]
Danach kam nichts mehr. Also war das »vorläufig« mehr als nur eine Gesprächspause. Strobl hatte für diesen Tag zumindest nichts weiter dokumentiert. Ende. Schuldig.
Julia Durant musste das Gelesene erst einmal sacken lassen.
Auch Frank Hellmer hatte sich den Text zu Gemüte geführt. Mechanisch zündete er sich eine Zigarette an und sagte, eingehüllt in ausgeatmeten Tabakrauch: »So einen Psychiater wünscht sich keiner.«
»Das hab ich mir auch gedacht«, sagte Durant nickend. »Das ist ja schlimmer als manche Befragung, die wir durchführen.«
»Wenn’s nicht gerade Uwe Liebig ist«, lachte Hellmer, »aber tatsächlich: Dieser Strobl hat Schäfer echt hart rangenommen.«
Durant ließ den Blick erneut über das Papier wandern. Die vielen eckigen Klammern, in denen Schäfers Reaktionen vermerkt waren. Etwas störte sie, aber sie konnte den Gedanken noch nicht greifen.
»Ich sollte das vielleicht mal Volker Behrmann vorlegen«, überlegte sie. »Eine fachliche Meinung einholen.«
»Deinem neuen Seelenklempner?«
»Er ist nicht mein Seelenklempner«, gab Durant unterkühlt zurück, und der Kommissar wedelte mit den Händen durch eine weitere Rauchwolke.
»Lass dich doch nicht gleich so auf die Palme bringen«, sagte er und grinste. »Sieht er so gut aus?«
»Du kannst mich mal.«
Julia führte ein längeres Telefonat mit Peter Kullmer. Er berichtete ihr von einem interessanten Gespräch in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt, das er zusammen mit Doris Seidel und einem ehemaligen Mithäftling von Dennis Schäfer geführt hatte. Der Mann war bereits Mitte siebzig und musste sich für mehrere Morde verantworten. In der JVA war er als liebenswürdig und fürsorglich bekannt, aber das hatte sich erst im Laufe der letzten Jahre so entwickelt. Angeblich hatte er sich um Dennis Schäfer gekümmert, was auch immer das heißen mochte.
»Zuerst haben wir gedacht, es kommt nicht viel bei raus, und er will sich nur wichtigmachen«, erzählte Kullmer. »Ich glaube, der Alte ist sehr einsam und nutzt jede Gelegenheit, um ein wenig Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber dann hat er doch eine interessante Info rausgerückt. Er hat sich an Briefe erinnert, die Schäfer geschrieben hat.«
Durant wurde hellhörig. »Briefe wohin?«
»An eine alte Tante oder so was Ähnliches. Ganz weit im Osten, im Grenzgebiet zu Polen und Tschechien.«
»Ich habe nicht gewusst, dass es da noch Familie gibt«, wunderte die Kommissarin sich. Irgendwo in weiter Ferne rollte eine Erinnerung vorbei, die auch Bahls Familie mit der alten Tschechoslowakei in Verbindung brachte. Aber da sprach Peter schon weiter: »Ich glaube, da bestand auch kein Kontakt. Schäfer hat das erst wieder angestoßen, und daraus entwickelte sich ein Briefwechsel.«
»Irgendwas Auffälliges?«
»Nicht dass ich wüsste. Jedenfalls hat sich Dennis Schäfer, sobald sich seine Haftentlassung abzeichnete, mit dieser Tante oder Großtante darauf geeinigt, sie zu besuchen. Sein Mithäftling – er ist schon etwas älter und geistig nicht mehr topfit, also sollten wir das alles nicht auf die Goldwaage legen – erinnert sich, dass Schäfer seinen Namen ändern wollte, um da drüben noch mal neu anzufangen.«
»Verständlich«, sagte Julia. Peter wusste noch nichts von der Entwicklung, die es in Sachen der psychiatrischen Gutachten gab. Sie erklärte es ihm in knappen Sätzen. »Ich würde es generell verstehen, dass er nach seiner Haftzeit noch einmal anderswo neu anfangen würde. Doch wenn am Ende tatsächlich das Extrem steht, dass es sich hier um einen Justizirrtum oder, noch viel schlimmer, um einen handfesten Skandal handelt, dann verstehe ich es noch viel mehr, dass er all das endgültig hinter sich lassen will.«
Kullmer räusperte sich. »Na ja. Oder Rache üben.«
»An wem denn?« Durant schüttelte sich. »Caspar Bahl hin oder her: Er konnte das damals ja noch nicht wissen. Die DNA , die wir gefunden haben. Und falls er wirklich davon überzeugt war, dass Bahl noch lebt: Warum hat er es nicht gesagt?«
»Wer hätte ihm denn geglaubt?«, erwiderte Kullmer. »Die Indizien, die Aussagen, die Gutachten. Alles stand gegen ihn.«
»Stimmt. Hat er seinem Zellenkumpanen denn was in dieser Richtung gesagt?«
»Nein. Schäfer hat immer nur wiederholt, die Welt habe ihm Schlechtes getan, aber er sei auch nicht immer ein Guter gewesen. Deshalb brauche er einen Schlussstrich und einen Neuanfang.« Kullmer stöhnte leise. »Bisschen melodramatisch, aber irgendwie nachvollziehbar.«
»Du sagst es.« Julia Durant überlegte. »Habt ihr diese Tante erreicht?«
»Haben wir versucht, klar. Zuerst dachten wir ja, vielleicht gibt es sie ja gar nicht. Aber sie ist tatsächlich noch unter dieser Adresse gemeldet. Leider hatten wir noch keinen Erfolg.«
Julia schluckte. »Dann sollten wir das unbedingt weiter versuchen«, sagte sie.
Ihr schwante nichts Gutes.