Dienstag

Dienstag, 25 . Februar, gegen 2 Uhr nachts

C laus Hochgräbe kam erst spät in der Nacht nach Hause. Nicht, dass Julia noch mit ihm gerechnet hatte. Umso mehr freute sie sich, als er ihr die Haare zur Seite streifte und einen sanften Kuss auf die Stirn gab.

»Bist du das?«, war ihre schlaftrunkene Reaktion.

»Ich hoffe doch«, seine Antwort.

Sie wühlte sich aus der Decke, die Leuchtziffern des Weckers standen auf 1 :47 Uhr. Meistens die Zeit, in der sie entweder vom Wohnzimmer hierher wechselte oder endlich so weit zur Ruhe gekommen war, dass sie ihre Blase spürte. Auch jetzt folgte Julia dem Drang und tappte in Richtung Badezimmer. Spätestens beim Händewaschen war sie hellwach, viel zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Warum war er hier? War etwas passiert? Und wieso dachte sie immer zuerst an das Schlimmste? Vielleicht …

Schon stand er im Türrahmen. Von der Leichtigkeit seines Kommentars spiegelte sich kaum mehr etwas in seiner Miene. Trauer indes war dort auch nicht abzulesen. Julia entschied sich, auch wenn ihre innere Stimme lautstark protestierte, ihren Liebsten das Tempo selbst bestimmen zu lassen. Er brauchte noch zwei, drei Sekunden und einen tiefen Atemzug, dann fasste er sich ein Herz. »Clara wird den Krebs nicht mehr besiegen, so wie es aussieht.«

»Scheiße.« Julia begann zu zittern, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, sprach Claus schon weiter.

»Es ist nicht so, dass man ihr eine Sanduhr hingestellt hat«, begann er, und es schien ihm leichter zu fallen, als sie erwartet hätte. Vielleicht hatte er dieses Gespräch auf dem Nachhauseweg geübt? »Aber es gibt keine OP , es gibt nur Medikamente und jede Menge Hoffnung. Glaubensfeste Menschen hätten es da vielleicht leichter, aber du weißt ja, dass Clara eher wissenschaftlich orientiert ist. Sie weiß, dass es sich eher um Monate als um Jahre handelt, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Aber sie hat sich dazu entschieden, den Kampf aufzunehmen. Sie ist stark, das ist beneidenswert, das hat sie wohl von ihrer Mutter.«

»Mach dich nicht kleiner, als du bist«, widersprach Julia, aber Claus wischte diese Bemerkung beiseite.

»Was Clara partout nicht möchte, ist, irgendwo in einer Klinik ihre Zeit abzuliegen und auf dieses göttliche Wunder zu hoffen.«

»Aha. Und ist das realistisch?«

»Für Clara ist alles realistisch. Immerhin ist sie von Afrika hierher zu mir gekommen, ohne zu wissen, wie das Ganze sich entwickelt.« Nun bekam er doch feuchte Augen. Er wischte sich verstohlen übers Gesicht. »Clara ist gekommen, um zu gehen. Das weiß ich jetzt. Aber auch, wenn sie das Tempo nicht bestimmen kann, möchte sie wenigstens den Weg vorgeben.«

»Verstehe. Und wie soll der aussehen?«

»Wir haben Deutschland im Winter erlebt, Lynel und sie haben zum ersten Mal Kontakt zu Schnee gehabt.«

Julia erinnerte sich an den einen oder anderen Ausflug. Meistens hatten sie ihn zu dritt unternommen, manchmal zu viert. Wildparks. Ein Zoo (was auf jemanden, der mit Großwild vor der Nase aufgewachsen war, ziemlich befremdlich gewirkt hatte), eine Badetherme mit Wellenbad und natürlich Schlittenfahren.

»Clara möchte das Meer sehen. Das Brandenburger Tor, den Eiffelturm und die Sagrada Família auch, aber allem voran das Meer.«

Julia rieb sich die Augen, in denen noch immer ein Rest Schlaf hing. »Warte, langsam. Sie muss doch das Meer kennen.«

»Namibia ist nicht gleich Meer«, erwiderte Claus, »außerdem kann man das nicht vergleichen.«

»Hmm. Ist es denn gut für sie? Es ist eiskalt und stürmisch. Egal, ob es jetzt Richtung Sylt oder auf Rügen gehen soll. Und ihre Medikamententherapie muss doch gewiss überwacht werden.«

Claus lächelte, allerdings war es ein müdes Lächeln. »Das alles haben wir längst durchgekaut«, begann er, »und wir haben auch so was wie einen Plan. Nennen wir es einen Roadtrip, wie man so schön sagt. Berlin, Amsterdam, Paris, Barcelona. An der Costa Brava sind es zurzeit schon fünfzehn Grad, Tendenz steigend. Und Clara und Lynel werden jede Menge europäischer Sehenswürdigkeiten bestaunen können.«

Julia Durant ahnte, nein, sie wusste etwas. »Ich nehme an, du wirst der Fahrer sein?«

Claus trat an sie heran und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich muss das einfach machen, Schatz. Ich würde es mir nicht verzeihen …«

Sie küsste ihn. Dann umarmten sie einander fest, und sie antwortete leise: »Mach das nur. Du weißt, ich unterstütze dich, so gut es geht.«

»Aber der Job …«

Sie lösten die Umarmung. »Der Job ist für dich sowieso längst abgehakt. Ob du hier in ewiger Sorge rumhängst oder das bisschen Zeit noch angemessen nutzt …« Sie unterbrach sich jäh. »Entschuldige. Das sollte nicht so hart klingen.«

»Es ist alles noch viel härter«, brummte Claus und rieb sich erneut über die Augenpartie.

Julia suchte nach einem Ausweg, dann trat ein Leuchten in ihre Augen: »Ich hab eine Idee! Was wäre, wenn ihr einen Zwischenstopp bei Susanne einlegt?«

Susanne Tomlin, eine von Julias ältesten Freundinnen, hatte sich in Südfrankreich ein neues Leben aufgebaut. Sie war finanziell dick gepolstert und hatte mehr als genug Platz.

»Sobald die Ermittlung es zulässt, könnte ich sogar nachkommen«, brachte sie ihren Gedanken zu Ende.

Claus Hochgräbe nickte langsam. Dann war er es, der sie küsste. »Ich bin dir so dankbar, dass du das alles so hinnimmst«, hauchte er. »Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.«

Es gehörte in diesen Tagen eine übermenschliche Kraft dazu, all die Baustellen zu stemmen, die das Leben ihr aufzwang. Alte Morde, neue Morde, eine Familie, die sich wie aus dem Nichts materialisiert hatte. Leben und Sterben und dazwischen der unerbittliche Job. Aber ja, sie liebte ihn. In guten Zeiten – und eben auch in diesen schlechten.

10 :05 Uhr

»Guten Morgen.«

Selina Jacob, die Freundin der ermordeten Vivian Munz, wartete in einem Café in der Nähe des Hauptbahnhofs und winkte der Kommissarin zu. Vor ihr standen ein Cappuccino und außerdem ein Sektglas neben einem Pikkolo. Auf dem Teller waren nur noch Krümel zu erkennen. Julia Durant setzte ein Lächeln auf, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Selina ihr zuvor.

»Ich lebe nicht schlecht«, sagte sie, »und wenn man sich nicht manchmal was gönnt, kann man’s auch gleich sein lassen.«

Es klang wie eine Rechtfertigung, und ihre traurigen Augen sprachen Bände. Tatsächlich fügte sie mit belegter Stimme und ohne Lächeln hinzu: »Man sieht ja, wie schnell es zu Ende gehen kann.«

»Von mir hören Sie da kein Widerwort«, entgegnete Durant, nahm ihr gegenüber Platz und unterdrückte ein Gähnen. Es hatte nach dem Gespräch mit Claus gedauert, bis sie wieder eingeschlafen war. Prompt hatte sie am Morgen den Wecker überhört. Den Termin mit Frau Jacob hatte sie am Vorabend ausgemacht, um noch ein paar offenen Fragen nachzugehen. Der Vorschlag, sich hier zu treffen, kam ihr nun zugute. Das Minus an Schlaf konnte nur durch ein Plus an Koffein und Zucker ausgeglichen werden, zumindest vorläufig.

Die Bedienung kam wie aufs Stichwort und nahm die Bestellung auf. Milchkaffee und ein Buttercroissant mit einer Extraportion Marmelade. Kurz musste sie an Südfrankreich denken, aber das gehörte nicht hierher. Durant musterte die Freundin des Opfers. Sie war unscheinbar gekleidet und geschminkt. Wie das wohl sein musste, ein Leben als Prostituierte, deren Foto man im Internet fand? Jede Alltagssituation, jede freie Minute in der Erwartung, dass einen jemand erkennt? Die Kommissarin dachte weiter. Wer aber würde schon auf sie zugehen und sie ansprechen?

Hallo, ich bin Ihr Freier von vor vierzehn Tagen. Sie erinnern sich bestimmt. Danke noch mal für die tolle Nummer!

Gewiss nicht. Durant konzentrierte sich auf die offenen Fragen. Manches davon hatte sie sich in Stichpunkten notiert.

»Ich kenne mich in dem Metier etwas aus«, leitete sie ein, »ich war früher eine ganze Weile bei der Sitte, auch hier in Frankfurt. Und dann haben wir ja erst kürzlich eine größere Ermittlung abgeschlossen. Der Club Oasis in Offenbach. Sie haben es vielleicht mitbekommen.«

Selina Jacob schüttelte den Kopf. »Das schon. Ist aber gar nicht vergleichbar.«

»Mag sein. Deshalb wollte ich mich mit Ihnen unterhalten. Wenn Sie ein Treffen mit jemand Neuem, m-hm, arrangieren … wie läuft das ab?«

»Meistens übers Internet. Wir haben Profile mit Handynummern. Es ist Pflicht, sich per Messenger und Realnamen zu melden. Dann werden die Nummer und das Bild überprüft.«

»Ich kenne das Ganze auch noch mit Autokennzeichen«, erinnerte sich Durant.

Doch Selina lachte nur keckernd und winkte ab. »Auf dem Land vielleicht. Oder am Stadtrand. Aber hier kommt keiner mit dem eigenen Auto.«

Das klang einleuchtend. Julia notierte sich etwas und fragte weiter: »Also per Messenger. Demnach müsste Novak ein Foto von Vivians Mörder haben. Hat er aber nicht.«

»Na ja, es geht auch anders. Eine E-Mail-Funktion gibt es nicht, zu viel Fake. Das hatten wir mal, das Problem war, dass immer mehr Termine durch Typen mit falschen Informationen belegt wurden. Novak musste sie abweisen, aber rumgekommen ist eben auch nichts. Irgendwann hat er welche zu uns gelassen, dann geschahen unschöne Dinge. Dinge, über die ich nicht reden möchte.« Sie schüttete sich Sekt ein und stürzte das Glas in einem Zug hinunter. »Ich meine, es gibt keine hundertprozentige Sicherheit … aber es ist tausendmal besser, als sich in einem Laufhaus oder einem Flatrate-Club einzumieten.«

»M-hm. Wie kann der Mörder denn zu einer Verabredung mit Vivian gekommen sein?«

»Wenn es weder Fotos noch Nachrichten gibt, gibt es eigentlich nur einen Weg.«

»Und der wäre?«

»Die beiden haben sich auf normalem Weg kennengelernt.«

Durant dachte nach. »Oder sie haben sich schon vorher gekannt.«

»Wie auch immer.«

»Haben Sie so was auch schon mal erlebt? Dass Sie jemanden getroffen haben, der Sie nicht zuvor übers Handy kontaktiert hat?«

»Nein. Wie soll das denn gehen? An der Supermarktkasse oder so wie hier, wenn ich irgendwo rumsitze? ›Hallo, ich kenne dein Profilbild von einer dieser Sex-Seiten. Wollen wir uns nicht mal verabreden?‹ «

Selinas Stimme klang amüsiert, wenn auch mit Spuren von Bitterkeit, und war so laut, dass sich zwei Damen in den Sechzigern zu den Frauen herumdrehten. Ihre Blicke sagten alles. Julia Durant senkte ihre Stimme daher demonstrativ, als sie antwortete: »Vivian muss es ja so passiert sein. Das haben Sie doch eben selbst so behauptet.«

»Ich habe gar nichts behauptet! Ich weiß nur, dass irgendein Arschloch meine Freundin umgebracht hat. Und wer weiß, was er vorher mit ihr angestellt hat.«

Das Eis, auf dem die Kommissarin sich bewegte, wurde dünn. Trotzdem beschloss sie, ihrem Gegenüber ein Ermittlungsdetail zu verraten: »Falls es Sie beruhigt, es gibt keine Anzeichen für irgendwelche Perversitäten. Vivian hat aufgrund ihrer Kopfverletzung auch nicht mehr viel gespürt. Aber das haben Sie nicht von mir. Es bringt Ihre Freundin leider nicht zurück, doch manchmal ist es hilfreich zu wissen, dass jemand nicht lange leiden musste.«

Es dauerte einen Moment, in dem Selina Jacob mit dem Sektglas spielte und mit ihren Gedanken weit außerhalb dieses Universums zu sein schien. »Danke«, sagte sie endlich.

»Ich darf über solche Dinge eigentlich nicht reden«, betonte Durant.

»Dann nochmals danke. Gibt es sonst irgendwelche Hinweise?«

»Leider Fehlanzeige. Deshalb hoffen wir ja, dass es doch noch irgendwo Fotos ihrer letzten Kontakte gibt. Oder vielleicht eine Überwachungskamera, von der wir nichts wissen.« Sie blickte der Frau prüfend in die Augen. »Vivians Handy ist leider immer noch nicht aufgetaucht.«

»Ich habe es nicht, falls Sie das meinen.« Selinas Körperhaltung und Mimik sprach dafür, dass das die Wahrheit war. Doch absolute Sicherheit gab es keine.

»Welchen Nutzen könnte Novak haben, es verschwinden zu lassen?«

Selina prustete. »Ach Gottchen, wo fangen wir da an? Steuer? Geheimniskrämerei? Bloß nichts an die Bullen verraten? Nichts für ungut. Am Ende vielleicht auch nur, weil es sein Handy ist und er es einfach an die Nächste weitergeben wird. Haben Sie schon auf die Website gesehen? Vivians Profil ist längst gelöscht. Und sobald Sie den Tatort freigeben, zieht die Nächste ein.«

Das klang alles wenig zielführend. Sackgassen, wohin man sich auch drehte.

»Wie gehen Sie denn mit den Daten um?«, fragte Durant. »Sie erhalten ein Foto. Und dann?«

»Das Foto und die Handynummer gehen an Novak. Er macht sein Ding, ich bekomme grünes Licht. Er hält sich beim ersten Treffen in der Nähe auf und stellt sicher, dass es sich um dieselbe Person handelt, und schaut, ob irgendwas verdächtig scheint. Immerhin könnten es ja auch Zivilbeamte von der Sitte sein. Oder irgendwelche Banden-Macker.«

»Also ist das Foto sogar auf zwei Geräten.«

»Yep. Aber nur, bis das Treffen vorbei ist. Wir müssen das sofort löschen, nur die Kontakte behalten wir im Telefon, damit wir sie auch nach längerer Pause wiedererkennen.«

»Und das handhaben Sie alle so?«

Julia Durant musste daran denken, dass es ja nicht zwingend ein Erstkontakt gewesen sein musste. Und wem, wenn nicht dem Mörder, war am meisten daran gelegen, das Telefon mit seinen Daten aus dem Verkehr zu ziehen? Die IT hatte die Nummer zu orten versucht, es gab selbst für ausgeschaltete Geräte Möglichkeiten, über die man sich besser keine allzu ausgiebigen Gedanken machte. Aber nichts von alldem hatte sie weitergebracht.

Sie entschied sich, noch einmal bei Novak nachzuhaken, auch wenn sie sich nicht viel davon versprach. Uwe Liebig kam ihr in den Sinn. Doch dieses Mal würde sie ihn nicht hinzuziehen.

»Haben Sie eine Idee, wo ich Novak um diese Tageszeit antreffe?«

Selina Jacob keckerte erneut. »War das ernst gemeint? Um diese Zeit? Ich glaube nicht, dass der vor Mittag ansprechbar ist.«

»Also versuche ich es in seiner Wohnung im Westhafen.«

»Viel Glück. Vielleicht liegt er auch in einem anderen Bett. Möglichkeiten gibt’s da viele.«

Hörte Julia Durant da etwa einen Hauch von Eifersucht heraus? Funktionierte das abgedroschene System des Zuhälters tatsächlich noch immer nach diesem Muster? Jemand, der den Frauen nach dem Mund redete, sich einzigartig fühlen ließ und ihnen mit wortgewandter Perfidität vorgaukelte, dass sein Schutz eine besondere Form von Liebe und Fürsorge sei?

Sie bekam eine Gänsehaut.

Fünfzehn Minuten später stieg sie am nahen Mainufer aus dem Dienstwagen und näherte sich dem Wohngebäude. Suchte das Klingelfeld ab, drückte den Knopf. Kein Glück. Sie klingelte erneut und wartete. Ihr Blick streifte über das wellenarme Wasser im eingefassten Seitenarm des Flusses. Nilgänse schwammen träge zwischen den Booten umher. Wenige Spaziergänger. Das Grau des Himmels spiegelte sich auf dem Wasser wider. Es war ein trüber Tag, und dazu kam eine schneidende Kälte. Nachdem Julia auch beim dritten Klingeln keine Reaktion erzielte, verließ sie den Westhafen und fuhr zurück zum Präsidium. Unterwegs wählte sie Benni Tomas in der Computerabteilung an, um ihn noch einmal auf das Handy anzusetzen.

»Kann man es vielleicht überwachen, dass wir eine Meldung bekommen, sobald es eingeschaltet wird?«, wollte sie wissen.

»Es gibt fast nichts, was man nicht kann«, war die Antwort. Kryptisch, wie so oft. Gepaart mit einer Portion Selbstüberschätzung. Durant war mit Sicherheit keine Technikexpertin, aber sie wusste von diversen Seminaren, wo die Grenzen im IT -Bereich lagen. Dennoch war es unterm Strich beängstigend, wie viel sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert hatte.

Und vielleicht, dachte sie, dient es irgendwann auch mal einem guten Zweck.

11 :07 Uhr

Die Bombe platzte, als Frank Hellmer den Apparat im Büro abnahm.

»Habt ihr es schon gehört?«

Die aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte Andrea Sievers. »Da gönnt man sich nur einmal eine Zigarette in der Sonne und daddelt ein bisschen im Internet und dann so ein Hammer«, keuchte sie. »Ich hätte fast das Handy fallen lassen, als ich das gesehen habe. Willst du es selber nachlesen? Hessenschau und Co. – Es ist überall!«

»Spann mich nicht auf die Folter«, antwortete Frank gepresst, doch längst hatte er sich nach vorn gebeugt und den Browser geöffnet.

Die blau-weiß gehaltene Nachrichtenseite baute sich auf, und er musste nicht lange suchen. Im Hintergrund verkündete Andrea dasselbe, was er in der Eilmeldung las:

Fast zwanzig Jahre wurde er für tot gehalten – jetzt ist er wieder da!

Caspar B. ist zurück unter den Lebenden. Der Sohn einer bekannten Familie im Frankfurter Kunsthandel meldete sich gestern über einen Anwalt bei den Behörden. Seit er 2002 als verschollen …

»Heilige Scheiße!«, rief Frank. »Das gibt’s ja nicht!«

»Du sagst es«, antwortete Andrea. »Ich meine: Die DNA lügt nicht. Ich hatte keinen Zweifel, dass es sich bei der Blutprobe, die ich untersucht habe, wirklich um seine handelt. Aber dass er wahrhaftig auftaucht und dann auch noch mit einem solchen Medienrummel … damit hätte ich nicht gerechnet.«

»Der wird sich warm anziehen müssen«, murrte Hellmer, dessen Herz bis zum Hals hämmerte. In seinem Kopf ging er bereits durch, was Caspar Bahl sich alles fragen lassen musste. Er wimmelte Andrea mit der Begründung ab, dass er sich sofort mit Julia in Verbindung setzen müsse.

Während er ihre Nummer anwählte, drehte sich das Karussell in seinem Kopf immer schneller.

»Frank?«, hörte er ihre Stimme. »Kann ich dich gleich zurückrufen?«

»Nein.«

»Wie bitte?«

»Caspar Bahl ist wieder da.«

Im Hintergrund hörte er ein Hupen und bedauerte sofort, dass er sie damit überrumpelt hatte.

»Wie bitte?« Julias Stimme glich mehr einem Quieken. »Warte. Ich fahre mal rechts ran.«

»Wo bist du denn?«

»Standstreifen. Ich wollte noch mal nach Höchst.«

»Bau mir bloß keinen Scheiß!«

»Nein. Und jetzt raus damit. Was ist mit Bahl?«

»Kannst es im Internet nachlesen. Er hat sich gestern per Anwalt zurückgemeldet. ›Hallo, ich bin wieder da …‹ Na ja, keine Ahnung, wie das Ganze tatsächlich abgelaufen ist. Beim Standesamt? Im Rathaus? Jedenfalls nicht bei der Polizei, und das ärgert mich am meisten. Stattdessen hat es eine Meldung an die Presse gegeben. Andrea hat mich angerufen, sie hat es aus der Hessenschau. Die ersten Infos sind relativ dürftig, aber ich klemme mich sofort dahinter, um mehr zu erfahren.«

»Ich glaub’s nicht.«

Hellmer konnte ihr genau nachfühlen, was in ihr vorging. Er war selbst noch ganz außer sich, beruhigte sich aber allmählich. Julia holte tief Luft: »Okay, ich drehe um und komme zurück. Du führst deine Telefonate, und dann ziehen wir zusammen los. Diesen Typen will ich in die Finger kriegen, aber so was von!«

»Versprich mir nur, dass du keinen Unfall baust.«

Julia lachte. »Du kennst mich doch.«

»Eben drum.«

12 :10 Uhr

Der Anwalt hieß Axel Kammer, und seine Kanzlei befand sich in Kronberg. Zwanzig Autominuten, wenn der Verkehr mitspielte. Julia Durant hatte seine Sekretärin, eine Frau Conrad, erst beim dritten Versuch erreicht und auf einen Termin gedrängt. Nach einem Rückruf, auf den sie eine gefühlte Ewigkeit warten musste, bekam sie grünes Licht. Zusammen mit Frank Hellmer machte sie sich auf den Weg, und sie erreichten nach einer komplikationslosen Anfahrt die elegante Gebäudereihe.

Statt seiner Bürodame empfing der Anwalt die beiden persönlich und führte sie nicht in sein Büro, sondern in eine Art Vorzimmer, das in eine hölzerne Schiebetür mündete. Von Caspar Bahl war nichts zu sehen, genauso wenig wie von weiteren Angestellten oder Personal.

»Ich möchte zuvor ein paar grundlegende Dinge klären«, eröffnete Kammer nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten und Formalitäten. »Zuerst: Mein Mandant ist krank und nicht belastbar. Die meisten Antworten werden Sie daher von mir erhalten. Es wäre ohnehin die beste Wahl, wenn wir das Gespräch zu dritt führen könnten.«

Durant blockte das sofort ab. »Ausgeschlossen.«

»Wie Sie meinen. Ich gebe zu, die Situation ist speziell. Aber Herr Bahl hat große Gedächtnislücken, es kann sein, dass er ins Englische verfällt, ohne es zu merken. Es wird eine ganze Reihe an medizinischen Untersuchungen nötig sein. Offenbar hat er eine Amnesie. Deshalb weiß er zeitweise nicht, wer er ist und woher er kommt.«

Die Kommissare wechselten einen Blick.

»Gut«, sagte Durant schließlich. »Können wir es vielleicht einfach mal versuchen?«

Der Anwalt nickte schmallippig. »Wie Sie wünschen. Bitte.«

Er zog die Schiebetür auf, hinter der sich ein geräumiges Besprechungszimmer befand. Ein langer Tisch mit zwölf lederbezogenen Stühlen. Ein digitales Board. Tafelwasser, umgedrehte Gläser und Gebäck auf der hölzernen Platte. Solche Zimmer kannte man sonst nur aus dem Fernsehen, es gab sie also wirklich. Am hinteren Ende, den Blick zum Fenster gerichtet, saß ein Mann mit wettergegerbter Haut und dünnem Haar. Mehr grau als braun, in wirren Strähnen über den Kopf liegend, dazu ein Dreitagebart. Viel Ähnlichkeit mit den alten Fotos war nicht zu erkennen, außer vielleicht die Augenpartie, aber selbst in diesen Dingen konnte man sich täuschen. War der junge Caspar Bahl ein drahtiger Typ mit aufrechter Haltung gewesen, glich die dreißig Jahre ältere Version einem zusammengefallenen Soufflé. Verstärkt durch die Tatsache, dass es zwischenzeitlich eine deutliche Gewichtszu- und wieder -abnahme gegeben haben musste. Sowohl im Gesicht als auch an den Armen war das erschlaffte Gewebe gut zu erkennen. Bahl drehte sich um.

»Hello.« Er drehte die Augen in Richtung Decke und stutzte. »Ähm. Guten Tag. Sorry.«

Kammer räusperte sich. »Das sind die beiden Kommissare. Julia Düreh und Frank Hellmer.«

»Durant«, korrigierte Julia ihn, ging auf Bahl zu und streckte die Hand aus. »Und Sie sind also der verlorene Sohn.«

Bahl schenkte ihr einen leeren Blick. »Mein Vater ist tot.« Er sah zu seinem Anwalt. »Das stimmt doch, nicht wahr? Papa ist gestorben?«

»Ja, das stimmt. Schon vor langer Zeit.«

»Ich war lange weg«, nickte Bahl.

Um Himmels willen. Durant blickte ihren Partner vielsagend an. Der Mann war ein Wrack, eine Zumutung. Sie wusste nicht, ob sie wütend oder enttäuscht war. Es gab so viele Fragen. Ein totes Mädchen. Eine tote Frau. Ein verurteilter Freund. Aber hier saß nur ein Kind . Sie biss sich auf die Zungenspitze.

»Vielleicht stellen Sie Ihre Fragen am besten mir«, schlug Kammer vor. Er war jung, das war Julia sofort aufgefallen, viel zu jung jedenfalls, um einer von Bahls alten Weggefährten zu sein.

»Vertreten Sie die Familie schon länger?«, wollte sie daher wissen.

»Nein. Aber meine Familie hatte öfter in der Kunstgalerie zu tun.« Er zuckte mit den Augenbrauen. »Geschäftlich.«

»Aha. Und Sie kannten Caspar Bahl vorher nicht?«

»Nein.«

»Wer hat Sie denn dann beauftragt? Er selbst …«

»Hören Sie mal.« Axel Kammer wippte mit der Handfläche. »Das erscheint mir alles wenig zielführend. Haben Sie keine Fragen, die sich um die Umstände des Verschwindens meines Mandanten drehen?«

»Ich glaube, Sie sind viel zu jung, um sich daran zu erinnern«, gab Durant spitzzüngig zurück, was sie sofort bereute, doch es schien an dem Mann im teuren Anzug abzuperlen wie Wasser an einem Entengefieder.

»Gut gekontert. Mein Schwiegervater hat mir aber so gut wie alles darüber erzählt.«

»Ihr Schwieger…«

Kammer nannte einen Namen. »Die Hauskanzlei von Bahl senior. Die beiden waren lange und alte Freunde. Die alte Bulldogge mit seinem kleinen Regiment. Da war für jeden Rechtsbereich etwas dabei, und keiner hat sich mit denen angelegt.« Er fuhr sich über die Stirn. »Aber diese Zeiten gehören der Vergangenheit an. Ich halte es eine Nummer kleiner. Und bei Bedarf weiß ich, wohin ich mich wenden kann.«

Durant schüttelte den Kopf. Hätte sie das wissen müssen? Vermutlich nicht. Aber sie hätte sich denken können, dass alte Seilschaften sich weitervererbten. Das war das Gefährliche an ihnen, wie einen nicht nur die Nazizeit und die Verstrickungen nach der deutschen Wende gelehrt hatten.

Die Kommissarin wandte sich an Caspar Bahl, der teilnahmslos auf seinem Platz saß, die Finger ineinander verschränkt wie beim Gebet. »Dann haben Sie sich also an die Kanzlei gewandt, die Ihre Familie vertritt?«

»Ja, schon. Aber nicht direkt.«

»Was soll das heißen?«

»Ich habe mich an die Galerie erinnert und in der Galerie angerufen.«

Hellmer schnappte nach Luft. »Muth hat Bescheid gewusst? Wann war das?«

»Gestern. Glaube ich. Ja, sonntags haben wir geschlossen. Er hat mir gesagt, dass unser Familienanwalt nicht mehr lebt, aber dass jemand die Kanzlei weiterführt.«

Wieder einer, der nicht mehr am Leben ist, dachte Durant zerknirscht. Wenn es hier ein Muster gab, dann dieses. Auch die Miene ihres Partners sprach Bände, wobei ihn etwas anderes zu beschäftigen schien.

Sie räusperte sich. »Also waren Sie sich darüber im Klaren, wer Sie sind und dass Sie hier seit Jahren als tot gelten.«

Bahl sah sie an, auch wenn seine Pupillen einen Fleck an der Wand hinter ihr zu fixieren schienen. Bevor er etwas sagen konnte, hörte sie den Anwalt antworten: »War das eine Frage? Oder eine Unterstellung?«

»Eine einfache Frage. Wissen Sie, Herr Bahl, dass Sie Caspar Bahl sind, geboren am 5 . September 1967 , und dass wir bis gestern noch davon ausgingen, dass Sie Opfer eines Doppelmords geworden sind?«

Bahl atmete schwer. Seine Worte klangen eigenartig, ein zweifelnder Singsang, als glaube er selbst nicht, was er da von sich gab. »Ich weiß, wer ich bin. Aber immer, wenn ich mich auf ein Detail konzentrieren will, verschwimmen die Bilder in meinem Kopf.«

»Was ist denn das Früheste, woran Sie sich deutlich erinnern können?«

»Ich weiß nicht. Meinen Sie meine Kindheit?«

War das wieder eine Flucht vor dem eigentlichen Thema? Durant witterte eine Gelegenheit. Wie beiläufig antwortete sie: »Ihre Kindheit, Ihre Jugend, Ihre Schulzeit. Vielleicht ein bestimmtes Ereignis oder auch alte Freunde. Nicole Geßler zum Beispiel.« Ihr Kopf fuhr herum in Richtung des Anwalts. »Und bevor Sie jetzt Einspruch rufen: Das sind relevante Fragen!«

Kammer schwieg, und Bahl schien angestrengt nachzudenken. Oder er war ein begnadeter Schauspieler. Schließlich sagte er: »Dennis … Schäfer. Manuela … Voss.« Seine Hände suchten die Wasserflasche und ein Glas. Er schenkte sich ein. »Menschen, von denen ich dachte, es wären gute Freunde.«

Durant und Hellmer sahen sich an. Er wirkte genervt und deutete ein Kopfschütteln an. Das bringt doch alles nichts.

Doch die Kommissarin war noch nicht bereit lockerzulassen. »Was haben die beiden Ihnen denn getan?«

Axel Kammer blieb wider Erwarten stumm.

Caspar Bahl suchte seinen Blick, trank einen Schluck und sagte dann in unerwartet klaren Worten: »Manuela und ich wollten heiraten. Aber dann hat Dennis sie mir ausgespannt. Es gab einen schlimmen Streit. Und dann …«

Julia Durant betete, dass er sich nicht wieder unterbrach.

»… dann haben wir … Es sollte ein Treffen geben. Das Auto. Manuela wollte … Wasser! « Bahls Augen loderten. Er stieß das Glas von sich weg, es kippte, und eine Wasserlache breitete sich auf der makellos gewachsten Holzplatte aus. »Wasser«, keuchte er. »Ich kann nichts mehr sehen. Ich weiß nichts. Alles verschwimmt. Alles kalt.« Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Es tut mir leid.«

Kammer suchte den Raum nach etwas ab, womit er das Wasser beseitigen konnte. Erfolglos. Auch Julia Durant fiel es schwer, den nassen Fleck zu ignorieren, der bereits über die Tischkante tropfte. Aber ihr Augenmerk galt noch immer Caspar Bahl. Sah so ein Mörder aus? Ein abgebrühter Killer, der – falls dem so war – seinen engsten Freund aufs Übelste verladen hatte? Manches sprach dafür, vieles auch dagegen. Nur mit halbem Ohr hörte sie, wie der Anwalt und Frank Hellmer sich darauf einigten, das Gespräch zu vertagen.

»Herr Bahl muss sich ärztlich durchchecken lassen«, hieß es da unter anderem. »Gott allein weiß, was er alles durchgemacht haben muss. Sie können mich aber jederzeit erreichen. Ich werde versuchen, Ihnen sämtliche Fragen nach bestem Wissen zu beantworten.«

Gott allein , wiederholte Julia Durant in Gedanken, während sie den beiden Männern hinterherblickte, als sie den Raum verließen.

13 :05 Uhr

Neben Uwe Liebig, Doris Seidel und Peter Kullmer hatten sich auch Andrea Sievers und Claus Hochgräbe zur Dienstbesprechung im Besprechungszimmer des Polizeipräsidiums eingefunden. Eine selten gewordene Runde, wie Julia Durant bedauernd feststellte. Vielleicht zum letzten Mal, wenn Claus seine Reisepläne in die Tat umsetzte. Doch vorläufig gab es ein Thema, das alles andere in den Schatten stellte. Soeben hatte Frank Hellmer die erste Begegnung mit Caspar Bahl für alle zusammengefasst, und die Kommissarin las in den Gesichtern ihrer Kollegen.

»Sag ich’s doch.« Der erste Kommentar kam von der Rechtsmedizinerin. »Traue niemandem außer der DNA

Kullmer, der neben ihr saß, grinste.

»Ist es denn auch wirklich Caspar Bahl?«, wandte Liebig ein. Neben einer alten Aufnahme hing ein aktuelles Foto, das Hellmer mit seinem Handy gemacht hatte. »Für mich könnten das zwei völlig verschiedene Typen sein.«

Hellmer schnaubte. »Als ob du vor zwanzig Jahren schon genauso eine Schönheit warst wie heute.«

»Ich meine ja nur.«

Julia Durant kürzte diese Diskussion ab. »Bahl wird all diese Prozesse zur Identifizierung über sich ergehen lassen müssen. Danach wissen wir es genau. Im Gegensatz zu normalen Vermissten«, sie setzte das Wort in Anführungszeichen, »haben wir hier ja Fingerabdrücke und Vergleichsproben.«

»Was mir viel mehr Sorge bereitet«, sagte Hellmer, »ist sein Geisteszustand.«

Diesmal war Durant es, die schnaubte. »Bei aller Liebe, Frank, aber das nehme ich ihm noch nicht ganz ab. Erstens, weil er ausgerechnet jetzt auftaucht – kurz nachdem wir seine DNA gefunden haben. Und zweitens«, sie tippte sich an die Stirn, »weil er zwar helle genug ist, um die Kunstgalerie und den Familienanwalt zu kontaktieren, aber dann einen auf Amnesie macht. Sorry, das passt für mich nicht so recht zusammen.«

Claus Hochgräbe klopfte auf die Tischplatte. »Kann ich so weit nachvollziehen. Aber dann bleiben wir doch bei der Frage nach dem Motiv. Warum taucht er überhaupt wieder auf – und warum ausgerechnet jetzt? Das führt mich direkt zu einer weiteren Frage: Hat er in den Medien mitbekommen, dass wir die Leiche seiner damaligen Freundin gefunden haben?«

Kullmer fiel dem Boss ins Wort: »Nicht seine Freundin, oder habe ich da was falsch abgespeichert?«

»Wie auch immer. Sie waren an dem Abend ihres Verschwindens zumindest auf derselben Party. Und wir haben mit Caspar Bahl auch endlich jemanden an der Hand, den wir dazu befragen können.«

»Doch nicht alle tot«, brummte Durant in einem Anflug von Grabeshumor, aber ihre Gedanken drehten sich um einen völlig anderen Punkt. »Aber leider haben wir ja nun genau das Gegenteil. Das erklärt vielleicht deine Frage.«

Claus neigte den Kopf, offenbar konnte er ihr noch nicht folgen. Also setzte sie zu einer Erklärung an: »Bahl entscheidet sich – aus welchen Gründen auch immer –, in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Aus der Presse weiß er über den Leichenfund Bescheid, davon können wir ausgehen, denke ich. Er weiß außerdem, dass – wenn er sich damals absichtlich aus dem Staub gemacht hat – ihm die eine oder andere Strafe wegen der Umstände seines Verschwindens droht. Und wie kann man sich dem Ganzen entziehen?« Sie klatschte die Handflächen gegeneinander. »Genau! Wir kreuzen ganz klein mit Hut bei den Behörden auf – aber direkt den Anwalt im Gepäck – und machen einen auf Opfer mit Amnesie.«

Sie musste eine Pause machen, um zu Luft zu kommen. Eilig ließ Julia den Blick über die Anwesenden schweifen. In ihren Gesichtern waren Spuren des Zweifels zu erkennen, aber keine Ablehnung. Doris meldete sich zu Wort, gerade, als sie weitersprechen wollte: »Glaubst du wirklich, dass es so passiert ist?«

»Ich möchte es jedenfalls nicht ausschließen.« Es war ein Gefühl, das aus den Untiefen ihres Bauches kam. Dort, wo sich die Seele und das Gewissen befanden, jedenfalls hatte sie das als junges Mädchen immer geglaubt. Tatsächlich war es die Region rund um den Blinddarm, aber solange von dort nur Emotionen kamen und kein stechender Schmerz, war alles in Ordnung. »Dieser Mensch taucht ausgerechnet zu einem Zeitpunkt auf, wo sein Name im Fokus der Ermittlungen steht. Dummer Zufall oder auch nicht: Selbst ohne das Auffinden von Nicole Geßlers Überresten in dem Steinbruch wäre der Fall von damals wieder aus den Archiven gezerrt worden. Genau wie die tote Freundin im Kofferraum. Das muss er auf dem Schirm gehabt haben. Wenn er es geschickt anstellt mit seinem Dummstellen, wird ihm keiner von uns genug nachweisen können, um ihn zu verurteilen.« Sie musste erneut eine Atempause machen, so in Rage war sie geraten. Doch es war wie beim Jogging, das wie auf wundersame Weise Denkknoten lösen konnte. Mit dem neuen Atemzug kamen neue Ideen. »Und mir fällt gerade noch etwas ein: Er wird nicht nur unbehelligt weiterleben können, sondern vermutlich auch seinen Anteil des Familienerbes absahnen. Ist das nicht ein Eins-a-Motiv, das Totenreich zu verlassen?«

»Sachte, sachte«, erwiderte Claus mitten in ein aufkommendes Murmeln hinein. »Wir werden dem nachgehen, das ist sicher, aber auch für uns gilt die Unschuldsvermutung. Gerade bei einem solchen Fall, der große Aufmerksamkeit erregen wird, sollte jeder Schritt wohlüberlegt sein.«

»Na?«, zischte Julia ihrem Sitznachbarn Frank zu. »Wer klingt jetzt wie Berger?«

Nach der Besprechung bildeten sich zuerst Gesprächspaare, dann löste sich alles auf. Julia registrierte eine nachdenkliche Miene bei Hellmer. Als diese sich auch noch nicht auflösen wollte, nachdem sie das gemeinsame Büro erreicht hatten, fragte sie: »Was beschäftigt dich denn?«

»Ich weiß nicht. Ich muss da mal was überprüfen.« Er nahm sein Telefon und die Notizen zur Hand. Suchte augenscheinlich eine Nummer, fand und wählte sie. Es klingelte, aber keiner nahm ab. Nach einer halben Ewigkeit unterbrach er den Verbindungsversuch.

»Keine Mailbox«, brummte er.

»Wen wolltest du anrufen?«

»Muth. Irgendwie hat’s vorhin erst Klick gemacht bei mir. Er hat mir am Samstag erzählt, dass er nach New York fliegt.«

»Aha. Und wann?«

»Gestern. Aber wie kann das sein, wenn doch Caspar Bahl ihn kontaktiert hat?«

»Das kann ja schon am Sonntag gewesen sein«, wandte die Kommissarin ein.

Frank blieb beharrlich. »Bahl hat behauptet, es war während der Öffnungszeiten. Also am Montag.«

»Dann ist er vielleicht erst am Nachmittag geflogen. Ich verstehe nicht …«

Das überlaute Klingeln von Hellmers Smartphone unterbrach sie. Seine Augen weiteten sich, als er aufs Display sah.

»Muth«, formte er mit den Lippen und nahm das Gespräch mit der nächsten Bewegung an.

»Herr Muth«, sagte er und tippte auf das Icon, um die Freisprechfunktion zu aktivieren.

»Sie haben angerufen. Sorry. Ich war im Gespräch.«

»Mit wem? Mit der Kunstwelt im Big Apple?«

Die Verbindung war glasklar, aber das hatte nichts zu bedeuten. Julia musste an ihren Vater denken, wie er seine Stimme umso lauter und deutlicher erhob, je weiter er von ihr entfernt war. Da war dieser Seychellenurlaub, dieses Ferngespräch per Handy. Lange, bevor es Flatrates gab.

»Hallo, Julia. Verstehst du mich gut?«

»Als wäre ich nebenan.«

»Ich dich auch.«

Er hatte nicht einmal daran gedacht, seine Stimme zu senken, bis sie ihm erklärte, dass die Verbindung via Funkmast und Satelliten genauso weit sei, wie wenn sie ihn aus Frankfurt anrufen würde. Oder vom Münchner Marienplatz aus. Das wirkte zumindest für einen kurzen Dialog übers Wetter und die Unterbringung. Viel länger hatte das Gespräch nicht gedauert. Die fehlende Flatrate. Sie musste lächeln, da hörte sie auch schon Muths Antwort: »Nein. Ich konnte doch jetzt nicht wegfliegen. Haben Sie nicht mitbekommen, dass Caspar wieder aufgetaucht ist?«

»Allerdings.« Hellmer schnaubte. »Das ist wieder so eine Sache, die ich gerne von Ihnen persönlich erfahren hätte.«

Muth klang bestürzt, doch es wirkte aufgesetzt. »Tut mir leid, dass ich Sie nicht sofort angerufen habe. Hätte ich das tun müssen?«

»Die Frage ist, warum Sie es nicht impulsiv getan haben. Sie wissen doch …«

»Ich weiß nur, dass mir die Knie weggesackt sind. Dieser Teufelskerl. Einfach so, aus dem Nichts, nach so langer Zeit.«

»M-hm. Kam Ihnen das nicht verdächtig vor?«

»Was denn genau?«

»Der Zeitpunkt. Dass er sich bei Ihnen meldet und nicht bei seiner Schwester.«

»Hat er das nicht?«

»Keine Ahnung.« Hellmer klang trotzig. »Uns sagt ja keiner was.«

»Jetzt hören Sie aber auf. Wir sind so was wie Familie. Na ja. Im weitesten Sinne. Da kochen jede Menge Emotionen hoch, da bricht Chaos aus, da handelt man nicht gleich rational. Außerdem war doch klar, dass Caspar sich offiziell zurückmelden wird. Deshalb hat er doch überhaupt erst bei mir angerufen.«

»Um was genau zu erreichen?«, rief Durant aus dem Off.

»Ah. Sie sind auch mit von der Partie. Wer sonst noch?«

»Nur wir beide«, antwortete Hellmer.

»Na gut. Caspar hat mich im Laden erreicht. Eine eingängige kurze Telefonnummer, die sich seit Jahrzehnten nicht geändert hat. Weil ich ja auf dem Sprung in die USA war, lief die Rufumleitung bereits auf mein Handy. Ich war schon fast auf dem Weg in Richtung Flughafen, dann dieser Anruf. ›Du darfst jetzt nicht erschrecken. Ich bin’s, Dave . «

Dave. Der Jugendname von Caspar David.

»Und weiter?«

»Na ja.« Muth lachte kehlig. »Knie weich wie Butter, eine Portion Hyperventilieren, dann ging’s langsam wieder. Er wollte wissen, ob ich allein bin. Dachte ja, ich wäre in der Galerie. Dann, wo seine Schwester ist und so weiter.«

Durant übernahm die nächste Frage. »Haben Sie ihn anhand seiner Stimme gleich identifiziert? Es hätte sich ja auch um einen Spaßvogel handeln können.«

»Wie? Nein. Hören Sie, Dave und ich kennen uns das ganze Leben.«

»Ein Leben, von dem er über die Hälfte tot war«, warf Hellmer ein.

»Trotzdem. Es war Dave. Punktum.«

»Schon gut«, sagte Durant, »und sonst? Irgendetwas, das Ihnen aufgefallen ist? Ein Akzent, eine andere Betonung, sprach er langsamer, oder klang er verwirrt?«

»Nichts dergleichen«, kam es ohne Verzögerung zurück. Aber noch während sie wissend nickte, setzte Muth nach: »Das heißt, jetzt, wo Sie fragen: Er klang schon ein wenig verpeilt.«

Mist. »Aber nicht wie jemand, der unter einer teilweisen Amnesie leidet, oder?«

»Ich bin kein Arzt. Das kann ich nicht beurteilen.«

»Können Sie das vielleicht ein bisschen konkreter beschreiben?«

Muth schnaubte. »Nein. Ich glaube nicht. Und was auch immer Sie vorhaben: Ich werde meinem Freund nicht an den Karren pinkeln.«

»Auf einmal ist er Ihr bester Freund«, sagte Hellmer. »Das klang nicht immer so.«

»Es ist ja auch vieles nicht mehr so, wie es am Wochenende noch den Anschein hatte«, konterte Muth.

Nach einer kurzen Bedenkzeit fragte der Kommissar: »Wissen Sie, wo man Bahl untergebracht hat?«

»Nein.«

»Also ist er nicht bei Ihnen?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sind Sie ihm bereits persönlich begegnet, seit er wieder hier ist?«

»Auch nicht. Was sollen diese Fragen?«

»Routine«, erklärte Hellmer kurz angebunden. »Auch für uns ist plötzlich alles anders geworden. Haben Sie vor, sich in absehbarer Zeit mit Bahl zu treffen?«

»Keine Ahnung. Sicher. Das darf ich ja wohl, oder?«

Durant meldete sich zu Wort: »Klar. Er wird Ihnen ja vermutlich den Job in der Galerie streitig machen.«

Muths Antwort hätte frostiger kaum sein können. »Wenn das alles ist …«

Frank grinste breit und legte auf.

14 :30 Uhr

»Du hast es tatsächlich getan.«

Dorothea stand mit zitternden Knien in der Eingangshalle. Sie hatte stets ein Leben in Fassung geführt, immer etwas über den Dingen stehend, auch wenn das leider oft bedeutete, von gewissen Dingen ausgeschlossen zu sein. Nicht, dass sie sich rückblickend danach sehnte, mit dem tollen Marcus aus der Zwölf zu knutschen, so wie eigentlich alle aus dem damaligen Neuner-Jahrgang. Bis zum Abi hatten nicht wenige von ihnen es geschafft. Dorothea hingegen hatte schon damals gewusst, dass sie nicht auf Jungs stand. Die Klarheit, worauf genau sie stand, kam schrittweise. Ausgelebt hatte sie es nur selten und niemals offen. Weder ihre Eltern durften davon erfahren und auch nicht ihr Bruder. Niemand! Und doch schien es der Alte geahnt zu haben. Warum sonst hätte er so ein Testament verfasst. Einen Erben zeugen. Was für eine jähe Verletzung ihrer Selbstbestimmung das war!

Doch nicht ihr Vater war in diesem Moment das Problem, sondern ihr Bruder. Caspar David Bahl.

Dieser stand neben Axel Kammer, jenem viel zu jung wirkenden Schnösel, der sich (wie sie fand) den großen Namen der Kanzlei, für die er auftrat, erst noch verdienen musste.

»Hallo … Dorothea.«

Caspars Stimme klang nicht so, wie sie sie in Erinnerung hatte. Er sah auch nicht so aus, er roch nicht einmal so. Im Grunde hätte da fast jeder vor ihr stehen können, dachte sie. Aber es stand kein anderer da, sondern er . Mitten in der Öffentlichkeit. Hochoffiziell.

Kammer grinste breit. »Ich habe mir gedacht, ich komme gleich mit. Dann können wir das weitere Vorgehen besprechen. Es ist so unglaublich viel Papierkram zu erledigen, und ich kann euch versichern, dass ich so einen Fall noch nie hatte.«

Wie viele Fälle hattest du denn überhaupt schon?, fragte sich Dorothea.

Im Laufe der kommenden zwei Stunden musste sie spüren, wie ihr mehr und mehr der Boden unter den Füßen weggezerrt wurde. Mit einer erbarmungslosen Geschäftigkeit. Stück für Stück. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie so hart landen würde, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Sie hatte so manches kommen sehen, aber nicht alles. Und dass es so ablaufen würde, am allerwenigsten. Doch eines hatte sie unter dem strengen Regime, das ihr Vater führte, gelernt: Kampflos aufzugeben war nie eine Option. Wer nicht kämpfte, der hatte bereits verloren.

Also würde sie kämpfen.

14 :35 Uhr

»Ich schwöre Ihnen auf alles, was Sie wollen, und wenn es das Grab meiner Mutter ist.«

Luca Novaks Körpersprache und Verfassung wären unter alltäglichen Umständen einen Lehrbucheintrag wert gewesen. Puterrot und schwitzend wie ein Schwein stand er vor den beiden Frauen. Der schlechteste Lügner, den die Welt je gesehen hatte. Das Problem dabei: Die Kommissarinnen hatten ihn bei einem Saunagang erwischt. Über Novaks Schultern hing ein deutlich zu groß bemessener Bademantel mit dunkler, seidiger Oberfläche. Es ließ ihn wie einen aus der Form geratenen Superhelden aussehen; die muskulösen Arme wurden vom Stoff kaschiert, während sich die Körpermitte unter der gebundenen Schleife spannte.

»Auch auf das Grab Ihres Vaters?«, fragte Durant trocken. Männer aus Novaks Kreisen, für die Frauen Menschen zweiter Klasse waren, schworen viel zu leichtfertig auf ihre Mütter.

»Mein Vater lebt noch«, kam es zurück, und Durant zuckte unmerklich zusammen. Bevor sie reagieren konnte, fuhr Novak fort: »Aber ich schwöre auch bei seinem Leben, wenn’s sein muss, und auf sämtliche Ahnen und Nachfahren, wenn das noch nicht reicht. Ich habe das Handy nicht

Doris Seidel sah an ihm vorbei. Durch eines der Fenster konnte sie das Mainwasser sehen, das im Licht der Wintersonne funkelte. »Aber Sie haben es aus Frau Munz’ Appartement entfernt?«

»Nein! Ich sagte doch …«

»Es jetzt nicht zu haben bedeutet nicht, es nie gehabt zu haben. Es könnte irgendwo auf dem Grund des Mains liegen, oder nicht?«

Sein Blick folgte dem ihren. »Warum sollte ich das tun?«

Durant musste einsehen, dass seine Frage Sinn ergab, und auch Doris deutete ein Nicken an, bevor sie sagte: »Also noch mal: Sie haben Vivian Munz leblos in der Badewanne liegend aufgefunden, und zu diesem Zeitpunkt war das Telefon nirgendwo zu sehen?«

»Genauso ist es.«

»Haben Sie danach gesucht?«

Novak zögerte kurz. »Ja. Ich wusste ja, dass sie Folgetermine hat. Aber im Gegensatz zu dem Schwanzgesicht, der ihr das angetan hat, kenne ich die anderen Freier. Gebraucht habe ich das Telefon also nicht.«

»Und dann was?«, meldete sich Julia. »Sie haben die Kundschaft kontaktiert und alles abgesagt, aber die Leiche einfach in der Badewanne liegen lassen?«

Der verschwitzte Superheld schien immer mehr in seinem Umhang zu versinken. Einzig seine Gesichtsfarbe blieb unverändert rot. »Ich rufe jetzt vielleicht besser meinen Anwalt dazu«, murmelte er.

»Das ist Ihr gutes Recht.« Julia lächelte. »Er wird Ihnen dann vermutlich etwas über die Störung der Totenruhe erzählen. Und natürlich über Strafvereitelung. Aber mal ganz unter uns Pastorentöchtern: Ich habe kein Interesse, Ihnen an den Karren zu fahren. Das soll das Sittendezernat machen … oder auch nicht. Was mich interessiert, ist der Mord an einer Frau.« Sie hob die Brauen und senkte die Stimme. »Und je mehr Sie uns in dieser Hinsicht helfen, desto besser läuft es am Ende für uns beide.«

»Denken Sie also noch einmal scharf nach«, übernahm Doris mit einem vielsagenden Nicken, »und vielleicht taucht dieses Handy ja sogar ganz anonym bei uns im Präsidium auf. Hat es alles schon gegeben.«

Damit ließen sie ihn stehen, denn sie wussten beide, dass ihre Möglichkeiten erschöpft waren. Niemand würde wegen des Smartphones einen Durchsuchungsbeschluss ausstellen, und Novak war vielleicht nicht der Allerhellste, aber er war abgebrüht genug, dass er das Gerät nicht in seiner Wohnung versteckt halten würde. Vielleicht hatte Selina Jacob es, vielleicht hortete sie es als eine Art letzte Erinnerung, vielleicht lag es aber auch wirklich im Main. Wer wusste das schon? Aber vielleicht hatten sie ihm auch ein Hintertürchen aufgezeigt, um sich galant aus der Affäre zu ziehen.

»Was sollte überhaupt dieser komische Spruch mit den Pastorentöchtern?«, rief er den beiden Frauen hinterher. Julia musste grinsen, und schon fuhr er fort: »So etwas bin ich nicht!«

Die Kommissarin blieb stehen und schenkte ihm einen letzten Blick.

»Ich schon.«

Sie drehte sich um und verschwand mit einem Winken aus seinem Sichtfeld.

Als die beiden in Doris’ Wagen saßen und die Anschnallgurte anlegten, sagte Julia: »Und was meinst du?«

Doris grinste. Sie legte den Rückwärtsgang ein, fuhr einen eleganten Bogen und schaltete wieder um. Bevor sie anfuhr, antwortete sie: »Zu seiner Aufmachung? Sieht man nicht oft. Wobei …«

»… sexy geht anders«, vollendete Julia den Satz und musste kichern. »Aber das hab ich nicht gemeint.«

»Schon klar. Aber ich denke, er hat das Gerät wirklich nicht. Und falls doch, wird er einen Weg finden, es uns zuzuspielen.«

»Yeah«, goutierte Julia. »Das war ein cooler Move.«

»Jetzt klingst du fast wie Elisa.«

»Man muss mit der Zeit gehen. Immerhin habe ich ja jetzt so was wie einen Neffen.«

Jetzt kicherte Doris. Sie fuhren an der Taunusanlage entlang, der Opernplatz und die Alte Oper kamen in Sicht. »Wäre Enkel nicht …«

»Untersteh dich!«, rief Julia, und auch wenn sie lachte, schwang ein tiefer Ernst in ihrer Stimme mit.

»Schon gut, schon gut. War ein Witz. Nein, ein Joke.« Doris schniefte. »Aber im Ernst: Wie läuft es denn? Nicht gut, oder?«

»Nein. Aber ich weiß nicht, ob ich drüber reden möchte. Die Arbeit ist meine Zuflucht momentan, und irgendwie brauche ich auch meine Konzentration für die ganzen gordischen Knoten, die da rumliegen.«

»Verstehe ich.«

»Und bei dir?«

Doris schwieg einige Sekunden und gab dabei vor, dass die Lenkmanöver ihre volle Aufmerksamkeit erforderten. Soeben passierten sie das ehemalige Präsidium. Sie wippte mit dem Kopf. »Damals jedenfalls war vieles besser.«

»Finde ich nicht. Die Räume waren eine Katastrophe. Im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt, von der Enge und vom Gestank ganz zu schweigen.«

»Übertreibst du nicht ein wenig?«

»Nein, eigentlich nicht. Zugegeben: Wir hatten tolle Jahre. Aber besser war es nicht.«

»Hmm. So betrachtet …«

Julia musterte ihre Kollegin. So lange kannten sie sich jetzt schon, und trotzdem schien es etwas zu geben, das zwischen ihnen stand.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«

Doris nickte, und sie berichtete von ihrem Besuch in Wiesbaden. »Da stehst du vor einer Frau, der eben das Schlimmste passiert ist, das man sich vorstellen kann«, schloss sie, »und sie strahlt so viel Energie aus, so viel Selbstbewusstsein. Das hat mich umgehauen. Ich habe nächtelang Albträume, weil ich sie in ihr Verderben rennen ließ, ich habe gedacht, alles hinzuschmeißen, verstehst du das? Und dann so was. Das hat mich aufgerüttelt, und ich glaube, ich bin jetzt übern Berg. Jetzt setzen wir alles dran, diese Dreckschweine zu finden. Das schulde ich ihr, aber ich schulde es ihr nur noch als Ermittlerin und nicht, weil ich mich persönlich dafür zur Rechenschaft ziehe.«

»Verstehe. Also war ihre Begegnung mit den Männern reiner Zufall.«

»Sie sagt, sie sei auf dem Hinweg absichtlich um sie herumgelaufen. Und dann, fast zwei Stunden später, hat sie einfach nicht mehr dran gedacht beziehungsweise ging sie davon aus, dass sie längst weitergezogen sind.« Ihr Blick trübte sich ein, und die Stimme klang belegt. »Waren sie im Grunde auch. Nur nicht weit genug.«

»Verdammter Mist.« Julia atmete flach. »Aber Charly Abel ist doch an der Sache dran, na ja, und Liebig ja auch. Ihr habt Phantombilder und DNA . Die Chancen stehen also nicht schlecht, oder?«

»Hoffen wir es.«

Doris Seidel sah so aus, als wolle sie noch etwas sagen, aber diesmal war es wirklich der Verkehr, der ihre Aufmerksamkeit einforderte. Parallel dazu kam Julia Durant ein Gedanke.

»Apropos DNA «, murmelte sie und zog das Handy aus der Tasche. Sie wählte Andrea Sievers an und wartete, bis sich die Verbindung aufgebaut hatte.

»Was willst du von ihr?«

»Wir müssen über Hautschuppen reden. Und ich fürchte, es wird ihr nicht gefallen.«

15 :10 Uhr

»Glaubst du nicht, dass wir das als Allererstes gemacht haben?«

Platzeck von der Spurensicherung klang erzürnt. Er war ein brillanter Forensiker, auf den man sich immer verlassen konnte. Seine kauzige Einsilbigkeit: geschenkt.

Julia Durant war aus dem Wagen gestiegen. Sie hatte Doris gebeten, zurück ins Bahnhofsviertel zu fahren. Nun stand sie vor der versiegelten Tür zu den Räumlichkeiten, in denen Vivian Munz gewaltsam zu Tode gekommen war. An ihrem Ohr der kleine Lautsprecher mit der aufgebrachten Stimme darin.

»Ich weiß, dass ihr immer alles gebt«, sagte sie, »aber wir haben in diesem Fall sonst nichts in der Hand. Nichts, verstehst du? Wenn Vivians Mörder mit ihr sexuellen Kontakt hatte – und davon gehen wir ja aus –, dann muss das Bettlaken etwas aufweisen. Und wenn es nur ein einziger Hautpartikel ist …«

»Prima. Dann haben wir ja nur noch ein paar Hundert andere«, schnaufte Platzeck. »Wer weiß, wie oft die gute Frau ihr Bettzeug gewechselt hat.«

Diese Vorstellung irritierte Durant. In den Schränken des Opfers hatten sich, wie sie wusste, hauptsächlich Laken und Bezüge gefunden. Sie entschuldigte sich kurz, hielt Platzeck in der Schleife und rief Selina Jacob an. Diese ging nach kurzem Freizeichen dran und versicherte der Kommissarin, dass sie die Laken jedes Mal frisch aufzögen. Doch in ihrer Stimme lag etwas, das die Kommissarin zweifeln ließ.

»Jedes Mal? Wirklich? Dann besteht Ihre Freizeit ja zum Großteil aus Wäschewaschen.«

Frau Jacob lachte. Es glich mehr einem Meckern. »Hört jemand mit?«

»Nein«, versicherte Durant.

»Hmm. Die meisten von uns erledigen das jeden Abend. Okay? Aber spätestens dann. Wenn ein Freier Sonderwünsche hat, also Wachs oder sonstige Flüssigkeiten ins Spiel kommen, dann ziehe ich es auch schon früher ab. Aber solange es sauber zugeht, spare ich mir den Stress. Denn Sie haben natürlich recht: Wäschewaschen und Bettenbeziehen würde sonst überhandnehmen. Allerdings gibt es einen Reinigungsservice. Das nur so am Rande.« Sie machte eine kurze Denkpause. »Was ist daran denn so wichtig? Ach so. Die Spurensicherung, hm? Gibt es etwas Neues?«

»Bedaure. Und ja, es geht wirklich um die Spurensicherung. Sollten wir etwas finden, wäre es gut zu wissen, mit welchem Zeitraum wir es zu tun haben.«

»Ein Tag. Maximum. Ich weiß, dass es Vivians erster Kunde am Freitag war. Es sei denn, sie hatte am frühen Nachmittag noch kurzfristig wen da, von dem ich nichts weiß.«

»Danke.«

»Ach ja, und noch was, falls es Ihnen was bringt. Jeden neuen Monat müssen wir gründlich durchsaugen und auch wischen. Dafür haben wir leider keinen Service.« Ein Sekundenschweigen. »So ein Mist. Nächste Woche ist es wieder so weit.«

Die Kommissarin bedankte sich und wechselte zurück zu Platzeck. »Unsere Chancen sind gerade massiv gestiegen«, verkündete sie. »Mit etwas Glück haben wir nur zwei, höchstens drei verschiedene Personen, die sich auf dem Laken vergnügt haben.«

»Hurra!«

»Ach komm schon. Dafür erspare ich dir die Suche nach Fingerabdrücken, und der Teppichboden bleibt auch außen vor. Letztes Mal Saugen und Wischen vor drei bis vier Wochen. Da suchen wir uns dumm und dämlich.«

»Wir – heißt das, du suchst mit?«

»Das kann doch niemand besser als ihr«, säuselte Julia Durant, »und ich schon gar nicht.«

Noch immer stand sie vor der Tür des Appartements. Doch statt hineinzugehen, wandte sie sich ab. Sie hätte nichts darin gefunden, schon gar kein Smartphone. Jeder Winkel, vom Spülkasten bis zur Revisionsklappe, von der Abluft bis hinter allen Schränken war im Laufe der Tage danach gesucht worden. Es gab Dutzende Fingerabdrücke, die man niemals zuordnen würde, und besagtes Bettzeug, an dem unter anderem das Blut der Toten haftete. All das lagerte längst in der Forensik, und nun würden sich eine Handvoll Menschen in Schutzanzügen über den Stoff hermachen und die Nadel im Heuhaufen suchen. Aus Fernsehreportagen wusste die Kommissarin, wie viele Kleinstteile man zum Beispiel in Hotelbetten fand, die in etwa genauso oft aufgefrischt wurden wie das Bettzeug hier. Keine beneidenswerte Tätigkeit und vor allem kein Job, den man ins Blaue hinein machte. Aber in diesem Fall schien es (neben dem Handy, aber an dessen Wiederauftauchen glaubte Julia nicht) die vielversprechendste Option zu sein.

Zwei bis drei Personen. Eine davon das Opfer. Sollte sich tatsächlich nur eine weitere DNA finden, gehörte sie dem Täter. Und in diesem Fall spielte die Zeit plötzlich für sie: Denn auch wenn es keine Übereinstimmung gab – irgendwann würde es vielleicht passieren. So wie bei Caspar Bahl.

Durant wählte erneut die Nummer von Selina Jacob. »Eine Frage noch, und die ist wirklich wichtig«, leitete sie ein. »Haben Sie irgendwann nach Vivians Tod ihr Telefon gesehen? Oder gehört?«

»Nein. Das habe ich doch schon ausgesagt.«

»Manchmal spielt einem die Erinnerung einen Streich. Besonders dann, wenn schlimme Dinge passieren. Wo bewahren Sie denn Ihr Gerät auf, wenn Sie … wenn Kundschaft da ist?«

Selina schmunzelte, das hörte man deutlich.

»Ich lege es auf den Nachttisch. Stumm geschaltet. Es wäre fatal, wenn es klingelt, aber so ist es trotzdem in meiner Reichweite. Niemand stört sich daran, weil mittlerweile ja jeder eins neben dem Bett liegen hat.«

»M-hm. Und haben Sie sich nicht gewundert, dass bei Ihrer Freundin keines lag?«

»Hmm. Wenn Sie mich so fragen …«

»Dann was?«

»Es lag keines da. Jedenfalls habe ich keines bewusst wahrgenommen.«

»Und wenn Sie es gesehen hätten? Hätten Sie es in die Hand genommen, um zu sehen, wer der letzte Freier war?«

»Ja. Vermutlich schon. Aber sehen Sie: Das habe ich nicht. Also war da auch keines. Wenn Sie mir das nicht glauben …«

»Schon gut«, sagte Durant. »Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, war es ihr noch klarer als zuvor: Vergiss das blöde Handy! Alle Hoffnung liegt jetzt auf dem Laken.

*

Die Abgeschlagenheit machte Julia Durant die Beine schwer, als sie den Eingang des Sandsteinhauses in Blickweite zum Holzhausenpark betrat, an der Kellertür und der Erdgeschosswohnung vorbeischritt, ohne den Geistern der Vergangenheit Platz in ihren Gedanken einzuräumen. Auf den Stufen treppauf, wo eine Sicherheitstür in ihre Wohnung führte. Hin und wieder meldeten sich Immobilienmakler bei ihr. Das Haus war in einer Stadtlage, einem Zustand und einer Raumaufteilung, dass sich nicht wenige Menschen die Finger danach lecken würden. Doch ein Verkauf kam für sie nicht infrage. Es war Susannes Eigentumswohnung gewesen. Ein Anker, der ihre Freundin in die Tiefe gezogen hatte, ihr selbst aber eine unschätzbare Freiheit bescherte. Und auch nach all den Jahren war Susanne es, die für Julia die Freiheit bedeutete, wenn das Leben (und Sterben) der Stadt sie runterzog. Nur dass es diesmal nicht sie sein würde, die an die azurblaue Riviera reisen durfte.

Claus Hochgräbe hatte ihr eine Nachricht hinterlassen. Er hatte einen Termin bei der Autovermietung in der Nähe des Präsidiums. Ein bequemer Kleinbus, ein Mercedes Vito, das war sein Plan. Er machte also Ernst. Er, der jahrelang behauptet hatte, dass man heutzutage kein Auto mehr brauche. Aber das war vor den besonderen Umständen gewesen, die ihn zu dieser Reise drängten.

Sie schaltete den Fernseher ein.

Die Weltgesundheitsorganisation drängte darauf, dass sich das Gesundheitswesen auf das Coronavirus vorbereiten müsse. Ein ganzes Hotel auf den Kanaren war bereits isoliert. Deutschland dagegen stand mit sechzehn Fällen noch verhältnismäßig gut da. Ein Krisentreffen der EU -Gesundheitsminister in Genf …

Sie schaltete den Fernseher aus. Es gab ein erträgliches Maß an Krisen und Katastrophen, dem sie gewachsen war. Amokfahrer und Virusepidemien gehörten nicht dazu. Ein Abstecher ins Schlafzimmer verriet ihr, dass Claus noch nicht gepackt hatte. Sie konnte sich also zumindest noch eine Laufrunde gönnen, um den Kopf ein wenig frei zu kriegen. Vielleicht konnte sie ihre Route ja so wählen, dass sie ihm in Alinas Wohnung begegnete.

Während Julia Durant ihre Jeans gegen eine Sporthose tauschte und sich Laufschuhe anzog, dachte sie an die andere Familie, die dort lebte. Eine junge Frau, die ihren inhaftierten Mann verloren hatte. Keine gute Idee vielleicht, dort aufzukreuzen. Dieser Fall gehörte Uwe Liebig und zählte außerdem zu den Katastrophen, die Julia nicht so nah an sich heranlassen wollte. Wenn sie nicht untergehen wollte, musste sie lernen, sich freizuschwimmen.

Auch ohne jedes Mal nach Frankreich zu flüchten.

18 :50 Uhr

Es war ein Opel Vivaro geworden. Hochgräbe fuhr ihn mit einem zufriedenen Lächeln auf den Innenhof des Präsidiums. Er würde das Fahrzeug nicht mit nach Hause nehmen, nur um endlos einen Parkplatz in der engen Straße zu suchen. Nach Feierabend ein nahezu sinnloses Unterfangen.

»Was ist das denn?« Frank Hellmer stand plötzlich neben dem Fenster.

Hochgräbe stieg aus und unterrichtete ihn kurz über seine Reisepläne. »Und was gibt’s bei dir Neues?«, fragte er am Ende, um keine Nachfragen aufkommen zu lassen.

»Ärger an allen Fronten. Aber das lass mal unsere Sorge sein, so was hatten wir auch schon vor deiner Zeit.«

Hellmer grinste schief, und Hochgräbe brummte etwas Unverständliches. Als eine unangenehme Pause entstand, sagte Hellmer: »Finde ich übrigens richtig so. Also nicht, dass du gehst. War eine gute Zeit zusammen. Aber dass ihr diese Reise macht. Ich habe, als die Kinder klein waren, viel zu viel verpasst. Wenn ich’s noch mal angehen dürfte …«

Er sprach nicht weiter, weil sein Telefon piepte. Eine Sprachnachricht von Uwe Liebig. »Hey. Wann immer du das abhörst: Es geht um Aleksander Salim. Der Gefängnistote. Die gute Nachricht: Es war kein Mord, also kein zweiter Mordversuch, so meine ich das. Seine Vorverletzungen waren zu schwer, der Körper hat aufgegeben. Und damit kommen wir zur schlechten Nachricht: Es wird sich wohl nicht mehr aufklären lassen, wer genau dahintersteckt. Bandenscheiß. Meine Welt. Salim hat einen ihrer Obermacker auf dem Gewissen, und das war jetzt die Rache. Es hätte ihn draußen genauso erwischen können wie drinnen. Das ist dann am Ende wieder eine gute Nachricht: kein neuer Gefängnisskandal. Na ja, dann tschö erst mal. Wir hören uns.«

Hellmer hatte die ganze Zeit über die Luft angehalten, dass Liebig sich nicht im Ton vergriff oder eine Peinlichkeit vom Stapel ließ.

»Ich hatte wohl kurzzeitig keinen Empfang«, sagte er zu Hochgräbe und zuckte die Schultern. »Na ja, so haben wir es beide gehört.«

»Müssen wir wohl so hinnehmen«, erwiderte der Boss mit einem langsamen Nicken. »Die Frage ist nur, was geschieht jetzt mit Tiana Ganev? Sie ist zudem schwanger.«

»Wie hat sie das Ganze denn verkraftet?«

»Schlecht. Jedenfalls im ersten Augenblick. Aber Frauen mit ihrem Schicksal verfügen oft über unglaubliche Kräfte. Sie nehmen die härtesten Schicksalsschläge hin, sie durchleben die Hölle, und trotzdem verlieren sie nicht den Lebensmut. Ich hoffe, dass Tiana stark genug ist, um nach vorne zu schauen. Ich traue es ihr zu.«

»Ja. Hoffen wir’s. Hatte sie nicht ein bisschen Geld zur Seite gelegt?«

»Davon will ich nichts wissen!«, wehrte Hochgräbe ab. Es gab das Gerücht, dass Salim dem toten Gangster eine größere Summe Geld entwendet hatte. Gefunden worden war es nie.

Hellmer stöhnte. »Diese gottverdammte Scheiße. Wir kriegen es einfach nicht in den Griff. Aber wenn Liebig sagt, dass wir das nicht weiter auflösen werden, müssen wir das hinnehmen. Unser Banden-Profi.«

Hochgräbe nickte. »Ich höre schon unseren Oberboss, wie er dasselbe sagt. Hauptsache kein neuer Skandal . Das ist ja was, was ich überhaupt nicht vermissen werde. Diese Politik hinter allem.«

Frank Hellmer seufzte. »Wie recht du hast.«

Eine halbe Stunde später stieg der Kommissar aus dem Wagen, gab seiner Frau Nadine einen innigen Kuss und fragte sie, ob er noch eine Weile den Boxsack malträtieren und ein paar Bahnen schwimmen dürfe.

Nadine schenkte ihm ein ironisches Lächeln. »Es steht jedenfalls kein Drei-Gänge-Menü bereit, falls du dir so was erhofft hattest.«

Sie wusste besser, als ihr lieb war, dass bestimmte Phasen einer Mordermittlung den Tagesrhythmus einer Polizistenfamilie tiefgreifend erschüttern konnten. Doch im Zeitalter von Handys, Mikrowellen und Essen zum Mitnehmen und in einer Lebensphase, wo sich der Tag nicht mehr nach den Bedürfnissen heranwachsender Kinder richtete, war das alles nur noch halb so wild.

»Nachher erzählst du mir aber, was dich bedrückt«, sagte sie nur und schenkte ihrem Mann ein warmes Lächeln. Er nickte und begab sich ins Kellergeschoss.

Mit dem Schweiß kam die Erschöpfung, aber auch ein gewisser Abstand zu allem. Und die Gewissheit, wie gut er es hatte.

Als er eine weitere Stunde später geduscht und entspannt in einen Bademantel gewickelt auf dem Sofa saß, schmiegte Nadine sich an ihn und gurrte: »Du riechst gut.«

Sie neckte ihn mit dem Kopf. Er drehte sich zu ihr, küsste sie und spürte, wie sich eine Hand am Knoten des Frotteebandes zu schaffen machte. In der Küche lief die Spülmaschine, vor ihnen der Fernseher. Das Licht brannte, die Zimmertüren standen offen. Egal! Niemand sonst war im Haus. Wie oft hatten sie leise sein müssen. Rücksicht auf den unsteten Kinderschlaf nehmen. Wie oft … aber heute …

Das Handy zerstörte den Zauber des Moments.

Mit einem Stöhnen, das nicht nur schwerfällig war, rollte sich Hellmer in Richtung der Sofaarmlehne. Fingerte das Gerät aus dem Schlitz zwischen Lehne und Kissen, in den es oft und gerne rutschte, und hätte es am liebsten in die nächste Ecke geworfen. In seinen Leisten pochte es. Nadine sagte nichts, sah ihn aber erwartungsvoll an. Er hätte es stumm drücken können, er hätte es mit zwei Fingertipps in den Flugmodus versetzen können. Doch der Name auf dem Display machte das unmöglich.

»Ich muss «, presste er hervor, »ein Kollege aus dem Taunus.«

Nadine nickte nur. Verstehend – und enttäuscht.

Frank erhob sich. »Günther«, sagte er, während der Bademantel, dessen Band längst entknotet war, nach beiden Seiten aufklappte.

Im Hintergrund kicherte es, doch das hörte er nicht mehr.

20 :47 Uhr

Claus Hochgräbe wuchtete ächzend seinen Reisekoffer in den Flur, wo bereits eine prall gefüllte Reisetasche wartete. Julia hatte ihm beim Packen Gesellschaft geleistet. Das Problem solcher Reisen war, dass man für beide Witterungen packen musste.

»Ich hatte auch in Avignon schon mal Schnee«, erinnerte sie sich.

»Zum Glück fliegen wir nicht«, brummte Claus.

In dem Kleinbus, den er gemietet hatte, war wirklich massig Platz für Gepäck.

Er ging ins Bad, um seinen Kulturbeutel zu füllen. Julia trottete in die Küche. Morgen früh also, dachte sie. So schnell kann’s gehen. Als sie sich ein Glas aus dem Regal nahm, schellte das Telefon. Claus war zuerst dran, doch seine Stimme verriet, dass er ihr den Apparat innerhalb der nächsten Sekunden überreichen würde.

»Frank«, formte er mit den Lippen und reckte ihr den Arm entgegen.

Julia nahm das Mobilteil ans Ohr. »Ja, hallo?«

»Günther hat mich gerade angerufen«, vermeldete ihr Partner. »Es geht um die Obduktion von Frau Schuhmacher.«

»Die Haushälterin«, sagte sie mehr zu sich selbst.

»M-hm, pass auf: In ihrer Lunge wurden keine Spuren von Rauch gefunden.«

Durant wusste, dass es – genau wie bei Ertrinkungsopfern – durchaus Fälle gab, in denen sich die Atemwege im Falle einer tödlichen Gefahr verschlossen. Der menschliche Körper war in dieser Hinsicht ein Wunderwerk. Doch Frank war noch nicht am Ende seines Berichts.

»Mund, Rachen, Lunge. Alles picobello sauber. Ich hätte es ja ursprünglich lieber gehabt, wenn der Leichnam direkt zu Andrea Sievers gekommen wäre, das gebe ich zu. Aber Hut ab, der Obduktionsbericht ist eins a.«

»Aber was bedeutet er?«, fragte Durant, die einen Denkfehler vermutete und ihre Gedanken daher laut ausformulierte: »Eva Schuhmacher hat ja noch gelebt, als die Feuerwehr eintraf. Im Rettungswagen hat sie doch noch irgendwas von ›Sünde‹ geredet.«

»Das ist es ja!«, rief Hellmer. »Wenn sie tot gewesen wäre und wir dann keine Spuren von Rauch gefunden hätten, hätten wir davon ausgehen müssen, dass ein Gewaltverbrechen vorliegt. Eine Tatverschleierung durch Brandstiftung. Aber sie hat nachweislich gelebt, als das Feuer ausbrach. Aufgefunden wurde sie am unteren Ende der Treppe, bewusstlos. Entweder durch einen Sturz, verursacht durch Panik, oder es gab eine Benommenheit, verursacht durch das Einatmen von Rauch.«

»Oder beides«, erwiderte Durant.

»Exakt. Aber was fehlt?«

»Der Rauch in der Lunge.« Durant schnappte. »Moment, aber dann kann es ja gar nicht sein, dass sie von oben kam. Es sei denn, sie hat die Luft angehalten.«

»Selbst wenn sie das getan hat … Wenn sie vom Feuer geweckt und panisch nach unten gelaufen wäre … Nein, dann hätte sie wenigstens ein bisschen davon eingeatmet. Es sei denn, sie hat sich ein feuchtes Tuch vors Gesicht gehalten, aber auch so etwas will ja erst mal gemacht werden. Und gefunden wurde nichts in dieser Richtung.«

»Wer behauptet denn eigentlich, dass sie von oben gekommen ist?«

»Ihre Lage plus die Sturzverletzung«, antwortete Frank. »Aber es gibt einen weiteren Widerspruch.«

Julia seufzte. »Ich höre.«

»Keine Medikamente. Frau Schuhmacher musste morgens und abends verschiedene Tabletten nehmen. Das Dosett ist zwar geschmolzen, aber laut Medikamentenplan wären es zwei Pillen gewesen, von denen man entsprechende Rückstände hätte finden müssen.«

»Auch wenn sie sie eingenommen und sie sich aufgelöst hätten?«

»Ja. Mindestens Reste davon.«

»Vielleicht hat sie sie vergessen.«

»Möglich ist das. Doch wenn du ein Glas Wasser und deine Wochenmedikation direkt neben dem Bett stehen hast – wie wahrscheinlich ist das?«

»Gut. Kürzen wir das ab. Vieles spricht also dafür, dass die Ärmste nicht oben war, als das Feuer ausbrach. Was, wenn sie auf dem Weg nach oben das Bewusstsein verlor, stürzte und der Rest einfach ein unglücklicher Zufall war? Brandursache unbekannt – das liest man doch immer wieder.«

»Ich wiederhole mich ja nicht gerne«, unkte Frank Hellmer, »aber du klingst schon wieder wie Berger.«

Julia Durant hob die Achseln. »Und wenn schon.«