Mittwoch

Mittwoch, 26 . Februar, 9 :30 Uhr

A Aschermittwoch. Katerstimmung.

Doch es war kein übertriebener Alkoholkonsum, der dieses dumpfe Gefühl im Kopf und in der Magengegend ausgelöst hatte.

Sie waren weg. Lynels Gesicht hinter der Seitenscheibe war das Letzte, das Julia Durant gesehen hatte, nachdem Claus den Kleinbus vom Hof gesteuert hatte. Der Junge hatte freudig gewinkt. Für so einen kleinen Menschen erlebte er gerade das größte Abenteuer des Lebens. Begonnen mit der Flugreise aus Namibia hierher. Auf einen völlig fremden Kontinent, den er jetzt auch noch per Roadtrip bereiste. Wie furchtbar, dass ihn die Realität in absehbarer Zeit so hart einzuholen drohte.

In ihrer Hand ein gerolltes Papier. Ein Bild von Lynel, es zeigte vier Personen – und eine riesige Wachsmalsonne, die das halbe Blatt ausfüllte. Die Kommissarin rieb sich verstohlen die Augenwinkel und entschied, das Gemälde im Büro aufzuhängen. Endlich ein Grund, das verblichene Kalenderblatt mit einer Skyline-Aufnahme zu entfernen, dachte sie, während sie den Fahrstuhl nach oben nahm. Zum Laufen fehlte ihr an diesem Morgen der Elan. Außerdem hatte Claus ihr zwischen Abschiedskuss und Umarmung noch etwas zugeflüstert, was er schon wer weiß wie lange mit sich herumschleppte. Oder auch erst ganz frisch. Jedenfalls musste sie das erst einmal verdauen; ihr ganz persönliches Heringsessen.

Im Büro wartete jedoch schon Frank, weshalb nicht einmal mehr die Zeit blieb, sich um das Familienbild zu kümmern. Vier Personen. Eine Familie. Wäre nicht vieles so schlimm, hätte Julia sich zur glücklichsten Person der Welt erklärt. Aber eins nach dem anderen, entschied sie, während Frank sich auf den Brand in Frau Schuhmachers Haus stürzte.

»Ich habe noch mal mit der Kriminaltechnik gesprochen«, verkündete er und ergoss sich im Folgenden über ein- und ausgeschaltete Lichtschalter, Küchengeräte und den Fernseher sowie die Kochfelder. »Das ist alles nur theoretisch«, sagte er, »aber entweder hockte sie unten im Dunkeln, ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben oder fernzusehen. Oder sie war bereits im Bett, aber ohne ihre Medikamente, ohne Zähneputzen und vor allem, ohne das Bettzeug zu zerwühlen.«

Die Kommissarin schüttelte langsam den Kopf. »Ich sehe nur Ruß, Chaos und Unmengen von Löschmittelrückständen. Wie kann man da auf eine Zahnbürste oder den Fernseher schließen?«

»Weil es noch ein Gerät mit richtigem Knopf ist.« Hellmer grinste. »Und das mit der Zahnbürste ist auch ganz einfach. Die war nämlich neu, also noch in der Packung.«

»Hmm. Überzeugt mich beides nicht wirklich«, gestand Durant mit einem Achselzucken.

Frank wedelte mit der Hand. »Verstehe ich ja. Aber laut Nachbarn hatte sie so ihre Rituale. Man kann von nebenan nicht alles sehen, aber es reicht, um gewisse Bewegungsabläufe zu erkennen. Das Flimmern des Fernsehers im Wohnzimmer unten. Das Licht in Bad und Schlafzimmer oben. Die Vorhänge, die sie von innen zugezogen hat – oder eben nicht.«

»Hatte sie sie denn zugezogen?«

Frank biss sich auf die Unterlippe. »Kann man nicht mehr genau sagen. Die Gardinenstange ist heruntergebrochen.«

»Und die Nachbarn?«

»Können ausgerechnet dazu nichts sagen.«

Julia wippte bedächtig mit dem Kopf. »Worauf willst du hinaus, Frank? Ihr wurde schummrig und sie ließ sich nach Hause fahren. Alte Leute tun eine Menge Blödsinn, ganz unbewusst, was glaubst du, wie viele Sorgen ich mir manchmal um Paps gemacht habe, wenn er seine blöden Pfeifen geraucht hat. Um die Glutreste, die auf den Teppich fallen könnten und die Bude abfackeln. Oder über eine vergessene Herdplatte. Eva Schuhmacher war doch sonst ziemlich rüstig, hieß es. Kann es nicht einfach ein Unfall gewesen sein?«

»Natürlich kann es das.« Frank klang angesäuert. »Aber wenn ich an die Bahls denke, an das plötzliche Auftauchen von Caspar und an seine DNA in Verbindung mit dieser Messerstecherei … dann schreien sämtliche Stimmen in mir Zeter und Mordio.«

Julia Durant hielt für einen Moment inne. So unrecht hatte ihr Partner da nicht, das musste sie zugeben.

»Hast du auch schon eine Hypothese?«, fragte sie schließlich.

Frank Hellmer lachte unfroh. »Ich hätte tausendmal besser geschlafen, wenn’s so wäre.«

10 :25 Uhr

Peter Kullmer lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wickelte das Telefonkabel mit dem Zeigefinger zuerst in die eine, dann in die andere Richtung.

»Sie ist im Pflegeheim«, verkündete er, begleitet von einem angestrengten Ausatmen.

»Wer?« Doris brauchte ein paar Sekunden, dann war sie im Bilde. »Dennis Schäfers alte Tante?«

»Großtante. Mütterlicherseits«, sagte Peter und verdrehte die Augen. Nichts war einfach. Er bereute, dass er nicht schon viel früher Amtshilfe angefordert hatte. Das hätte ihm endlose Versuche erspart, die alte Dame telefonisch zu erreichen. Als er auch bei seiner Suche nach benachbarten Telefonanschlüssen keinen Erfolg hatte, war er den Dienstweg gegangen. Es hatte bis vor wenigen Minuten gedauert, dann war der erlösende Anruf eingegangen, der nur auf den ersten Blick eine Erlösung war.

»Sie muss erst kürzlich dorthin gewechselt sein. Sonst wäre das Telefon nicht mehr angemeldet. Ich habe die Info gerade erst von den örtlichen Behörden bekommen.«

»Hmm. Wenn sie im Pflegeheim ist, ist sie denn noch ansprechbar? Nicht dass wir da gegen Demenz ankämpfen müssen.«

»Ich werde es versuchen«, antwortete Peter.

»Hoffen wir das Beste«, sagte Doris gedankenverloren. »Auf eine Dienstfahrt in den Osten habe ich jedenfalls keine Lust.«

»Wieso nicht? Im Oderbruch soll es wunderschön sein.«

»Ja, aber nicht jetzt. Ich weiß echt nicht, wo mir der Kopf steht …«

Kullmer war, als wolle sie noch etwas sagen, aber sie tat es nicht. Er nahm den Hörer wieder ab und tippte eine Nummer ins Tastenfeld.

11 :10 Uhr

»Ich möchte Ihnen gerne etwas sagen.«

Der Anruf hatte Frank Hellmer wie aus dem Nichts erreicht und in Aufregung versetzt. Sosehr er aber auch nachbohrte, Muth wollte sich nur persönlich mit ihm treffen, in der Kunstgalerie, und am liebsten unter vier Augen.

»Julia Durant ist Pflicht«, sagte der Kommissar. Allem anderen stimmte er zu.

Als sie sich der Altstadt näherten, Julia saß am Steuer des Dienstwagens, fragte sie Frank noch einmal: »Und er hat gar nicht gesagt, um was es geht?«

Er schnaubte. »Ein Wichtigtuer vor dem Herrn, wenn du mich fragst. Aber wir müssen dem trotzdem nachgehen.« Sein Finger schnellte nach vorn. »Da vorn kannst du parken.«

»Vergiss es. Ich stelle mich ins Parkhaus.« Sie zwinkerte ihm zu. »Da schleppt uns keiner ab.«

Frank schnaubte noch einmal.

Fünf Minuten später betraten sie die Galerie, in der sich erwartungsgemäß keine Laufkundschaft befand. Muth begrüßte sie, bot den Kommissaren einen Kaffee an, sie lehnten ab. Ohne Umschweife kam er zur Sache: »Ich habe gehört, dass Caspar Bahl eine ganze Menge zu erledigen hat, bis seine Identität bestätigt ist und er wieder offiziell zu den Lebenden gehören darf.«

»Das ist richtig«, sagte Hellmer und wechselte einen Blick mit Durant. Beide wussten noch nicht, worauf der Mann hinauswollte, also gaben sie sich unverbindlich.

»Fingerabdrücke, Blutprobe, sämtliche vorhandenen Gutachten. Zahnarzt. Kieferorthopäde. Operationen. Knochenbrüche. Stimmt das so weit?«

»Das haben Sie also gehört? «, fragte Durant kurz angebunden.

»Na ja … findet man doch alles im Internet.«

»Das Internet liest man aber«, gab sie zurück.

Hellmer schaltete sich ein. »Sie haben uns angerufen. Dann reden wir doch bitte ganz offen.«

»Na gut. Ich habe diese Infos von unserem Anwalt. Er weiß übrigens nicht, dass ich mit Ihnen reden wollte. Es würde ihm nicht gefallen.«

»Warum nicht?«, fragte Durant, und gleichzeitig fragte Hellmer: »Welchen Anwalt meinen Sie denn mit ›unserem‹? Den Nachfolgeanwalt der Familie Bahl?«

»Genau«, bestätigte Muth und suchte den Blickkontakt zu Frank Hellmer. »Er ist für sämtliche Belange der Familie Bahl zuständig, also auch die Galerie. Und jetzt halt auch für Caspar. Wobei es da vermutlich noch ziemlich krachen wird, aber das ist eine andere Geschichte. Weshalb ich Sie angerufen habe«, er zögerte, »nun ja, ich habe Sie jetzt zweimal hängen lassen, und ich finde, das genügt.«

Frank setzte ein höfliches Lächeln auf. »Das freut uns. Aber wir wüssten jetzt wirklich gerne, worum es genau geht.«

Muth schüttelte sich. »Was passiert denn eigentlich, wenn jemand wieder auftaucht, so wie Caspar, und es liegen keinerlei Unterlagen darüber vor? Glaubt man so jemandem einfach? Gibt es Kontrollfragen oder dergleichen?«

Die beiden Kommissare wechselten erneut Blicke.

»Das kommt immer drauf an«, sagte Julia. »Aber wir sind die Mordkommission. Das ist also nicht unsere Zuständigkeit. Für unsere Abteilung kann ich nur eins sagen: Wir suchen so lange, bis wir etwas finden.«

»Also habe ich recht«, murmelte Muth. Es schien ihn gleichzeitig zu bestätigen und zu beunruhigen. »Na dann. Es geht um damals. Um den Reihentest.«

Durant spürte, wie die Spannung in ihr zunahm. Seit jenem Tag war Caspar Bahls DNA in der Datenbank, und dieser Abgleich hatte Andrea zu ihrem Übereinstimmungsergebnis geführt. Wusste Muth etwas über die Messerattacke? War er am Ende sogar dabei gewesen? Weiter kam sie nicht.

»Diese Probe«, begann der Mann stockend, »also ich weiß auch nicht, was damals in mich gefahren ist. Aber ich glaube, dass das nicht Dave war. Ich bin mir sogar ziemlich sicher.«

»Sie meinen, dass er die Abgabe verweigert hat?«, fragte Hellmer. »Das kann nicht sein, denn seine Probe wurde registriert.«

Muth fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er schwitzte leicht. Dann endlich fuhr er fort: »Okay, dann also raus damit: Er wollte mich an seiner Stelle hinschicken.«

Julia Durant war baff. »Sie?« Wieder wurmte es sie, dass die Ermittlungen seinerzeit völlig an ihr vorbeigegangen waren.

Frank schien das zu spüren und übernahm. »Erklären Sie uns das bitte«, forderte er. »Bahl wollte Sie hinschicken. Das klingt so, als habe er es versucht, aber Sie seien dem nicht gefolgt.«

Muth stöhnte auf. »Himmel, ja. Dave war bei mir und ziemlich aufgebracht, weil das Thema mit Nicole wieder in den Medien war. Neben den ganzen Partygästen von damals standen noch Dutzende weitere Männer auf der Liste, die man zu dieser Reihenuntersuchung bestellt hatte.« Er hob die Schultern und fiepte mit den Lippen. »Ich aber nicht. Als ich ihm das sagte, kam er sofort mit der Idee, dass ich das für ihn übernehmen könne.«

Durant neigte den Kopf und verzog den Mund. »Sie sehen sich ja nicht mal ähnlich.«

Muth winkte ab. »Das wäre wohl das kleinste Problem gewesen. Die Ausweisbilder von damals waren ziemlich schräg. Dazu die grellen Klamotten und Stoppelfrisuren. Wir fühlten uns wie Individualisten und sahen doch alle irgendwie gleich aus. Jedenfalls wollte Dave unbedingt, dass sein Genmaterial nirgendwo registriert wird, und einer Familie Bahl schlägt man nun mal nichts ab. Damals lebte der Alte ja noch, da hatten solche Dinge noch mal eine ganz andere Dynamik. Kurzum: Er hat mich gedrängt, da an seiner Stelle hinzugehen, und das hatte ich auch vor. Zumindest einen ganzen Abend lang.«

Durant kniff die Stirn zusammen. »Und dann?

»Dann habe ich mich dagegen entschieden. Ich habe kalte Füße gekriegt. Es war mir unheimlich, meine DNA anzugeben, auch wenn ich mir keiner Schuld bewusst war. Das hatte so was, hmm, Endgültiges.«

»Verstehe.« Hellmer drehte die Augen in Richtung Decke und überlegte. »Aber es war ja jemand dort. Vermutlich Bahl selbst. Oder irre ich mich?«

Muth hob die Schultern. »Kann sein. Ich weiß es nicht. Als ich es ihm gesagt habe, gab es einen heftigen Streit. Ich dachte mir, dass es das nun war. Mit dem Job, mit der Freundschaft, mit allem. So eine Familie will keiner zum Feind haben. Aber am nächsten Tag hat Dave mich wieder angerufen und gesagt, dass es nicht so schlimm sei. ›Schwamm drüber.‹ Genauso hat er sich ausgedrückt. Ich weiß noch, wie erleichtert ich da war.«

»Haben Sie ihn denn gefragt, ob er selbst hingegangen ist?«

»Ich wollte. Aber dann habe ich das Thema gemieden. Wenn man sich gerade erst versöhnt hat, stochert man nicht in der Wunde herum. Doch von da an stand dieses Thema immer irgendwie zwischen uns. Als ob wir beide darauf warteten, dass es der andere anspricht, was aber niemals geschah.«

Hellmer stülpte die Lippen nach außen. »Aber haben Sie nicht spätestens damals gedacht, dass mit Bahl irgendwas nicht ganz koscher ist? Dass er vielleicht doch etwas mit Nicole Geßlers Verschwinden zu tun gehabt haben könnte?«

Muth schüttelte nur den Kopf. »Ich habe ihn gefragt. Und er hat Nein gesagt.«

Der Kommissar lachte verächtlich. »Aha. Und das hat Ihnen genügt?«

Der Mann ließ sich nicht beirren. »Wir waren Freunde. Jedenfalls hatten wir solche Phasen in unserem Leben. Zeiten, in denen man stundenlang dasitzen und über Gott und die Welt philosophieren kann. Wo das Wort mehr zählt als so vieles andere, was man im Alltag wie nebenbei vom Stapel lässt. Ich habe es ihm damals geglaubt. Als Nicole verschwand und auch noch als er mich zu diesem verdammten Gentest schicken wollte.«

»Und heute?«, fragte Durant. »Glauben Sie es ihm immer noch?«

Muth versuchte sich an einem Pokerface, doch es gelang ihm nicht. Als er erkannte, dass die beiden Ermittler wahrgenommen hatten, wie ihm die Gesichtszüge entgleist waren, sah er zu Boden. »Ich weiß es nicht. Ehrlich nicht.« Dann schaute er zuerst zu Julia, danach zu Frank und sagte: »Deshalb habe ich ja auch bei Ihnen angerufen.«

Julia Durant brummte etwas Unverständliches. Caspar Bahl wusste es. Jedenfalls waren diese Informationen irgendwo in seinem Gehirn abgespeichert. Nur gab es im Moment leider keine Möglichkeit, sie abzurufen. Ob er seine Amnesie nun vortäuschte oder sie wahrhaftig existierte.

Sie räusperte sich. »Denken Sie denn, er ist selbst hingegangen? Oder hat er jemand anderen gefunden?«

Muth gab sich unentschlossen. »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.«

Offenbar wusste er es wirklich nicht.

»Was ist mit seiner Schwester? Oder dem Anwalt?«, bohrte Hellmer weiter. »Wenn Gottlieb Bahl damals das Sagen hatte, dann wusste vielleicht auch der Rest der Familie Bescheid – inklusive Rechtsbeistand. Hieß es nicht, dass Bahl senior so vehement gegen diesen Reihengentest war?«

»Das müssen Sie alles Dorothea fragen«, erwiderte Muth. »Tut mir leid. Ich wollte Ihnen das mit der DNA nur mitteilen, bevor es jemand anderes tut.«

»Hm. Danke.« Durants Begeisterung hielt sich in Grenzen, denn im Grunde waren sie nicht schlauer als zuvor. Im Gegenteil. Es wurde nur immer deutlicher, mit welcher Hingabe sich die Reichen und Schönen ihre eigenen Regeln machten. Als stünden sie über den Dingen. Und die Gesellschaft trug das einfach mit. Blind oder machtlos oder beides.

Wenige Minuten später standen sie vor der Kunstgalerie, und Julia Durant nahm das Smartphone zur Hand, um Andrea Sievers anzurufen. Als die Rechtsmedizinerin abnahm, zog gerade eine türkisfarbene Straßenbahn vorbei. Julia drehte sich zur Seite und hob ihre Stimme: »Hallo, Andrea. Kann sein, dass wir Pech mit der DNA haben!«

»Warum schreist du denn so?«

»Entschuldige.« Die Bahn entfernte sich. »Die DNA von Caspar Bahl. Es kann sein, dass es doch nicht seine ist.«

»Willst du mich vera…, ich meine, er ist doch wieder aufgetaucht! Deutlicher geht es ja wohl kaum.«

»Mag sein. Aber damals, als es die Reihenuntersuchung gab, wollte er jemand anderen hinschicken. Möglicherweise ist es also eine andere Probe, die da unter seinem Namen registriert ist.«

»Wow. Was für eine Scheiße. Und wer soll das gewesen sein?«

»Wissen wir nicht.«

Andrea überlegte. Dann atmete sie hörbar durch. »Okay. Aber die Fakten bleiben davon ja unberührt. Ein getöteter Mann und eine DNA -Spur, die mutmaßlich von demjenigen stammt, der ihm das angetan hat. Und diese Person muss in irgendeinem Zusammenhang mit diesem Bahl stehen.«

»Stimmt«, entfuhr es Durant. Die Puzzleteile setzten sich erst eben hinter ihrer Stirn zusammen. Wenn die DNA von dem Reihentest stammte, dann handelte es sich entweder um die von Caspar Bahl selbst oder von der Person, die an seiner statt dort hingegangen war. »Wir klemmen uns direkt dahinter, einen Abstrich bei Bahl zu machen. Und natürlich auch bei dessen Schwester, denn mit ihr haben wir wenigstens einen eindeutigen Anhaltspunkt.«

»Ich komme gerne mit«, bot Andrea an.

»Danke. Frank und ich machen das. Und danach kommen wir direkt zu dir.«

Sie drückte die Verbindung weg und wandte sich an Frank. »Hast du die Karte von Bahls Anwalt griffbereit?«

»Im Auto.«

»Dann lass uns zurück ins Parkhaus gehen. Wir rufen ihn an, fragen, wo Bahl sich aufhält, und besorgen uns ein Kit für den Wangenabstrich. Das will ich jetzt genau wissen.«

11 :50 Uhr

Es war ein heftiger Streit gewesen, doch im Lauf ihres Lebens hatte sie gelernt, wann es sich lohnte zu kämpfen und wann nicht. Meist hatte sie klein beigegeben. Gegen ihren Vater, gegen ihren Bruder. Nur gegen die Mutter hatte sie sich immer wieder aufgebäumt, vielleicht, weil sie sonst immer untergebuttert wurde. Damit sollte nun Schluss sein! Das Schicksal hatte ihr einen neuen Weg aufgezeigt, ein neuer Spieler war auf dem Schachbrett. Wie sehr hatte sie gelitten, wie hart waren die vergangenen Monate gewesen. Gefesselt an die kranke Beziehung zu einem Mann, der sie nicht liebte. Den sie weder lieben wollte noch konnte. Der sich weder für ihre Gefühle interessierte noch eine geistige Bereicherung für sie war. Eine tumbe Maschine, für die sie die Beine zu spreizen hatte, wenn ihm das Blut in den Lenden kochte. Der seine Macht berechnend ausspielte, aber immer nur so viel, dass sie nicht an seiner Dominanz zerbrach. Der ihr die Hoffnung gab, sich irgendwann freizustrampeln, und bis dahin hieß es durchhalten. Zähne zusammen und durch. Seit ihrer Geburt. Nun war das Ende in Sicht.

So plötzlich, dass sie es kaum glauben konnte.

Am Abend zuvor hatte sie sich zum ersten Mal gegen seine körperliche Bedrängnis gewehrt. Sie hatte nicht schon jetzt mit einer neuen Annäherung gerechnet.

»Lass mich in Ruhe«, hatte sie scharf gesagt, einem Reflex folgend.

Prompt hatte er sie gepackt. Während sie heftig zappelte und um sich schlug, stieß er hervor: »Das denkst aber auch nur du.«

»Du kannst mir gar nichts mehr«, fauchte sie und kämpfte sich frei.

»Und wie ich kann!« Wieder versuchte er, sie zu fassen, doch sie stieß ihn hart von sich.

»Das wagst du nur noch einmal, und dann …«

Weiter kam sie nicht in ihrer Erinnerung, denn im Hier und Jetzt drangen Motorengeräusche in ihre Ohren und verjagten die wütenden Stimmen des Vorabends.

Dann erklang eine Hupe.

13 :05 Uhr

Wenn man von der Bundesstraße aus in Richtung des bahlschen Anwesens kam, durchfuhr man zuerst eine Ansammlung von teuren Häusern. Die meisten mit Mauern oder Hecken von neugierigen Blicken abgeschottet. Manche mit Kameras oder Bewegungsmeldern. Häuser im Stil der Siebziger. Flache Dächer, klobige Formen, eintönige Anstriche, meistens weiß. Teure Sportwagen in den Einfahrten oder massive Garagentore, die vermuten ließen, welche Werte dahinter geparkt waren. Nachdem die Straße eine lange Kurve gezogen hatte, kam auf einer Anhöhe die Villa der Bahls in Sicht. Erhaben thronte das Anwesen über dem Ort, und die Aussicht auf Frankfurt war an diesem klaren Tag ein Fest für die Augen.

Dorothea Bahls Haare wirkten, als seien sie nur hastig in Form gebracht. Das Make-up war halbwegs frisch, aber hatte auch schon einmal besser ausgesehen. Ihre Augen huschten hin und her.

»Hören Sie«, eröffnete sie, direkt nachdem die Tür aufgeflogen war. »Wie Sie vielleicht wissen, habe ich zurzeit eine Menge um die Ohren.«

»Das geht uns ebenso«, entgegnete Durant kühl.

»Vermutlich sogar dasselbe«, ergänzte Hellmer mit einem angedeuteten Lächeln.

»Ich glaube nicht, dass es dasselbe ist.«

»Wie auch immer.« Die Kommissarin strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wir möchten Ihren Bruder sprechen. Und eine DNA -Probe entnehmen, am besten von Ihnen beiden.«

»Wie, von mir?« Dorothea tippte sich an eine teuer aussehende Brosche.

»Ja. Damit wir eine Vergleichsprobe haben. Nur zur Sicherheit. Das Entnehmen ist kaum Aufwand, können wir direkt machen. Wattestäbchen in die Wangentasche und fertig.«

Hellmer zog den Beutel mit dem zigarrenförmigen Plastikset aus der Innentasche seiner Jacke und hielt ihn Frau Bahl vors Gesicht. Er war es auch gewesen, dem die Idee mit den zwei Testungen gekommen war. Ein guter Plan, wie Durant anerkennend zugeben musste. Bei Geschwistern war die Übereinstimmung des Genmaterials fünfzig Prozent. Genug also, um sicher zu sein, und zwar in jeder Hinsicht. Erstens, ob damals Caspar Bahl oder eine andere Person zur Reihentestung gegangen war. Zweitens, ob der Mann, der sich heute als Caspar Bahl ausgab, auch wirklich Dorotheas Bruder war.

Die Schwester rümpfte die Nase. »Ich weiß nicht. Das möchte ich mit meinem Anwalt bereden.«

»Bitte, gerne.«

»Außerdem ist Caspar gar nicht hier. Wie kommen Sie überhaupt darauf …«

Durant wandte sich um. Kein anderes Auto auf dem Parkplatz vor dem Haus. »Es war nur eine Vermutung. In seiner Kanzlei sagte man uns, dass er hier anzutreffen sei. Da sind wir offensichtlich falsch informiert.«

»Na ja. Er ist hier gewesen«, murmelte Dorothea. »Aber sie sind vor einer halben Stunde wieder gefahren.« Ihre Augen begannen wieder zu huschen.

»Gab es Streit?«

»Warum?«

»Sie wirken, hm, regelrecht aufgelöst.«

Dorothea verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte schnippisch: »Ich habe immerhin erfahren, dass mein tot geglaubter Bruder noch lebt. Das steckt man nicht einfach so weg, wissen Sie?«

»Hat das nicht auch Auswirkungen auf Ihr Erbe?«, fragte Hellmer betont unschuldig. Dorotheas Gesichtsmuskeln zuckten.

»Und gerät Ihr Familienanwalt da nicht in einen Gewissenskonflikt?«, fragte Durant direkt hinterher.

»Ja. Nein. Das ist kompliziert. Hören Sie, müssen wir das jetzt wirklich zwischen Tür und Angel besprechen?«

»Sie könnten uns ja hineinbitten«, sagte Hellmer, und Durant musste sich zwingen, nicht zu lachen. Schlagfertigkeit war eine echte Gabe (und manchmal auch ein Fluch).

Dorothea Bahl kniff die Augen zusammen. Hinter ihrer Stirn schien eine Menge Arbeit stattzufinden, doch schließlich trat sie zur Seite und rang sich sogar ein Lächeln ab. »Bitte. Sie kennen ja den Weg.«

Mit der linken Hand förderte sie ihr Mobiltelefon zutage und sagte: »Ich rufe Herrn Kammer an.«

»Danke. Und fragen Sie ihn bitte gleich, wo wir Ihren Bruder antreffen können. Es ist wichtig.«

Frau Bahl schloss die Haustür und entfernte sich in eine Nische, wo sie mit gedämpfter Stimme telefonierte. Julia und Frank standen auf dem polierten Marmorboden mit Blick auf die Treppe.

»Warst du schon mal oben?«, fragte Julia.

»Nein. Nur in Bahls ehemaligem Büro mit den Gemälden.«

»Was da oben wohl ist?«

»Ein Dutzend Schlafzimmer und ebenso viele Bäder wahrscheinlich. Oder das Kämmerchen von Eva Schuhmacher.«

Durant nickte nachdenklich. Dann fiel ihr etwas ein, und sie schnippte mit den Fingern. »Mensch! Ihr Auto ist auch nicht mehr da.«

»Vielleicht steht es in der Garage.«

»Mag sein. Aber das will ich genau wissen.«

»Erst das Wichtige«, mahnte Frank und wippte mit dem Kinn. »Da kommt sie ja schon.«

»Caspar und Kammer sind in der Kanzlei«, sagte Frau Bahl. »Wegen mir können wir diesen Abstrich jetzt machen. Dann können Sie gleich dort hinfahren.«

Hellmer nickte und öffnete die Plastikfolie. Während er behutsam das Plastikstäbchen mit dem Wattebausch in Dorotheas Mundraum schob, deutete Durant einmal rundum. »Ganz schön viel für eine einzelne Person. Vor allem im gehobenen Alter.«

Dorothea musste warten, bis Hellmer fertig war. Sie streckte die Zunge heraus und wischte sich über den Mund. Dann erst sagte sie: »Was bitte meinen Sie?«

»Die hohen Regale. Der viele Marmor. Kein Körnchen Staub. Hat Frau Schuhmacher das alles alleine gemacht?«

Dorothea schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt noch eine Putzfirma. Frau Schuhmacher war nur für die wichtigsten Dinge zuständig.«

»Die gute Seele sozusagen«, sagte Hellmer, während er das Stäbchen zurück in das Röhrchen steckte und am Ende alles mit der Tüte verschloss.

»Ja genau.«

»Uns ist aufgefallen, dass ihr Wagen nicht mehr dasteht.«

Frau Bahl schüttelte den Kopf. »Den haben wir in die Garage gestellt, bis geklärt ist, was damit geschieht.«

Julia hob die Augenbrauen. »Wer ist denn wir?«

Dorothea quietschte kurz. »Ich.« Sie wedelte mit der Hand. »Sehen Sie, wie verwirrt ich bin. Ich. Wir. Auf einmal sind wir wieder zu zweit. Das macht mich total konfus.«

»Soso. Dann wollen wir Sie nicht weiter stören«, sagte Frank, »nur eins vielleicht noch: Die Hälfte des Erbes ist doch auch noch ein ziemlich großes Sümmchen.«

»War das eine Frage?« Dorotheas Augen funkelten ihn an.

»Wenn es nur noch um Ihren Anteil geht, weil Caspar ja wieder da ist … bekommen Sie den dann auch ohne Hochzeitsglocken ausgezahlt?«

»Fragen Sie doch meinen Anwalt«, zischte sie.

»Mein Partner wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte Julia Durant. »Wir müssen diesen Fragen nur leider nachgehen. Der Job, Sie verstehen.«

»Fragen Sie trotzdem bei Kammer nach«, antwortete Frau Bahl, die abgekämpft wirkte. »Ich habe es aufgegeben, mich über meinen Vater zu ärgern, und damit abgefunden, das Vermögen zu verwalten. Meinetwegen hätte das auch so bleiben können.«

Julia Durant nickte nur. Das hätte sie vermutlich auch so gesagt. Bloß kein Motiv erkennen lassen. Andererseits: Motiv wofür? Dorothea Bahl hatte ihren Bruder ja nicht umgebracht, sondern er war wiederauferstanden.

Das war in keinem Gesetzbuch der Welt ein Straftatbestand.

Als sie wieder im Auto saßen, sagte Frank Hellmer sofort: »Lass uns einen Zwischenstopp beim Haus von Frau Schuhmacher einlegen.«

»Wieso das denn?«

»Ich möchte mir das noch mal ansehen. Ich kann’s dir echt nicht sagen, aber ich hab da so ein Gefühl.« Frank rieb sich unbewusst über den Bauch, und Julia musste lachen.

»Wir haben echt vertauschte Rollen, glaub ich. Bauchgefühl ist immer noch meine Sache, hörst du?«

Frank startete den Motor und zwinkerte ihr zu. »Dann vertrau mal auf deinen Bauch, wenn er dir sagt: ›Hör auf deinen Partner.‹«

Sie lachte wieder und hob den Zeigefinger. »Machen wir gerne, aber zuerst fahren wir zu Bahl. Nicht dass der uns wieder durch die Lappen geht.«

»Meinetwegen«, murrte Hellmer. »Du bist der Boss.«

Ein Stich in die Magengegend. Seit ihrem letzten Gespräch mit Claus wusste die Kommissarin etwas, das er nicht wusste. Immer wenn Frank sie Boss nannte, schwang da (absichtlich oder nicht) die Erinnerung an eine unschöne Phase ihres Lebens mit. Ihrer beider Leben. Julia als kommissarische Leitung des K11 . Eine Rolle, mit der weder er noch sie gut zurechtgekommen waren. Frank Hellmer hätte jedes Recht gehabt, auf diese Position aufzurücken. Allein wegen seines Dienstalters. Egal, ob er es nun wollte oder nicht (er lehnte es ja immer lauthals ab) – würde er mittlerweile jemand anderen aus seinem Team als Boss hinnehmen können? Oder würde er sich ähnlich überfahren fühlen wie damals? Jemand sollte mit ihm reden, dachte Julia, bevor es die Spatzen von den Dächern pfeifen.

Und am besten wäre es, wenn sie selbst das tun würde.

13 :20 Uhr

Bis sie Kronberg erreichten, hatte Julia kaum etwas gesagt. Stattdessen hing ihr Blick gedankenverloren auf der Landschaft. Noch immer trüb und grau. Doch die ersten Frühlingsboten zeigten sich, wenn auch zaghaft. Schneeglöckchen. Winterlinge. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Knospen aufplatzten. Sie dachte an Claus. An all die Schönheit, die er auf seiner Reise sehen würde … und an den finsteren Schatten, der über allem lag.

Kurz darauf parkten sie vor der Kanzlei. Ein altes Mercedes-Cabriolet aus den 1960 er-Jahren stand vor der Tür.

Hellmer schüttelte den Kopf. »Wie kann man so etwas machen?«

»Was denn? Protzig sein?«

Er winkte verächtlich ab. »Quatsch. Aber bei all dem Salz auf den Straßen. Das ist Gift für einen solchen Oldtimer.«

Durant schüttelte amüsiert den Kopf. »Deine Sorgen möchte ich mal haben.«

Sie stiegen aus. Klingelten an der modernen Gegensprechanlage mit Videoübertragung. Schon knackste es im Lautsprecher. Abrupt nahmen die beiden eine gerade Haltung an. Irgendwo sah man sie jetzt nebeneinanderstehen.

»Haben Sie einen Termin?«

»Ja«, antwortete Durant und griff eilig nach ihrem Dienstausweis. »Kriminalpolizei. Wir müssen mit Herrn Kammer sprechen.«

»Moment bitte.«

Es knackte erneut in der Leitung. Durant ließ ihren Blick über die Gebäudefront nach oben wandern. Vor ihrem geistigen Auge sah sie eine junge Frau, die mit genervtem Augenrollen über den Teppichboden stakste und den Kopf in ein großkotziges Büro mit antikem Mobiliar steckte. Die Polizei, würde sie sagen und dabei eine Grimasse ziehen, als redete sie über einen Herpes. Das Augenrollen spiegelte sich in Kammers Gesicht. Herpes? Wie ekelhaft! Na ja, aber wir müssen sie wohl reinlassen.

Der Summer ertönte. Hellmer stand der Tür am nächsten, er drückte sie nach innen und ließ dann seiner Partnerin den Vortritt.

»Geht doch«, raunte er, und Durant nickte.

»Hoffen wir mal, dass Bahl sich auch wirklich noch hier aufhält.«

Dieses Mal empfing Axel Kammer die beiden in einem Büro. Kein Teppichboden. Kein Pomp. Selbst die Bürodame war ein schüchternes Exemplar, die aber offenbar ein Auge auf den jungen Chef geworfen hatte.

»Herr Durant und Frau Hellmer«, verkündete sie errötend. Kammer hob nicht einmal den Blick.

»Danke«, sagte er. Raschelte noch ein paar Sekunden mit seinen Papieren und bestellte drei Kaffee, während die Ärmste sich bereits aus der Tür zurückzog.

»Ich bin Durant, das ist Hellmer«, korrigierte die Kommissarin. »Aber das wissen Sie ja vielleicht noch.«

Erst jetzt schenkte Kammer den beiden seine volle Aufmerksamkeit. »Wie? Ach so, natürlich. Bitte nehmen Sie doch Platz.«

Die Lehnstühle waren nicht antik, sondern schlicht, aber dafür sehr bequem.

»Und Sie kommen weshalb genau?«, fragte er und warf einen sekundenlangen Blick auf seine Armbanduhr.

»Unter anderem hierfür.« Hellmer legte die Plastiktüte mit dem Abstrichset auf die polierte Holzoberfläche des Schreibtischs. Durant sah sich um. Eine moderne Regalwand, weiß lackiertes Furnier mit allerlei Fachbüchern. Ein alter Globus auf Holzgestell mit Rollen. Vermutlich beinhaltete er die Spirituosen. Das einzig antike Möbelstück war der Schreibtisch, auf dem ein überdimensionierter iMac mit mindestens fünfundzwanzig Zoll stand. Claus sprach manchmal davon, sich so ein Modell zuzulegen. Das hatte er bislang noch nicht umgesetzt, weil zu Hause ein Raum dafür fehlte.

Kammer beugte sich vor. »Ein DNA -Abgleich? Womit denn? Haben Sie etwa Zweifel an Caspar Bahls Identität?«

»Nach dem Test jedenfalls nicht mehr«, antwortete der Kommissar trocken.

Es klopfte, dann öffnete sich die Tür, und kurz darauf betrat die Sekretärin den Raum. Auf einem Tablett drei zu klein geratene Kaffeetassen, ein Kännchen Milch und eine Glasschale mit Zuckerwürfeln. Hellmer nahm die Tüte wieder vom Tisch, weil es die einzig freie Stelle war. Die Frau nickte ihm dankend zu, reihte die Tassen auf und platzierte kleine Löffel daneben.

»Milch oder Zucker?«, fragte sie in die Runde, wieder nach einem anerkennenden Blick ihres Chefs fischend. »Wir haben auch noch Süßstoff oder Stevia.«

Dieser bedankte sich knapp und mit einer Geste, die ihr signalisierte, dass sie jetzt abzischen dürfe und auch nicht mehr stören solle. Durant fühlte ihr die Enttäuschung förmlich nach.

»Sie wissen sicher, dass es eine ganze Reihe von rechtlichen Vorbehalten gibt«, begann er, lehnte sich zurück und faltete die Hände über den Bauch. »Allerdings haben wir auch kein Interesse daran, nicht zu kooperieren. Caspar Bahl möchte das Ganze so schnell wie möglich abwickeln. Der ganze Rummel tut ihm nicht gut.«

»Aber haben nicht Sie die Presse ins Boot geholt?«, fragte Durant.

»Natürlich. Das geschah aus Selbstschutz.«

»Erklären Sie uns das?«

»Bedaure. Es gibt Dinge, über die ich nicht sprechen kann. Nicht sprechen darf. Ich vertrete immerhin mehrere Interessen in der Familie.«

Hellmer nahm sich eine der Tassen und schlürfte. »Bringt Sie das nicht in einen Interessenkonflikt? Dorothea Bahl verliert immerhin von heute auf morgen ihr halbes Vermögen.«

Kammer lachte mit einem finsteren Unterton. »Sie kennen sich also schon aus. Prima.« Er beugte sich vor und griff sich ebenfalls eine der Tassen. Nach einem vorsichtigen Schluck sprach er weiter: »Dorothea verliert erst einmal gar nichts, denn sie hatte ja nichts. Im Gegenteil, nach aktueller Lage gewinnt sie durch Caspars Wiederauftauchen genauso viel wie er.«

Julia schnalzte mit der Zunge. »Nur dass sie in all den vielen Jahren hundert Prozent der Arbeit mit allem hatte.«

Kammer ließ das Argument abperlen. »Dafür lebte sie auch recht komfortabel. Im Grunde geht ihr da nichts verloren.«

»Wieso? Möchte Caspar nicht zurück in sein Elternhaus?«

»Caspar war damals ja schon ausgezogen. Für ihn war das Geschäft vorgesehen, für die Schwester das Haus.« Er breitete die Hände aus. »Solange die beiden das nicht anderweitig regeln wollen, gibt es da keine Probleme.«

Ziemlich blauäugig, wie Julia Durant fand. Aber sie spürte, dass sie hier nicht weiterkamen. Deshalb fragte sie: »Ist Herr Bahl denn hier? Seine Schwester hat gesagt, Sie seien …«

»Ja. Er hat noch keine endgültige Bleibe, und diese Häuserreihe hier gehört zum Großteil uns. Ich hole ihn gerne dazu, er logiert ein Stockwerk über uns. Eine winzige Dachwohnung, dafür mit einem großartigen Panoramablick.«

Durant lächelte schmallippig. Warum wunderte sie das nicht?

Der schlanke Mann im weißen Hemd nahm den Telefonhörer zur Hand. Überlegte es sich offenbar anders und erhob sich. Zupfte seine Kleidung zurecht und sagte: »Ich gehe ihn holen. Und bitte notieren Sie sich das: Wir kooperieren in jeder Hinsicht.«

Fast lautlos glitt er aus dem Raum.

Julia Durant beugte sich zu Frank. »Lass mich dieses Mal die Probe entnehmen, okay? Ich will ihm in die Augen sehen. Diese ganze Amnesie-Sache kaufe ich ihm nicht ab.«

Frank Hellmer nickte. »Bin mal gespannt, wie das Ganze in Sachen Erbschaft sich entwickelt. Wenn Bahl nicht richtig tickt, bekommt er am Ende einen Vormund.«

Julias Augen weiteten sich. »Verdammt, du hast recht! Und wer würde das dann sein? Unser Luxusanwalt hier?«

»Oder ein Familienmitglied.«

Dorothea Bahl.

»Verflixt und zugenäht«, presste die Kommissarin hervor.

Weiter kam sie nicht, denn die Tür öffnete sich, und zuerst kam die Bürodame herein. Einen kleinen Stapel Papiere in der Hand, den sie säuberlich auf Kammers Schreibtisch legte. Sie vergewisserte sich, ob noch Bedarf an Kaffee bestand, dann verließ sie das Zimmer. Die Tür war noch nicht eingeschnappt, da tauchte auch Axel Kammer schon wieder auf. Allein.

Er trat hinter den Tisch, kippte den Kaffee in einem Zug und setzte sich. »Caspar kommt gleich. Er macht sich noch frisch.«

Julia verspürte eine plötzliche Unruhe, die nicht vom Koffein herrührte. Auch Frank war anzusehen, dass er nervös war. Sie wollte sich gerade räuspern, da rutschte ihr Kollege auf dem Stuhl nach vorn.

»Darf ich hier drinnen rauchen?«

»Tut mir leid. Ich habe nicht mal einen Aschenbecher.«

Der Kommissar lächelte und stand auf. »Dann gehe ich kurz vor die Tür.«

Kammer kniff die Augen zusammen, als er begriff. »Caspar wird nicht fliehen. Ich sagte doch, wir kooperieren vollständig.«

Hellmer wedelte im Hinausgehen mit seinem Zigarettenpäckchen in der Hand. »Vertrauen ist gut …«

Julia Durant hob die Tasse vors Gesicht, um ihr Grinsen zu verbergen. Sie war sich sicher, dass Kammer es trotzdem sah.

Keine Minute später hörte sie Stimmen. Als Nächstes tauchte die Sekretärin auf, sie hatte Caspar Bahl im Schlepptau.

»Herr Bahl ist jetzt da.«

Der Anwalt sagte unerwartet scharf: »Das sehe ich. Bitte.«

Die Ärmste.

Ein paar Schritte hinter ihm folgte Hellmer, sichtbar außer Atem. Als er näher kam, konnte Julia den Rauch riechen. Er deutete ein Kopfschütteln an. Bahl hatte demnach keinen Versuch unternommen, sich dem Test zu entziehen.

»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte sie den Mann nach den Begrüßungsfloskeln.

»Natürlich, wir haben uns doch erst gestern unterhalten.«

Sie lächelte. »Ich war mir nicht sicher. Freut mich aber, wenn Ihr Gedächtnis funktioniert.«

Bahl setzte einen dümmlichen Gesichtsausdruck auf, während der Anwalt sich im Hintergrund deutlich räusperte.

»Sie wollen also bei meinem Mandanten zu erkennungsdienstlichem Zweck einen Abstrich im Mundraum durchführen. Caspar, du stimmst dem zu?«

»Ja. – Oder?«

»Ich empfehle es. Das genetische Profil wird ausschließlich zur Identitätsfeststellung verwendet und nach Verstreichen der Frist wieder gelöscht. Korrekt, Frau Durant?«

Julia gab sich unbeeindruckt. »Wir verwenden die DNA in den Ermittlungsverfahren um die Familie Bahl. Die Rechtsgrundlagen, auch die zur Löschung, kennen Sie ebenso gut wie wir.«

»Was muss ich denn machen?«, fragte Bahl. Julia Durant nahm das Set, erklärte ihm alles und versuchte dabei, ihm tief in die Augen zu blicken. Als könne sie in seinen Geist eindringen, nur war da leider nichts als Nebel. Geplatzte Äderchen, leicht glasige Pupillen, bestenfalls ein Hinweis darauf, dass er schlecht geschlafen oder am Vorabend zu viel Alkohol konsumiert hatte. Sie warf einen Blick auf seine Zähne. Einwandfreies Weiß, keine Lücken, für mehr reichte die Zeit nicht. Als sie fertig waren, bedankte sie sich und lächelte »Sie haben gute Zähne. Beneidenswert. Können Sie mir nicht vielleicht verraten, wo Sie die letzten zwanzig Jahre hingegangen sind?«

Und schon stand der Anwalt zwischen den beiden.

»Du kannst jetzt wieder gehen«, sagte er zu Caspar und schob ihn in Richtung Tür. Dann kehrte er zurück und vermeldete mit frustriertem Tonfall: »Keine Tricks. Es geht ihm beschissen, wenn ich das mal so sagen darf. Da brauche ich niemanden, der Salz in die Wunden streut. Caspar wird sich in ärztliche Behandlung begeben. Vielleicht hilft ihm das. Aber bis dahin dulde ich nicht, dass er gequält wird.«

»Sie scheinen ja ziemlich dicke zu sein«, sagte Hellmer. »Ich hoffe, der ganze Aufwand zahlt sich aus.«

»Und ich denke, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«

13 :45 Uhr

Das ehemals so schöne Häuschen wirkte trostlos. Es würde viel Zeit und Arbeit brauchen, bis hier wieder jemand wohnen konnte. Und wer sollte das sein? Eva Schuhmacher hatte keine Erben. Ob es ein Testament gab? Und wer der Begünstigte sein mochte? Julia Durant musste an Alina Cornelius denken. Der letzte Stand der Dinge war, dass es eine entfernte Verwandte im Ausland gab. Man versuchte, sie zu kontaktieren. Eine Person, von der Alina nie geredet – von der sie vielleicht nicht einmal etwas gewusst hatte. War es fair, dass diese Fremde ihr Vermächtnis bekam? Und was würde sie damit anfangen?

»Wollen wir?«

Frank hatte direkt in der Einfahrt geparkt, und durch die aufgestoßene Tür drang kühle Luft ins Wageninnere. Noch immer lag der beißende Geruch von gelöschtem Holz darin, wenn auch nur schwach.

»Klar.«

Julia stieg aus und folgte ihrem Partner zur Haustür, die von den Einsatzkräften aufgebrochen worden war. Sie lösten die Absperrung und traten ein. Es dauerte, bis ihre Augen sich an das gedämpfte Licht gewöhnt hatten. Rußschwärze, keine funktionierende Innenbeleuchtung. Das Tageslicht wurde von den umstehenden Bäumen abgeschwächt.

Frank stellte sich etwa dorthin, wo man Frau Schuhmacher gefunden hat, und rieb sich das Kinn. Dann bückte er sich. Stand wieder auf, leuchtete mit der grellen LED seines Smartphones die Treppenstufen hinauf.

»Wusste ich’s doch«, brummte er. »Parkettboden. Kein Teppich. Auf den Stufen sind Teppichbodenzuschnitte aufgeklebt, vermutlich, um die Rutschgefahr zu verringern. Altes Holz und alte Menschen sind eine ungute Mischung. Frau Schuhmacher war da also sehr vernünftig.«

»Noch vernünftiger wäre es gewesen, wenn sie am Abend vor dem Brand einen Arzt aufgesucht hätte«, erwiderte Julia.

»Mag sein.« Er schaltete die Lampe aus und suchte eine Rufnummer. Als er sie gefunden hatte, wählte er sie an.

»Rechtsmedizin«, verriet er ihr. Sie verstand noch immer nicht, was das alles sollte, aber sie war klug genug, ihn gewähren zu lassen. Frank schaltete die Freisprechfunktion ein, nachdem er mit der richtigen Stelle verbunden war. Das war nicht Andrea Sievers, so viel war klar.

»Ich rufe an wegen der Toten nach dem Hausbrand. Frau Eva Schuhmacher.«

»Verstehe. Der Bericht ist bereits draußen.«

»Ich hätte nur noch ein paar Detailfragen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Wegen mir.« Offensichtlich kannten Frank und die fremde Stimme sich bereits. Sonst hätte der Arzt das Gespräch längst abgeblockt.

»Frau Schuhmacher hatte Sturzverletzungen. Den Aussagen der Ersthelfer nach hat sie am unteren Ende einer Treppe gelegen. Die Körperhaltung …«

»Wenn ich Sie hier gleich einmal unterbrechen darf«, sagte die Stimme. »Das Verletzungsbild ist absolut typisch für einen Treppensturz. Es handelt sich um eine ältere Person mit nicht mehr allzu stabilem Knochenbau. Blutergüsse, Platzwunden, multiple Schädelverletzungen. Es ist im Grunde ein Wunder, dass sie das überlebt hat.«

Hat sie ja nicht, wollte Durant reflexartig sagen. Doch sie wusste ja, wie er es meinte.

»Wie viel Blut hat sie verloren?«

»Schwer zu sagen. Aber die Nase war verkrustet, der linke Unterarm wies eine Platzwunde auf. Außerdem an der Schläfe. Einzeln betrachtet war das nicht viel. Aber die inneren Blutungen waren ziemlich ausgeprägt. Eine ziemlich lange Treppe, vermute ich.«

»Eigentlich nicht«, erwiderte Hellmer, und Julia Durant lief ein Schauer über den Rücken. Sie schnappte nach Luft. Meinte er etwa …

»Muss auch nicht sein«, sagte der Rechtsmediziner und schnaubte. »Manchmal genügt ein kleiner Sturz für eine verheerende Wirkung. In meiner Studienzeit hatten wir einen Fall, da stolperte ein Mann am eigenen Hochzeitstag so ungünstig über die Schwelle, dass er über seine Angebetete rollte, die er hatte hineintragen wollen. Das Ganze endete an einem Tischbein, kaum dicker als mein Daumen, aber so scharfkantig, dass es ihm den Schädel gespalten hat.«

»Ach herrje«, keuchte Hellmer. »Tot?«

»Nein. Aber niemals sonst in dieser Ehe hat seine Frau ihm wieder so in den Kopf schauen können.«

Durant verzog das Gesicht und sagte in das Lachen der beiden Männer hinein: »Fantastisch. Aber Eva Schuhmacher ist angeblich eine alte Holztreppe mit Teppichboden heruntergefallen.«

»Die Blutspuren werden das sicher bestätigen«, sagte der Arzt, ohne sich im Geringsten durch eine Frauenstimme beirren zu lassen.

»Wenn es das Feuer nicht gegeben hätte, dann sicher«, murrte sie.

»Meine Kollegin, Frau Durant«, erklärte Frank. »Haben Sie Fasern in Mund oder Nase gefunden? Oder unter den Fingernägeln?«

»Nein. Wieso fragen Sie das eigentlich alles? Ich dachte, es sei ein Unfall, eine Verkettung unglücklicher Zufälle.« Er blies Atemluft durch die Nase. »Na, wie auch immer. Außer den Hautpartikeln war da nichts.«

»Hautpartikeln?«, platzte der Kommissar heraus.

Julia überlief ein weiterer Schauer. Woher auch immer dieses Bauchgefühl bei Frank sein mochte. Sie fühlte es nun auch.

Einzig der Rechtsmediziner blieb die Ruhe selbst: »Immer mal langsam. Jeder von uns, der sich am Kopf kratzt oder im Ohr oder in der Nase bohrt, bekommt Schuppen unter die Nägel. Solange keine anderen Abwehrspuren an einem Körper zu finden sind, ist das vollkommen unverdächtig. Der einzige Grund, weshalb wir das bei Frau Schuhmacher untersucht haben, ist die Aussage des Sanitäters.«

»Und was hat der ausgesagt?«, fragten die beiden wie aus einem Mund.

»Beim Umbetten in den RTW habe sie ihn gekratzt. Entweder mit einem Fingernagel oder mit der Armbanduhr.«

Julia wagte es kaum zu fragen: »Also haben Sie ein DNA -Profil von allem erstellt?«

»Na klar. Ich weiß ja nicht, wie Sie das in Frankfurt regeln, aber wir lassen uns hier keine schlampige Arbeit nachsagen!« Es war das erste Mal, dass er so etwas wie Leidenschaft in seine Worte legte. Diese ebbte aber sofort wieder ab, und er schloss mit den Worten: »Zumindest glaube ich das. Ist nicht mein Metier, ich kümmere mich nur um den Körper auf meinem Tisch. Aber Sie können gerne bei der Kriminaltechnik nachfragen.«

»Danke«, presste Hellmer hervor.

Nach einem ersten Aufflammen wirkte er wieder deutlich ernüchtert.