A llein.
Julia Durant wachte ohne Wecker auf. Draußen war es stockfinster, von der Straße drangen erste Geräusche des Berufsverkehrs nach oben. Sie rollte sich über Claus’ leere Bettseite. Tappte, ohne Licht anzuschalten, ins Badezimmer, setzte sich auf die Toilette. Die Tür blieb offen. In zwei Stunden würde sie duschen gehen, ohne dass sie jemand drängte. Den Kaffee stärker kochen, ohne dass sich jemand beschwerte. Die Klamotten anziehen, ohne dass sie ihn nach seiner Meinung zu ihrem Look fragen konnte. Ein Kloß wuchs in ihrer Kehle. So viele Jahre hatte sie unabhängig gelebt und war doch nur einsam gewesen. Und jetzt, nach all der Zeit, in der sie sich mit ihrem Liebsten arrangiert – sich an ihn gewöhnt – hatte, fehlte er ihr schon nach einem Tag so sehr.
Julia stand auf, drückte die Tränen weg und ging kurz entschlossen unter die Dusche, wo sie eine Viertelstunde lang blieb. Danach bereitete sie sich einen Café au lait zu, so wie Claus ihn machen würde. Rollte sich auf dem Sofa unter seinen Lieblingskolter und schaltete das Morgenmagazin ein. Irgendwann döste sie weg und wurde erst wieder wach, als das Handy piepte.
Mittlerweile war es hell.
Julia tastete nach dem Gerät, ihr Herz raste, weil sie aufgeschreckt war. Während der Puls sich beruhigte, fand sie das Telefon zwischen Oberschenkel und Couchlehne. Die Nachricht kam von Andrea Sievers.
Ruf mich mal an, wenn Du wach bist.
Treffer!
Alles, was sich an Herzfrequenz verlangsamt hatte, trieb wieder in die Höhe. Ungeduldig tippte Julia aufs Display und wartete das Tuten ab.
»Das ging ja schnell«, lobte die Rechtsmedizinerin mit dem fröhlichen Gemüt.
»Was für ein Treffer?«
»Verstehe. Kein Small Talk. Nur die harten Fakten. Na gut, pass auf. Der Blutfleck am Mantel. Es gibt eine Übereinstimmung mit einem Fall außerhalb meiner Zuständigkeit.«
»Mit dem alten Fall?« Julia schluckte hart. Hatte man das nicht schon längst gecheckt? Oder war das bei all dem Trubel etwa untergegangen? So etwas durfte niemals passieren – leider gab es solcherlei Pannen öfter, als man glaubte.
Andreas Antwort erlöste sie.
»Was? Nicole Geßler etwa? So ein Quatsch! Es ist diese andere Ermittlung.«
Sie las eine Aktennummer vor, bei der aber nichts klingelte.
»Unfallopfer nach einem Hausbrand«, kam es dann. »Eva Schuhmacher.«
Julia Durant wäre um ein Haar das Telefon aus der Hand geglitten.
»Hammer!«
Doris Seidel musste heftig husten, ihre Stimme klang kratzig. Erst jetzt wurde Julia Durant klar, dass sie nicht Frank Hellmer, sondern ihre Kollegin angerufen hatte. Ein ungewohnter Impuls. Diese schien den ersten Schock nun verdaut zu haben und hakte nach: »Hilf mir auf die Sprünge, bitte. Es ist dieselbe DNA wie an dem Mantel bei dem Messerüberfall. Bahls DNA also. Und die Probe, die dem zugrunde lag, ist welche?«
»Die Typisierungsaktion von damals.« Julia atmete immer noch so schnell, als käme sie gerade von einer Joggingrunde zurück. »Den Abstrich von Bahl und seiner Schwester haben wir doch erst abgegeben, das dauert noch. Wir dachten zwischenzeitlich sogar, dass es nicht Bahl gewesen wäre, der zu der Reihenuntersuchung gegangen ist. Er hat mindestens eine Person darum gebeten, an seiner Stelle hinzugehen, doch diese Person hat abgelehnt.«
»Karel Muth aus der Kunstgalerie.«
»Exakt. Muth konnte nicht sagen, ob Bahl nun selbst dort hinging oder nicht, aber jetzt ergibt alles einen Sinn. Bahl ist damals also selbst dort gewesen.«
»Du meinst also, Caspar Bahl ist am Wochenende, bevor er sich zurückgemeldet hat, schon in sein Elternhaus gegangen und wurde dort von Frau Schuhmacher gesehen? Oder bei etwas überrascht, das er nicht tun sollte? Und deshalb hat er sie getötet?«
»Wir müssen das zumindest in Betracht ziehen«, antwortete Julia, die sich nur langsam beruhigte.
»Aber seit wann ist Bahl denn dann in Frankfurt? Hieß es nicht, seit Sonntag? Selbst wenn er schon ein, zwei Tage früher hier war – die Messerstecherei liegt doch schon viel länger zurück.«
Durant fiepte mit zusammengepressten Lippen. »Nicht nur die. Auch der Tod von Frau Schuhmacher passt nicht zu dieser Aussage. Aber mal angenommen, Bahl hält sich schon länger in der Gegend auf, als er und sein Anwalt uns glauben machen wollen: Wäre das nicht ein Mordmotiv? Er wird entdeckt, als er es noch nicht möchte, und stößt die alte Haushälterin die Treppe runter. Um das Ganze zu vertuschen, steckt er das Haus in Brand.«
»Moment, das hakt aber«, wandte Seidel ein. »Dann müsste seine Schwester ja involviert sein. Hat sie nicht ausgesagt …«
»Warte«, unterbrach die Kommissarin sie. »Dorothea Bahl profitiert von Caspars Wiederauftauchen. Das Erbe. Sie ist lesbisch, doch sie müsste einen Mann heiraten, um an das Vermögen zu kommen. Dank Caspar bekommt sie nun die Hälfte, ohne sich das antun zu müssen.«
»Hmm. Aber die letzten zwanzig Jahre hat sie das ja auch nicht gestört, oder?«
»Weiß ich nicht.« Julia fuhr sich durchs Haar. Jetzt klang Doris wie ein Chef, der sämtliche Hypothesen auf die Goldwaage legte. Das behagte ihr überhaupt nicht. »Vielleicht hatte sie sich damit arrangiert. Das können wir sie gerne noch mal fragen. Aber es ist kein Widerspruch, dass sie vielleicht eine neue Chance erkannt und ergriffen hat.«
»Stimmt auch wieder. Und was war mit dem Überfall am Mainufer?«
»Unglücklicher Zufall. Wenn Bahl das Opfer war, wenn er am Ende sogar verletzt worden wäre, dann hätte er die Kontrolle über alles verloren. Das Risiko, erkannt zu werden, wäre immens. Wir wissen ja nicht mal, ob er irgendwelche Papiere hat. Wenn überhaupt, waren diese gefälscht. Also ein Risiko, das er nicht eingehen wollte. Er hat den Angreifer überwältigt und das Messer im Fluss entsorgt. Haben wir uns nicht die ganze Zeit über gefragt, welcher normale Mensch das tun würde?«
»Stimmt.«
Julia lächelte. So klang das schon besser. Sie wusste nicht, ob ihre Theorie am Ende Bestand haben würde. Aber es war ein erster Erklärungsansatz, der ein halbwegs sinnvolles Bild erkennen ließ. Doris Seidel schien das ebenfalls so zu sehen. Und kritische Rückfragen standen nicht nur den Chefs zu, sondern auch sämtlichen Kollegen. Ihr Lächeln fror ein. Sie und Doris wussten etwas, das sie unbedingt ihrem Team mitteilen mussten. Vielleicht war jetzt die Zeit …
»Doris?«, sagte sie leise, nachdem einige Zeit verstrichen war, in der sie nur die entfernten Stimmen der Moderatoren im Fernsehen hörte. Sie hatte die Lautstärke heruntergeregelt, anstatt das Gerät auf stumm zu schalten.
»Ja?«
»Claus hat es mir erzählt, bevor er gefahren ist. Er hat es wer weiß wie lang mit sich herumgeschleppt, ich werfe es ihm auch nicht vor. Er hat einen harten Kampf vor sich, und ich kenne keinen Menschen, dem ich wünschen würde, in seiner Haut zu stecken.«
»Außer vielleicht diese verdammten Vergewaltiger«, presste ihre Kollegin hervor.
Julia nickte stumm. Wie musste es ihr damit gehen? Zerfressen von Schuld, die keine war. Doch die Machtlosigkeit blieb. Die Gewissheit, dass die Täter womöglich niemals überführt und zur Rechenschaft gezogen werden würden. Schließlich räusperte sie sich: »Weiß Peter es denn schon?«
»Klar. Wir haben in den letzten Tagen viel miteinander gesprochen, er hat sich rührselig um mich bemüht.«
»Und der Rest? Ich meine … er war ja nicht immer so, hm, pflegeleicht.«
Doris lachte prustend. »Hervorragend gesagt! Ich weiß noch genau, wie er damals rumstolziert ist. Eine Kreuzung aus Gockel und Don Juan. Damals hätte ich ihn nicht mit der Kneifzange angefasst, aber, na ja …«
»Den haben wir gut hinbekommen«, sagte Julia. »Trotzdem. Wenn ich an Frank denke und an damals … das hat nicht gut funktioniert.«
»Umso mehr bei dir und Claus«, wandte Doris ein.
Damit hatte sie wohl recht.
Doris Seidel würde ab dem ersten März die Kommissariatsleitung übernehmen. In zwei Tagen. Früher als geplant und nicht nur kommissarisch. Sie würde in das alte Berger-, später Hochgräbe-Büro ziehen, um zu bleiben.
Frank Hellmer wusste längst über Caspar Bahl und den DNA -Treffer Bescheid, als er im Innenhof des Präsidiums vorfuhr. Er warf einen Blick auf die Uhr. Die Dienstbesprechung war für neun Uhr angesetzt, Zeit genug, um noch eine Zigarette zu rauchen. Die Sonne war noch nicht so hoch gestiegen, dass sie über das Dach des Gebäudekomplexes fiel. Es war kalt, dafür hielten die hohen Wände den Wind draußen. Hellmer fröstelte trotzdem und trat auf der Stelle. Der Ford Kuga, mit dem Peter und Doris gekommen waren, stand bereits auf seinem Platz. Uwe Liebigs Van fehlte noch. Während Hellmer immer wieder an dem Filter saugte und den Rauch tief inhalierte, musste er an den Fall Bahl denken. Wie schnell es in diesen Tagen doch mit einem genetischen Fingerabdruck ging. Kaum vorstellbar, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der man nur nach Blutgruppen unterschieden hatte. Mit einem Mal überkamen ihn Zweifel, auch wenn er das Gefühl nicht ganz einordnen konnte. Das Gespräch mit Julia war auch nur kurz gewesen. Die Dienstbesprechung würde die offenen Fragen hoffentlich klären.
Hellmer drückte die Zigarette auf dem Boden aus und hob den Stummel auf. Entsorgte ihn in einem Abfalleimer, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Spitze auch wirklich frei von Glutresten war. In diesem Moment hörte er einen Wagen kommen. Liebig. Na dann los.
Julia Durant eilte ins Besprechungszimmer und entschuldigte sich für die Verspätung. »Ihr habt es sicher alle schon gehört«, eröffnete sie, »die DNA von Bahl passt in mindestens zwei Fällen. Ich habe eben mit der Staatsanwaltschaft telefoniert, um einen Haftbefehl zu bekommen.«
»Elvira?«, fragte Hellmer, der am Tisch mit den Kaffee- und Teekannen stand. Er rührte um und nahm einen Schluck.
Durant verneinte. »Leider nicht. Aber ich hoffe, es wird trotzdem schnell gehen. Am Haftbefehl selbst hege ich keinen Zweifel.«
Liebig gab ein verächtliches Grunzen von sich. »Abwarten.«
Doch die Kommissarin lächelte und zählte an den Fingern auf: »Übereinstimmende DNA . Zwanzig Jahre ins Ausland abgesetzt. Schon allein deshalb eine erhöhte Flucht- oder mindestens Verdunkelungsgefahr. Na ja«, sie seufzte, »und dann noch der Gedanke, dass ihm fünfzig Prozent seines Erbes nicht genug sein könnten.«
»Du meinst, er würde seine eigene Schwester …« Hellmer schnappte nach Luft. »Müssen wir sie schützen?«
Durant lächelte. »Viel besser. Wir schicken die Spurensicherung ins Haus. Dein Gedanke, mein Lieber … der mit der Treppe … das hat mich drauf gebracht. Auf dein Bauchgefühl sollte man hören.«
Frank feixte und klopfte sich zufrieden über den Bauch.
Uwe kniff die Augen zusammen. »Fein. Dann hat Frau Bahl die Hütte voll mit Beamten. Aber lebt dieser Bruder nicht im Haus seines Anwalts? Und muss er wegen der DNA -Probe nicht hoch alarmiert sein? Warum hat er dem überhaupt zugestimmt?«
Durant nickte. Liebig hatte recht. »Er hatte keine Wahl«, antwortete sie. »Früher oder später hätte er es sowieso machen müssen.«
»Hm.« Der Kollege wirkte nicht überzeugt.
»Unser Vorteil«, sagte Hellmer, »ist, dass Bahl vermutlich noch überhaupt nicht weiß, was ihm blüht. Weder das Blut am Mantel noch die Hautreste unter den Fingernägeln von Frau Schuhmacher dürften ihm bekannt sein. Bis dato haben wir ihm gegenüber einzig und allein von Identitätsfeststellung gesprochen.«
»Was nicht gelogen war«, ergänzte Durant. »Die Treffer haben uns ja selbst überrascht.«
Nach einem kurzen Gemurmel kehrte Stille ein. Ein Augenblick, der wie geschaffen war, um sich die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen. Julia Durants Blick verfing sich mit Hellmers Augen. Sie hatte ihn abfangen wollen, doch dann war ihr das Telefonat mit der Staatsanwaltschaft in die Quere gekommen. Vielleicht erkannte er ihre Hilflosigkeit, vielleicht auch die stumme Bitte um Verständnis. Dann drehte sie sich auch schon weiter und nickte Doris Seidel zu. Diese stand auf, nicht mal eine Teetasse hatte sie angerührt, so nervös musste sie sein. Doris trat neben sie, während Julia sich lauthals räusperte.
»Es gibt da noch einen Punkt, über den wir reden müssen. Und es tut mir leid, wenn wir euch damit überfahren, aber …«
»Schon gut«, unterbrach Doris sie mit fester Stimme. »Lass mich das mal machen.«
»Also doch du!«, platzte Frank heraus und starrte Julia mit weiten Augen an.
Sie schüttelte nur den Kopf. Ob er es überhaupt bemerkte?
»Ich mache es kurz«, verkündete Doris, »denn wir haben eine Menge Arbeit vor uns. Bei allem Verständnis für seine Lage: Es hat uns ziemlich überrumpelt, dass Claus so plötzlich abgereist ist. Und eigentlich sollte es noch ein paar Wochen dauern, aber das Leben schmiedet ja meistens andere Pläne als man selbst. Kurzum: Es gibt einen neuen Boss«, sie hielt eine Sekunde inne und ließ ihren Blick über die Gesichter streifen, »und das bin dann ich.«
Das große Gemurmel blieb aus, denn im Grunde waren es nur Liebig und Hellmer, die noch nicht informiert waren. Während der rundliche Mann im fleckigen Pullover das Ganze recht gleichgültig hinnahm, arbeitete es sichtbar hinter Franks Stirn. Julia biss sich auf die Zunge. Sie hätte es ihm sagen müssen, und wenn nur per Telefon. Das wäre sie ihm schuldig gewesen. Aber schon im nächsten Moment war ausgerechnet er es, der aufsprang, Doris umarmte und sie beglückwünschte.
»Mensch. Das habe ich echt nicht kommen sehen.« Er drehte sich zu Julia und legte einen finsteren Klang über seine Stimme. »Offenbar als Einziger.« Dann, wieder ausgelassen: »Aber top. Besser als jemand von außerhalb. Besser als irgendein Jungspund, der keine Ahnung von dem Laden hier hat und uns Polizeiarbeit beibringen will.«
Alle mussten lachen, und sie scharten sich um Doris, und für einen Moment, wenn auch einen kurzen, traten alle Sorgen in den Hintergrund.
Es war Uwe Liebig, der die Seifenblase zum Platzen brachte. Mit einer Denkermiene und seitlich gekipptem Kopf fragte er Doris, nachdem er ihr gratuliert hatte: »Glaub mir, ich freu mich für dich. Gerade jetzt, nach all der Scheiße, die wir hinter uns haben. Und ich will auch kein Spielverderber sein, aber Claus macht seinen Stuhl ja hauptsächlich aus einem Grund frei. Weil er mit Julia verheiratet ist und das dienstrechtlich nicht vereinbar ist.« Er machte eine vielsagende Pause, und natürlich war ihm die volle Aufmerksamkeit aller Umstehenden längst sicher. Sein Zeigefinger wechselte ein paarmal von Doris zu Peter und zurück. »Ihr beide seid doch auch … oder habe ich da was verpasst?«
Doris nickte und kicherte verhalten. »Das war einer der Gründe, weshalb das alles jetzt wie mit dem Holzhammer kommt.« Sie hakte sich bei Kullmer ein und sagte zu ihm: »Peter, willst du?«
»O Gott!«, rief Hellmer und schlug sich theatralisch an die Wangen. »Peter geht hoffentlich nicht in Elternzeit!«
»Blödmann«, schnaubte dieser mit einem Grinsen. »Mich kriegt ihr hier nicht weg. Aber ich wechsle die Abteilung. Ich gehe zu Charly Abel zum K13 .«
Julia Durant musste schlucken. »Auch ab sofort?«
»Erst ab März.« Kullmer zwinkerte. »Ist also noch eine Weile hin. Wir haben ja immerhin Schaltjahr.«
Blödmann. Die Kommissarin verkniff es sich gerade noch. Im Grunde war es eine Entwicklung, die sie auch hätte bemerken müssen. Ehepartner auf unterschiedlichen Dienstgraden, das war nicht erlaubt. Im Grunde war ihre Beziehung zu Claus schon eine sehr ausgedehnte Grauzone gewesen. Ohne seinen Weggang nach Wiesbaden wäre die Hochzeit praktisch unmöglich gewesen. Wenn nun Doris die Chefin ihres Ehemanns werden sollte, bedeutete es für das Paar dasselbe. Die Karten mussten neu gemischt werden.
Die Zeiten änderten sich. Das Team, wie es seit Jahren gewachsen war, zerfiel. Ein Kloß formte sich in ihrem Hals.
Nachdem sich alle an ihre Plätze verstreut hatten, waren es nur noch Frank und Julia, die mit ihren Kaffeetassen im Konferenzraum standen.
»Seit wann hast du’s gewusst?«, stellte er die unvermeidliche Frage.
»Claus hat es mir bei der Abfahrt gesagt. Es war einfach keine Zeit. Und heute Morgen am Telefon hab ich’s nicht geschafft.«
»Ist schon gut.« Sie spürte seine Hand auf ihrem Rücken, und es tat gut. Es war wie früher. Frank und Julia. Der Kloß schrumpfte ein bisschen. Solange dieses Team bestand, würden sie allen Veränderungen um sie herum gewachsen sein.
»Bist du hier drin?«
Doris Seidels Stimme hallte durch die Damentoilette. Julia war gerade dabei, die Kabine aufzuschließen. Sie zupfte sich den Pullover zurecht. Nicht gerade ein Kleidungsstück, das es in die Kategorie sexy schaffen würde, aber er war ungemein bequem. Und an diesen stürmisch-kalten Tagen genau das Richtige.
»Ja-haa.« Sie trat heraus. »Das ist ja schon mal der erste Vorteil, wenn man einen männlichen Boss hat. Wenigstens auf dem Klo ist man sicher.«
Doris lachte und schüttelte den Kopf. Dann fielen die beiden Frauen sich noch einmal in die Arme. Sie drückten sich kurz, aber fest aneinander.
»Alles wird gut«, sagte Doris leise, und Julia nickte, auch wenn sie da ihre Zweifel hatte. Doch die versuchte sie, in diesem Moment so weit wie möglich von sich zu schieben. »Wir arbeiten jedenfalls dran. Aber du bist doch sicher nicht deshalb hier, oder?«
»Nein! Jedenfalls nicht nur.« Während die Kommissarin sich die Hände wusch, begann ihre Kollegin zu berichten. »Es geht um Dennis Schäfers Großtante. Peter und ich haben eben gerade mit ihr telefoniert.«
Julia fuhr herum. »Und?«
»Sie ist noch halbwegs klar, jedenfalls genügte es, um ein paar Erinnerungen abzurufen. Schäfer ist nach seiner Haftentlassung bei ihr aufgeschlagen. Sie kannte ihn zwar als Kind, aber dann hat er wohl erst wieder Kontakt zu ihr aufgenommen, als er im Gefängnis saß. Sie sind die letzten Verwandten aus einer weit verstreuten Familie. Deshalb – und weil sie spürte, dass es mit ihrem Alltag nicht mehr so gut klappte – hat sie ihn mit offenen Armen aufgenommen. Ein Neubeginn. Schäfer hat sich sogar dort als wohnhaft gemeldet.«
»Mist! Wir hätten bundesweit nach ihm fahnden müssen.«
»Das hätte nichts gebracht«, sagte Doris kopfschüttelnd. »Er hat einen anderen Namen verwendet. Lukas Müller. Dreimal darfst du raten, das ist eine der häufigsten Kombinationen, die es in Deutschland gibt. Er hat, wie nicht wenige Schwerverbrecher, einen Neustart hingelegt. Unbelastet. Und er wollte das offensichtlich tun, ohne von irgendjemandem aufgespürt zu werden. Ohne die Mithilfe dieser alten Tante wären wir da auch vermutlich nie drauf gekommen.«
Julia zuckte mit den Schultern. »Und ist er auch noch dort gemeldet?«
»Das ist dann der nächste Teil der Geschichte.« Doris zog die Lippen auseinander. »Der weniger gute.«
»Können wir das vielleicht irgendwo besprechen, wo es mehr nach Kaffee und weniger nach Klosteinen riecht?«
Sie lachten, und Julia trat auf den Gang, um auf Doris zu warten. Ein Kollege aus einer anderen Abteilung passierte sie und musterte sie irritiert.
Während die beiden Frauen zurück in Richtung Besprechungszimmer gingen, wo noch immer die großen Kannen und Tassen standen, erzählte Doris weiter: »Schäfer – ich schlage vor, wir verwenden weiterhin seinen richtigen Namen – hat über mehrere Monate bei ihr gelebt. Er war nett und hilfsbereit, aber auch verschlossen und voller Geheimnisse, wenn es um seine Vergangenheit ging oder um seine Zukunftspläne. Manchmal war er tagelang nicht da. Kein Job, soweit sie das beurteilen konnte, aber er habe immer ›Dinge zu regeln‹ gehabt.« Sie erreichten den Kaffeetisch. Bedienten sich und genossen einen Schluck. »Und dann, es war im vergangenen Herbst, ist er einfach verschwunden. Er hat ihr gesagt, dass er etwas Großes vorhabe. Dass er nach Rotterdam gehen und auf einem Schiff anheuern würde. Dass er ein paar Monate fort sei, dann aber wiederkommen würde. Sie solle nicht nach ihm fragen und sich keine Sorgen machen. Es sei eine Chance, die er ergreifen müsse.« Doris seufzte. »Die alte Dame sagte selbst, dass sie das ziemlich gutgläubig hingenommen habe. Sie wollte daran glauben. Sie wünschte es sich für ihn. Im Grunde wartet sie noch heute darauf, dass er von seiner Tour zurückkehrt.«
Julia Durant ließ ebenfalls einen Seufzer hören. »Vermutlich wird sie das auch so lange tun, bis jemand ihr die schmerzhafte Wahrheit mitteilt.«
Doris Seidel trank einen Schluck, dann wippte sie mit dem Kopf. »Glaubst du denn, er ist wirklich auf Nimmerwiedersehen verschwunden?«
Durant hob die linke Schulter bis ans Ohr. »Weiß nicht. Fehlt denn irgendwas? Hat er sie um Geld gebeten oder sind Wertsachen abhandengekommen?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich frage mich auch gerade, ob sie das zugegeben hätte. Peter hatte das Telefonat auf Lautsprecher. Die Frau klingt herzensgut, fast schon naiv, und sie sprach auch von ›ihrem Dennis‹ als gutem Menschen. Entweder glaubt sie das alles tatsächlich, oder sie will es glauben. Möchte ihren Lebensabend nicht in einsamer Enttäuschung verbringen.«
Julia Durant bekam eine Gänsehaut. »Wie furchtbar. Ob wir uns dieser Dame vielleicht doch noch mal persönlich widmen sollten?«
»Ich weiß nicht. Es ist eine ziemlich weite Fahrt …«
»Warten wir den Haftbefehl ab«, schlug Julia vor und steckte sich einen Keks in den Mund. Ihr Blick suchte die Wanduhr oberhalb der Tür.
Wie lange es wohl noch dauern würde?
Die Kollegen der Kriminaltechnik rückten mit einem Bus und einem Kombi an. Julia Durant hatte sich kurzerhand dazu entschlossen, im eigenen Dienstwagen zur Villa Bahl mitzufahren. Frank Hellmer brach derweil nach Kronberg auf, um noch einmal das Haus des Anwalts zu besuchen. Der Haftbefehl für Caspar Bahl lag nun vor, und er hoffte, ihn dort anzutreffen.
Die kleine Wagenkolonne kam auf dem Vorplatz der Villa zum Stehen.
»Garage und Flur«, ordnete die Kommissarin an. »Zum einen geht es um Frau Schuhmachers Wagen. Ein champagnerfarbener Golf. Kofferraum und Sitze, vorne und hinten.«
»Wenn es ihr Wagen ist«, wandte Platzeck ein, »was erhoffst du dir denn zu finden?«
»Blutspuren auf den Sitzen. Je nachdem, wo sie gesessen hat oder an welcher Stelle die Spuren sich finden, können wir auf ihren Zustand schließen. Sie war definitiv noch am Leben, aber vielleicht war sie bereits bewusstlos. Die Anschnallgurte. Vorne und hinten. Entweder hat sie dort gesessen, oder man hat sie in den Kofferraum verfrachtet. Am einfachsten wäre es natürlich, wenn sich ihre DNA auf dem Teppich hinten finden würde.«
Platzeck hob die Augenbrauen. »In einem Golf?«
»Du hast recht.« Sie schürzte die Lippen. »Wie auch immer, tut euer Bestes. Es könnte eine Menge davon abhängen. Und drinnen befassen wir uns mit der Marmortreppe. Ich warne euch vor, da ist alles blitzblank und frisch gewienert.«
»Falls es dort Blut gab, finden wir es«, versicherte ihr der Chef der Spurensicherung.
Kurz darauf läuteten sie an der Tür. Julia wunderte sich, dass Frau Bahl nicht längst geöffnet hatte. Der klobige Wagen war nicht gerade diskret auf den Schotter geprescht. Als sich auch nach dem dritten Versuch nichts regte, wurde ihr mulmig.
Sollte sie die Tür aufbrechen lassen? Gab es eine Alarmanlage? Musste sie Verstärkung anfordern?
Sie griff zum Telefon. Wählte Hellmers Nummer. Doch er ging nicht ran. Scheiße.
Was, wenn Bahl ihnen zuvorgekommen war? Wissend, dass die DNA ihn überführen würde. Was, wenn seine Schwester schwer verletzt im Hausinneren lag und er mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, auf dem Weg ins Ausland?
»Da ist kein Auto!«, schallte eine Frauenstimme. Zeitgleich erschien ein ihr unbekanntes Gesicht, eingerahmt von rotblondem Wuschelhaar. Der Rest der Frau war von dem flatternden Schutzanzug verschluckt.
Der Golf war weg. Durant schnappte nach Luft. Reflexartig griff sie an den Türknauf, um daran zu rütteln. Stattdessen schnappte das Schloss auf, und die Tür schwang nach innen. Beinahe lautlos. Und es wurde auch kein Alarm ausgelöst.
Ihr wurde mulmig.
Frank drückte auf die Klingel. Er hatte halb auf dem Bordstein geparkt, es war ihm egal. Ein Streifenwagen der hiesigen Polizei tauchte auf, die Beamten waren zu seiner Unterstützung herbeigerufen. Außerdem jagte er hier in fremdem Gebiet. Nicht auszudenken, wenn Bahls Anwalt hieraus einen Verfahrensfehler kreieren würde. Er kannte solche Winkeladvokaten besser, als ihm lieb war. Nein. Hier würde alles korrekt ablaufen. Er klingelte erneut.
Keine Reaktion. Sein Blick wanderte an der Fassade nach oben. Er erwartete nicht ernsthaft, dass sich hinter einem der Fenster eine verräterische Bewegung zeigte. Dass die adrette Bürodame sich nach außen beugte und hinabrief, es gäbe heute keine Termine mehr. Aber warum ging sie nicht an die Gegensprechanlage?
Hellmer tastete nach seinem Telefon. Mist. Er hatte es auf dem Beifahrersitz liegen lassen.
»Hallo?«
Er fuhr zusammen. Frau Conrad, seine Sekretärin (oder sagte man dazu heute Anwaltsgehilfin?).
»Hellmer, Kriminalpolizei. Wir müssen noch einmal dringend zu Herrn Kammer.«
Ihre Stimme klang bedrückt, als sie antwortete: »Herr Kammer ist heute nicht im Haus.«
Verdammt. »Wo ist er?«
»Das …«, es knackte in der Leitung, »… sagen.«
»Darf ich bitte kurz nach oben kommen? Ich verstehe Sie kaum.«
»Ich weiß nicht.«
»Hören Sie. Es ist wirklich wichtig. Ihr Chef hat uns volle Kooperation zugesichert. Sie wollen doch sicher nicht …«
Der Summer ertönte. Mit einem flüchtigen Grinsen drückte der Kommissar die Tür auf.
»Ich gehe zu ihr, Sie gehen ein Stockwerk weiter. Herr Bahl wohnt im Dachgeschoss. Wenn wir Glück haben, weiß er noch nichts von seinem Glück. Aber lassen Sie sich nicht von seinem Auftreten täuschen: Er ist schneller und skrupelloser, als es scheint.«
Schwere Schritte hallten durch das leere Entree. Im ausgeschalteten Licht strahlten die hohen Wände etwas Bedrohliches aus. Sie musste an ein Geisterhaus denken, wenngleich es weder Staub noch Spinnweben gab.
Platzeck deutete auf den massiven Handlauf der Treppe. »Sicher nicht die einzige im Haus.«
»Aber hier fangen wir an«, sagte Durant, ohne zu erwähnen, dass sie vom Rest des Hauses bisher ebenso wenig gesehen hatten wie alle anderen, mit denen sie hier war.
Die Männer und Frauen, auch die Rotblonde, schlüpften in Schutzkleidung. Zwei begaben sich nach oben, die anderen begannen im unteren Bereich. Sie markierten dazu ein etwa zwei mal zwei Meter großes Quadrat am Treppenende. Durant schätzte, dass hier voraussichtlich ein Sturzopfer zum Liegen kommen würde.
Ihr Herz klopfte. »Ich suche nach Frau Bahl.«
Mit gezogener Dienstwaffe schritt sie die Räume im Erdgeschoss ab. Ein wenig gemütliches Wohnzimmer, dessen viele Fenster und nüchterne Einrichtung keine Behaglichkeit aufkommen ließen. Das Reich des alten Bahl, in dem sein Porträt von der Wand auf die Welt hinabsah. Ein in der Kunstwelt nicht bekannter Caspar David Friedrich. Hellmer hatte das bereits erwähnt. Doch Julia Durant hatte keine Zeit, sich aufzuhalten. War Dorothea Bahl mit dem Golf der Haushälterin geflüchtet? Aber wohin?
Sie musste sich beeilen. Wie viele Räume mochte es hier geben? Und wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, sie zu finden?
Nachdem sie das Erdgeschoss abgegrast hatte, wollte sie nach oben. Doch Platzeck trat ihr in den Weg.
»Wir haben Blut«, verkündete er.
Durant atmete schnell und folgte mit den Augen dem Zeigefinger des Forensikers.
Im Licht spezieller Scheinwerfer waren einige Spritzer zu erkennen. Bevor sie nachfragen konnte, sprach Platzeck weiter: »Ich sag’s nicht gerne, theoretisch könnte das ein paar Tage alt sein, aber ebenso gut kann es sich hier um älteres Blut handeln. Eine Schnittverletzung. Nasenbluten. Das ist wie mit Kaffeeflecken. Hat man fast überall schon mal gehabt. Je älter ein Gebäude …«
»Ja, ja«, unterbrach Durant ihn, »aber ihr macht bitte weiter, okay? Die ganze Treppe. Vielleicht ergibt sich ja ein Muster.«
Platzeck schnaubte. »Wir sind ja keine Anfänger.«
Ohne ein weiteres Wort schob die Kommissarin sich an ihm vorbei und nahm zwei, manchmal drei Stufen gleichzeitig. Oben hielt sie kurz inne, scannte die Umgebung, registrierte vier Türen und einen offenen Durchgang. Bog nach rechts ab, wo der Durchgang lag.
Sie spürte, wie die Zeit ihr davonrannte. Das Gefühl in der Magengegend war eine Mischung aus Verkrampfung und Übelkeit. Hoffentlich …
Als sie ein metallisches Klirren vernahm, blieb sie wie angewurzelt stehen, und das Blut gefror ihr in den Adern.
Sie trug einen engen Rock, in dem man vermutlich nur unbequem sitzen konnte. Dazu Absätze, die sie größer machten als Hellmer, was ihm unangenehm war. Doch wie viel schlimmer musste es für sie sein? Frisiert, geschminkt und kostümiert für einen Mann, der nicht einmal da war, um es zu sehen. Und wenn er sie sah, dann war es, als blicke er durch sie hindurch. Oder interpretierte er da zu viel hinein? Stand er selbst nicht auch oft viel zu lange vor dem Spiegel, nur um sich selbst zu gefallen? Frau Conrads Mimik schien ihm zumindest teilweise recht zu geben, als sie ihm Rede und Antwort stand.
»Sie sagen also, Ihr Chef hatte einen Terminplan für heute und hat ihn dann mir nichts, dir nichts über den Haufen geworfen? Ist das normal?«
»Es kann immer was dazwischenkommen.«
»Und kommt das öfter vor?«
»Na ja.« Sie rang noch mit sich.
»Ich frage mal anders: Haben Sie mitbekommen, warum das ausgerechnet heute passiert ist?«
»Nein. Also …«
»Ein kurzfristig angesetzter Gerichtstermin, ein Außentermin, ein Mandantenbesuch … all das müssten Sie doch als Allererstes erfahren, oder nicht?«
Sie schnaufte. Dann gab sie auf. »Ja. Natürlich. Aber heute ist er urplötzlich auf mich zugekommen und hat verlangt, dass ich sämtliche Termine absage. Er müsse weg und wisse auch nicht, wann er wiederkomme.«
»Aha. Und wohin, das hat er Ihnen nicht gesagt?«
»Nein. Nur noch, dass er keinesfalls gestört werden möchte.«
»Hat er sein Handy dabei?«
»Sicherlich.«
»Dann sollten wir versuchen, bei ihm anzurufen?«
»Aber wenn er bei Gericht ist oder auf wichtigen Terminen, ist es meistens stumm geschaltet.«
»Rufen Sie ihn bitte trotzdem an.«
Als sie zögerte, sagte Hellmer mit Nachdruck: »Er wird Ihnen schon nicht den Kopf abreißen. Ich sage ihm, dass ich Sie dazu gezwungen habe.«
Zwei Versuche später hatte die adrette Frau ihren Chef am Apparat. Mittlerweile war ein Beamter in Uniform aufgetaucht und hatte dem Kommissar ausgerichtet, dass die Wohnung unterm Dach leer sei. Caspar Bahl war also auf der Flucht. Das Schnauzen von Axel Kammer, warum sie wagte, ihm hinterherzutelefonieren, trieb Frau Conrad den Schmerz ins Gesicht und war auch ohne Lautsprecher deutlich zu hören. Hellmer griff nach dem Telefonhörer, noch bevor er seine Tirade beendet hatte.
»Atmen nicht vergessen«, sagte er, und der Anwalt verstummte abrupt. »Frank Hellmer hier. Ich habe Ihre Angestellte zu diesem Anruf genötigt. Eine überaus loyale Persönlichkeit, die Ihnen völlig ergeben ist. Das sollten Sie im Hinterkopf haben, wenn sie vor Ihnen steht. Gute Bürokräfte sind dünn gesät, und ich bin mir sicher, dass es bei uns im Präsidium … na ja, lassen wir das.«
»Wunderbar«, erwiderte Kammer frostig. »Sie rufen ja sicher nicht wegen Personalfragen an.«
»Weshalb denn dann?«, fragte Hellmer keck zurück.
»Sagen Sie’s mir.«
»Caspar Bahl. Wir haben einen Haftbefehl.«
»Oha!« Axel Kammer schien tatsächlich überrascht. »Aufgrund von … was? «
»Das würde ich lieber persönlich mit Ihnen besprechen. Mit Ihnen und Herrn Bahl, um genau zu sein.«
Ein spöttisches Lachen erklang. »Denken Sie etwa, ich habe ihn versteckt?«
»Sagen Sie’s mir.«
»Mann, ich bin zu Hause! Ein paar Sachen erledigen. Danach wollte ich zu Dorothea fahren.« Er schluckte hart. »Zusammen mit Caspar. Was ist denn nun mit ihm?«
Hellmer dachte nach. »Die Wohnung ist verlassen.«
»Er geht manchmal spazieren. Die frische Luft hilft ihm beim Nachdenken.«
»Aber an seine Zeit hier in Deutschland kann er sich doch noch erinnern, oder?«
»Teilweise. Ich weiß es nicht genau. Was liegt denn nun gegen ihn vor?«
Hellmer entschied sich, offen zu sein. Wenn der Anwalt nach der Verhaftung Bahls erschienen wäre, hätte er es ohnehin erfahren. »Es gibt eine Übereinstimmung seiner DNA in zwei offenen Fällen.«
»Was für Fälle sind das?«
»Mindestens einmal Totschlag. Aber ich möchte das wirklich nicht am Telefon vertiefen.«
Kammer lachte schallend. »Wie soll er das denn gemacht haben? Ich habe ihn am Sonntag erst hierhergefahren. Seitdem waren wir fast durchgehend auf Achse.«
Hellmer schnalzte mit der Zunge. Sonntag.
»Wie meinen Sie das? Mit Sonntag?«
»Na ja, als Caspar mit mir in Kontakt getreten ist, befand er sich irgendwo in Tschechien. Er hat mich gebeten, ihn von dort abzuholen. Ich durfte keine Fragen stellen. Offenbar wollte er mich testen, ich weiß es nicht. Jedenfalls haben wir einen Treffpunkt im Dreiländereck vereinbart. Polen–Tschechien–Deutschland, in der Nähe von Zittau. Der Ortsname ist mir entfallen, Bogat-sonst-owitsch oder so. Es gibt dort einen gigantischen Tagebau und eine alte Kirchenruine aus deutscher Vergangenheit. Sankt Maria-Magdalena. Da sollte ich hinkommen. Also habe ich mich an meinem freien Sonntag sechs Stunden ins Auto gehockt, um in den Osten zu preschen, und danach dieselbe Strecke wieder zurück.«
»Gibt es dafür Belege?«
Hellmer konnte das Feixen förmlich hören. »Zwei Tankquittungen und diverse Kaffeestopps. Auch das kann Ihnen die Conrad aushändigen.«
Seine Gedanken jagten in alle möglichen Richtungen, doch er bekam keinen zu fassen.
Kammer fuhr fort: »Das mit der DNA muss demnach eine Verwechslung sein.«
Hellmer schüttelte den Kopf. »Die Wahrscheinlichkeit geht gegen null.«
»Gegen null ist nicht gleich null. In dubio pro reo, nicht wahr?«
Hatte Dorothea Bahl das nicht auch schon gesagt?
Frank Hellmer war sich nicht ganz sicher, er murmelte etwas von Familienmotto, aber der Anwalt ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte dieser: »Ich würde dann gerne weitermachen. Gibt es denn noch etwas …«
»Ja!«, schnaubte der Kommissar. »Schwingen Sie sich hierher, und zwar schnell!«
»Ich verstehe nicht. Mein Mandant …«
»… ist per Haftbefehl zur Fahndung ausgeschrieben«, vollendete Hellmer den Satz. »Entweder Sie helfen Ihrem Mandanten, indem Sie uns bei der Suche unterstützen, oder es sieht ganz schlecht für ihn aus. Staatsanwälte mögen keine Verdächtigen, die sich verpissen. Das macht sie nur noch verdächtiger.«
»Ist ja gut«, knurrte der Anwalt, »ich mache mich auf den Weg. Aber geben Sie mir noch mal die Conrad.«
Hellmer legte auf. Er wollte nicht, dass der Mann seinen Frust bei ihr ablud. Stattdessen bat er sie um einen Cappuccino, den sie zubereitete, während er sich nach unten begab, um endlich sein Mobiltelefon aus dem Wagen zu holen.
Den Streifenbeamten erteilte er den Auftrag, unauffällig die Gegend zu überwachen, falls Bahl zurückkehrte. Außerdem wollte er eine Visitenkarte mit in die Kanzlei nehmen. Falls Frau Conrad die Schnauze voll hatte von einem Boss, der sie nur anpflaumte, aber ansonsten keinen Blick für sie übrig hatte, sollte sie sich im Präsidium bewerben.
Statt Kaffee und Büroplausch erwarteten den Kommissar gleich mehrere Anrufe in Abwesenheit.
Shit!
Als Julia Durant wieder zu Sinnen kam, vernahm sie eine Stimme.
»Nix passiert!«
Aufgeregtes Gemurmel, das Sekunden später verebbte. Die Spurensicherer. Etwas war zu Boden gefallen, auf den Marmor. Na bravo!
Du musst dich entspannen, mahnte sie sich und strebte weiter. Am Ende des Raumes – eine Art Kaminzimmer mit einer überdimensionalen Feuerstelle aus grob gehauenen Steinquadern – befand sich eine Tür. Unscheinbar in die altgrüne Tapete mit ihren filigranen weißen Streifen eingearbeitet. Ein Knauf aus blankem Messing. Sie drehte daran. Erfolglos. Lauschte, suchte ein Schlüsselloch, hatte auch damit keinen Erfolg. Zurück in den Gang, wo weitere Türen warteten. Zwei Badezimmer. Zwei Schlafzimmer, die wie Museumsräume wirkten. In welchem davon schlief Dorothea Bahl? Oder gab es da noch mehr?
Alles in ihr war alarmiert, und gleichzeitig sagte sie sich, dass die Hausherrin nicht hier war. Hausherrin . Welch ein bescheuerter Begriff. Warum nicht Hausdame? Aber diese Bezeichnung passte wohl am ehesten zu Frau Schuhmacher.
Bevor ihre Gedanken endgültig wegglitten, kehrte sie zu den Spurensicherern zurück. Sie fand die vier Schutzgekleideten in der Mitte der Treppe stehend. Zwei hielten Scheinwerfer. Das Luminol und UV -Licht zeichneten ein Bild, das Julia Durant ohne Erklärung verstand. Jemand war mit dem Kopf gegen die obere Brüstung gestoßen und hatte sich entweder eine blutige Nase geholt oder auf die Lippe gebissen. Spritzer auf den Stufen deuteten an, dass der Körper hinabgerollt war. Überschlagend und an einer Kante im Mittelfeld mit dem Kopf aufkommend. Der längliche Fleck konnte von einer drei Zentimeter langen Platzwunde stammen. So, wie sie bei Eva Schuhmacher vorgefunden worden war.
Das Smartphone durchbrach ihre Gedanken.
»Wage dich.«
Er presste ihr die Hand vor den Mund.
Eben hatte sich jemand dem Versteck genähert. Es war diese Kommissarin, die immer wieder hier auftauchte. Die in Dingen herumstocherte, von denen sie nichts begriff. Alten Geschichten lauschte, die falsch überliefert waren, deren Widersprüchen sie aber mit einer unangenehmen Beharrlichkeit nachging. Sie war sogar mit einem Team der KTU angerückt. Blutflecken und DNA . Das war die Realität, mit der man sich heutzutage auseinandersetzen musste. Damals …
Dorothea Bahl machte eine ruckartige Bewegung. Dieses zähe, widerspenstige Weibsstück. Wie gut es getan hatte, sie zu unterwerfen. Trotz (oder gerade wegen) der angespannten Lage spürte er, wie die Geilheit sich in ihm ausbreitete. Ein Weib, das sich an andere Weiber verschwenden wollte. Sollte sie doch. Er ruckte zurück. Drückte ihr die Hand noch fester aufs Gesicht, sodass ihre Nasenlöcher zu pfeifen begannen.
»Keinen Mucks«, hauchte er, während auch der andere Arm sich eine Nuance fester um sie schloss.
Sie hätte ihn treten können, vielleicht sogar mit einem gezielten Ellbogenstoß aus der Spur bringen. Vielleicht war es der einsetzende Sauerstoffmangel. Vielleicht war es aber auch seine beinahe schon übermenschliche Stärke. Eine Stärke, die er im Alltag gut zu verbergen wusste, aber die ihn in den entscheidenden Momenten seines Lebens stets auf die Gewinnerseite schlug. Bis auf einmal. Doch dieser Gedanke gehörte hier nicht her.
Die Schritte entfernten sich wieder.
»Ich sage dir jetzt ganz genau, was als Nächstes passiert«, sagte er heiser, ohne seinen Griff zu lockern.
Dorothea war steif wie ein Brett, was blieb ihr auch anderes übrig.
Er atmete flach. Dann löste er die Hände in einer blitzschnellen Bewegung und setzte die Frau außer Gefecht.
Sie sackte in sich zusammen wie ein unglücklich aus dem Ofen geholtes Soufflé.
Und während er sie an einen Stuhl fesselte und ihr einen Knebel in den Mund schob, begann er in einem selbstverliebten Singsang zu sprechen.
»Und was machen wir jetzt?«
Es war nicht so, dass Frank Hellmer ratlos klang. Doch wenn ein Mensch wie Caspar Bahl sich zum Untertauchen entschlossen hatte, wie wahrscheinlich war es, ihn ausfindig zu machen? Er würde nicht über den Flughafen fliehen, das war naheliegend und zu gefährlich. Doch er hatte es schon einmal geschafft, sich der Welt zu entziehen. Das warf die nächste Frage auf: Warum war er überhaupt zurückgekehrt?
»Ich schlage vor, du wartest auf Herrn Kammer«, sagte Durant. »Frau Bahl fehlt nämlich auch, genau wie das Auto der Haushälterin. Mir schwant nichts Gutes.«
»Du meinst, sie hat etwas mit Bahls Verschwinden zu tun?«
»Ich meine, er hat was mit ihrem Verschwinden zu tun.«
Hellmer prustete. »Glaub ich nicht. Er wäre doch verdächtig ohne Ende, wenn ihr etwas zustößt. Und wofür? Das halbe Erbe ist mehr als genug.«
»Mag sein. Aber ich glaube auch, dass wir noch immer nur einen Bruchteil von alldem kapieren. Also mobilisieren wir alles, was wir haben. Straßensperren. Flughafenpolizei. Nachbarpräsidien. Wagentyp und Kennzeichen haben wir ja. Du besorgst über den Anwalt ein aktuelles Foto von Bahl, seine Schwester findet man ja im Internet.«
»Okay. Ich leite das alles in die Wege.« Hellmer hüstelte. »Läuft das jetzt eigentlich schon über Doris?«
»Du solltest sie anrufen, ja. Vom Präsidium aus lässt sich das einfacher managen, als wenn wir das machen.«
Frank versicherte ihr, sich um alles zu kümmern, und Durant ging zu ihrem Wagen.
Fünf Minuten später kurvte sie über eine gewundene Landstraße in Richtung Mammolshain und von dort nach Kronberg. Sie war nicht zum ersten Mal in dieser Gegend unterwegs, aber immer wieder überrascht, wie verschlungen manche Wege waren. Und wie viel Geld in den Gebäuden hier steckte, in den Villen, in der gesamten Infrastruktur. Der Hochtaunuskreis sowie der Main-Taunus-Kreis gehörten zu den zehn reichsten Regionen Deutschlands. Vor dieser Kulisse wirkten manche Verbrechen noch viel düsterer als in den prekären Vierteln Frankfurts. Besonders schlimm wurde es, wenn reiche Gewalttäter sich hinter teuren Anwälten verschanzten und sich dem Strafvollzug zu entziehen versuchten. Aber nicht mit ihr.
Entschlossen trat sie das Gaspedal etwas kräftiger, bis eine rote Ampel sie bremste. Gerade als es auf Grün umschaltete, meldete sich das Telefon. Durant kuppelte und schaltete, gönnte sich nur einen hastigen Blick nach rechts, wo ihre Tasche mit dem Smartphone lag. Sie konnte das Leuchten des Displays erkennen, nicht aber, wer anrief. Vermutlich Frank Hellmer. Egal, dachte sie. In ein paar Minuten sehen wir uns ja sowieso.
Als sie auf die Gerade einbog, an deren Ende sie das Haus der Kanzlei wähnte, griff sie dann doch in Richtung Handtasche. Fischte das Gerät heraus und erkannte, dass es nicht Hellmer gewesen war. Durant atmete schwer. Nahm die nächstbeste Parkbucht und tippte auf Rückruf.
»Ah, gut, dass du anrufst.«
Die Stimme der Rechtsmedizinerin klang zittrig, was nur selten vorkam.
»Alles in Ordnung?«, fragte die Kommissarin.
»Wie man’s nimmt.«
»Komm, spann mich nicht auf die Folter!«
»Habe ich nicht vor. Ich muss das nur selbst noch verdauen. Bist du hinterm Steuer?«
»Ich parke.« Julias Atem beschleunigte sich. Andrea fragte solche Dinge nicht ohne Grund.
»Okay, dann in aller Kürze: Caspar Bahls DNA passt nicht.«
»Sie … passt nicht?« Durant schnappte nach Luft. »Zu was? Zu seiner Schwester?«
»Ja eben doch!«, herrschte Andrea sie an. »Caspar und Dorothea sind Geschwister, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Übereinstimmung der genetischen Merkmale liegt relativ genau bei fünfzig Prozent, das bedeutet, sie stammen vom selben Elternpaar ab. Irrtum praktisch ausgeschlossen.«
»Gut, daran haben wir ja nicht gezweifelt.«
»Für meine Arbeit ist es relevant. Eines der Geschwister könnte ja – wissentlich oder unwissentlich – ein Kuckuckskind sein. Dann wäre der Prozentsatz geringer, und trotzdem könnten wir von einer Geschwisterschaft ausgehen. Aber darum geht es jetzt nicht. Es sind die anderen DNA -Proben, die aus dem Schema fallen. Und zwar alle.«
Wie gut, dass sie den Wagen zuerst in eine Parklücke bugsiert hatte! Julias Knie kribbelten, und sie konnte nicht schlucken.
»Welche Proben?«, hauchte sie.
»Der Mantel, die Fingernägel … eben alles . Genauso sicher, wie Caspar und Dorothea ein Geschwisterpaar sind, ist auch die Gewissheit, dass es sich bei den anderen Proben nicht um Caspars DNA handelt.«
»Fuck!« Julia Durant schlug so hart aufs Lenkrad, dass die Handballen pochten. »Und was jetzt?«
»Habt ihr Bahl schon verhaftet?«
»Nein. Ich bin gerade auf dem Weg zu Frank. Beide Geschwister sind verschwunden.«
»Mensch, tut mir leid. So eine Scheiße.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Der Haftbefehl ist damit also hinfällig.« Axel Kammer, der Rechtsanwalt, lehnte in seinem Sessel. Vor ihm ein Espresso und ein Glas Wasser.
»Vorläufig.« Hellmer wollte ihm den Triumph nicht zugestehen. Auch Durant schwieg, daher sprach er weiter: »Es besteht dennoch dringender Redebedarf mit Ihrem Mandanten. Wenn wir uns also …«
Kammer lachte und schüttelte den Kopf. »Sie können sich so oft mit ihm unterhalten, wie Sie wollen. Nur solange er nicht da ist, kann ich da nichts für Sie tun.«
Der Kommissar gab sich unbeirrt. »Wir wissen mindestens zwei Dinge.« Er streckte die Hand aus und zählte an den Fingern. »Erstens hat Bahl sich bewusst aus dem Staub gemacht, nachdem seine Freundin Manuela ums Leben gekommen ist. Und zweitens hat er sich einer DNA -Reihenuntersuchung entzogen und vorsätzlich jemand anderen dort hingeschickt.«
Kammer lachte erneut. »Herrje, das war alles lange vor meiner Zeit. Das Verschwinden: geschenkt. Ich würde es auch gerne genauer wissen, aber ich kann ihm nicht in den Kopf gucken. Wir müssen also alle darauf hoffen, dass seine Amnesie nachlässt.«
»Amnesie«, knurrte Hellmer und winkte ab.
Kammer ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Und was war das mit dem Reihentest? Ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Im Jahr 2000 . Zehn Jahre nach Nicole Geßlers Verschwinden.«
»Ach herrje. Da war ich noch im Studium! Die meiste Zeit davon habe ich in Passau verbracht, vielleicht liegt’s daran.«
»Kann ich mir schwer vorstellen, dass Ihnen da gar nichts zu Ohren gekommen ist.«
»Selbst wenn … was bedeutet das denn jetzt? Caspar hat nicht selbst daran teilgenommen, sondern jemand anderen hingeschickt. Ist das ein Grund für einen Haftbefehl? Einen neuen, wenn ich das erwähnen darf. Denn der alte beruht ja auf völlig falschen Annahmen.«
»Das war es dann wohl mit ›voller Kooperation‹, wie?«, fragte Hellmer gereizt. Seine Nerven schienen ziemlich blank zu liegen. Durant konnte es ihm nicht verdenken.
»Es ist zumindest gesichert, dass er sich dem Test damals bewusst entzogen hat. Wir haben sogar einen Zeugen, der diesen Vorsatz bestätigen kann.«
»Trotzdem.« Kammer winkte ab. »Man wird zu solchen Reihentests eingeladen, und die meisten gehen da brav hin. Weil man sich verdächtig macht, wenn man es nicht tut. Ich würde trotzdem zuweilen von einer Teilnahme abraten, und vielleicht hat das auch mein Schwiegervater damals getan, als er die Kanzlei noch führte. Es ist nicht immer klug, wenn man seine DNA ins System stellt. Man weiß nie, welche Kreise das Ganze zieht. Oder können Sie das garantieren?«
»Darum geht es hier gar nicht«, erwiderte die Kommissarin spitz. »Warum hat er sich dann nicht verweigert, sondern jemanden an seiner Stelle geschickt? Das ist ja wohl nicht dasselbe.«
»Ein Affekt. Aus Verunsicherung. Was weiß ich.«
»Hm.« Hellmer räusperte sich. Offenbar hatte er sich wieder etwas abgeregt. »Aber wen hat er dort hingeschickt?«, fragte er langsam und betonte jedes einzelne Wort.
»Das möchten wir von Bahl wissen. Oder von Ihnen oder von seiner Schwester …«, sagte Julia.
»Oder dem Heiligen Geist«, schloss Hellmer jovial.
Der Anwalt stand ruckartig auf. »Dann finden Sie die beiden. Ich telefoniere ein wenig herum, auch wenn ich da keine große Hoffnung habe. Sobald ich etwas erreiche, melde ich mich bei Ihnen.«
Das kam einem Rauswurf gleich.
Beide Kommissare standen ebenfalls auf und verabschiedeten sich.
Es gab hier nichts mehr für sie zu tun.
S chwärze.
Er wusste weder, wie spät es war, noch, wohin die Reise führte. Seine Beine waren eingeschlafen, die Füße kaum mehr zu spüren. Dasselbe Gefühl hatte Arme und Beine befallen. Etwas schnitt an seinen Gelenken. Fesseln?
Seine Augen suchten nach einem ersten Anhaltspunkt. Lichtreflexe drangen in die Dunkelheit. Lag er in einer Kiste? War er tot, und sein Sarg wurde an dicken Seilen in die ewige Grube hinabgelassen? Ein Zittern durchfuhr ihn. Dann erst begriff er, dass sich das Dröhnen und Rauschen nicht allein in seinem Kopf abspielte.
Alles geschah sehr langsam. Der pochende Schmerz, der von der Rückseite seines Schädels in Richtung Schläfen strahlte. Die schmerzende Schulter, auf der er lag. Embryonalstellung. Mit eng anliegenden Fesseln um die Gelenke und einem Knebel im Mund, der ihn am Schreien hinderte.
Übelkeit stieg in ihm auf.
»Wenn du jetzt kotzt, verreckst du dran«, sagte ihm eine Stimme, die unerwartet klar und deutlich klang.
Es war seine eigene.
Die Vibrationen blieben gleichmäßig. Das Schaukeln wechselhaft. Der Teppich, den er an der Wange spürte, musste zu einer Kofferraumverkleidung gehören. Das passte zu dem Licht. Das passte zu den Bildfragmenten, die sich vor seinen Augen zusammenfügten.
Der Jaguar. Das blaubraune Flusswasser.
In seinen Eingeweiden kündigte sich Panik an. Erst langsam, dann stieß sie ihm als saures Brennen durch die Speiseröhre nach oben.
Wenn du jetzt kotzt, erinnerte er sich noch, dann wurde er so unsanft durchgeschüttelt, dass seine Gedanken in tausend Fetzen zerstoben.
Nur die Panik blieb.
Und die Atemnot. Und der Geschmack nach Magensäure.
Die Spurensicherung hatte die Villa verlassen. Stattdessen hatte Günther von der Polizeistation in Königstein vorgeschlagen, einen Streifenwagen zur Überwachung des Anwesens abzustellen. Frank Hellmer war von dieser Idee wenig begeistert, denn falls Caspar oder Dorothea Bahl sich dem Haus nähern wollten, würde ein Streifenwagen sie womöglich abschrecken. Auch wenn Caspars DNA ihn nicht mit dem Tod von Frau Schuhmacher in Verbindung brachte, so war sie in diesem Haus schwer verletzt worden. Mindestens eines der beiden Geschwister war dringend verdächtig, an einer Straftat oder an deren Verdunkelung beteiligt zu sein, und die mutmaßliche Flucht der beiden verstärkte diesen Verdacht.
Am Ende hatte Günther selbst sich in seinem Zivilfahrzeug in der Nähe der Villa postiert. Er versicherte den Frankfurter Kollegen, dass er sich umgehend melden werde, sollte sich etwas tun. Doch weder Julia Durant noch Frank Hellmer glaubten daran, dass die Sache so einfach werden würde.
Als das Telefon dann doch klingelte, war es Andrea Sievers.
»Ihr werdet es nicht glauben«, sagte sie, »aber ich habe einen Treffer zwischen Bahls DNA und einem weiteren Mordfall.«
Julia richtete sich kerzengerade auf. »Bahls richtige DNA meinst du?«
»Ich meine, was ich sage«, antwortete Andrea mit aufgesetzter Empörung. »Dass wir da zuerst aufs falsche Pferd gesetzt haben, war ja nicht meine Schuld. Aber hört mal zu, denn das ist der Hammer! Ich habe da also den Mundabstrich von Caspar Bahl. Eine eindeutige Kiste, ihr habt das ja selbst und persönlich geregelt. Die DNA ging ins System, ein Abgleich mit Interpol, und siehe da: Es gibt da einen ungeklärten Mordfall. In Marseille, also in einem der Außenbezirke.«
Durant schnappte nach Luft. »Marseille? Wann?«
»Vor anderthalb Jahren etwa. Aber es kommt noch besser. Die Frau hat in einem Stripclub gearbeitet oder so, eben im anrüchigen Milieu. Das überlasse ich mal euch. Tot aufgefunden in einer abgelegenen Bucht, vermutlich wollte der Täter sie im Meer verschwinden lassen. Man geht den Akten nach von einem Sexualverbrechen aus, Vergewaltigung und Mord. An ihrer Kleidung wurde DNA gefunden. Und diese DNA deckt sich mit der von Bahls Wangenabstrich.«
»Moment«, meldete sich Hellmer. »Sie lag im Meer, und es gab DNA auf ihrer Kleidung?«
»Weit gefehlt.« Sievers lachte. »Er wollte sie wohl ins Wasser stürzen lassen, in einer abgelegenen Bucht. Es ist ihm aber nicht gelungen. Sie ist auf den Felsen aufgekommen, und vermutlich kam er dann nicht mehr an sie heran. Vielleicht war es ihm aber auch einfach egal. Wer sucht schon nach der DNA eines Toten?«
»Hmm.« Julia Durants Gedanken schrien wie eine Gruppe streitender Menschen aufeinander ein. Zu viele Fragen, zu viele Widersprüche, zu viele Ungereimtheiten. »Also war Caspar Bahl schon vor mindestens achtzehn Monaten in Europa. Warum? Und was hatte er vor?«
»Wollen wir vielleicht noch über die Verletzungen des Opfers reden?«, fragte die Rechtsmedizinerin.
»Klar!«
»Der Hinterkopf war zertrümmert, und sie wies schwere Würgemale auf.«
Hellmer schlug sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel. »Verdammt noch mal! Ich hab’s gewusst!«
Auch Julia Durant nickte langsam.
Das Bauchgefühl. Sie hatten es beide gespürt, aber sie hatten nicht darauf hören wollen. Können. Die Indizien sprachen eine andere Sprache, jedenfalls zeitweise.
Was nicht sein durfte, konnte auch nicht sein.
Nicole Geßler. Manuela Voss. Vivian Munz?
War das am Ende alles doch kein Zufall?
Dreißig Jahre. Was, wenn es da noch mehr gab?
Julia wurde schlecht.
Die Dämmerung fraß sich über die Konturen der Umgebung. In den entfernter liegenden Häusern gingen die Lichter an.
Günther hatte indessen die automatische Innenbeleuchtung seines Wagens abgeschaltet. Die Thermoskanne war leer. Der Filterkaffee zeigte seine Wirkung in doppelter Hinsicht. Seine Nerven waren angespannt, der Geist hellwach, und er musste pinkeln. Behutsam drückte er die Fahrertür ins Schloss und ging um das Auto herum. Im Schutz eines mannshohen Knallerbsenstrauchs erleichterte er sich. Während seine Hand noch an der Knopfleiste der Jeans herumfummelte, wanderte sein Blick über die Fassade der Villa. Finster lag sie da. Leblos. Es war ein Jammer, was sich in den letzten Tagen hier abgespielt hatte. Der alte Bahl, Günther hatte ihn gekannt, war kein einfacher Zeitgenosse gewesen. Ein Mann mit zu viel Macht und Einfluss, mit zu vielen Geheimnissen. Aber diesen Niedergang hatte die Familie nicht verdient. Jahrelang war es die Tochter gewesen, die als Einzige die Linie fortführen konnte. Doch ohne die Beteiligung eines Mannes war das nicht möglich. Und nun war letztlich der totgesagte Sohn wiedergekehrt, der aber nun als Mordverdächtiger galt. Und dann die Sache mit Eva Schuhmacher. Günther schüttelte sich.
Und da sah er es. Einen flüchtigen Lichtschein, der sofort wieder verschwand. Waren es nur die Nerven?
Er knöpfte sich die Hose zu, unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Jeder Streifenwagen, den er als Verstärkung anforderte, würde bei der Suche nach den Bahl-Geschwistern fehlen. Falls sein Verdacht auf Einbildung beruhte, wäre er eine Lachnummer. Ein Dinosaurier, den man aufs Abstellgleis schieben würde. Zu alt, zu wenig ambitioniert. Er hatte sich niemals woandershin versetzen lassen. War mit seiner seichten Karriere zufrieden gewesen. Wenn John Wayne sich im Fernsehen mit Banditen Feuergefechte lieferte, war ihm das Action genug. Aber falls sich nun doch jemand in der Villa befinden sollte, durfte er ihn nicht entkommen lassen. Aus denselben Gründen.
Die Gewissheit trat ein, als der Lichtschein ein weiteres Mal auftauchte. Dieses Mal wusste Günther, dass es keine Einbildung war.
Und er wusste außerdem, was er zu tun hatte.
Die Außenfassade des alten Polizeipräsidiums hatte zwei Weltkriege überstanden, selbst das Inferno der Bombardierung hatte das lang gezogene Gebäude relativ unbeschadet überstanden. Sämtliche der filigran gearbeiteten Glasfenster waren heil geblieben, vermutlich hatte man sie mit Brettern und Textil geschützt. Auch wenn man stadteinwärts pendelnd über die volle Länge an der Fensterfront und dem Haupteingang vorbeifuhr, nahm man es kaum wahr. Die bodennahen Öffnungen waren mit Holzplatten verschlossen. Die Zufahrt mit einem Gitter versperrt. Graffiti zierten die Flächen, aber das gehörte zum allgemeinen Stadtbild. Wer das Gebäude nicht suchte, der übersah es. Dass es sich durch diverse Anbauten um einen geschlossenen Häuserblock handelte, mit Innenhöfen, Parkplätzen und einer eigenen Tankstelle, wusste nur, wer dem Ganzen gezielt auf den Grund ging. Und spätestens dann fand sich auch der eine oder andere Zugang. Es war seit dem Umzug der Polizei kein Tag vergangen, an dem nicht irgendwo irgendjemand durch das Gebäude gestreift war. Offizielle Mieter, ein Boxclub, eine Disco, aber auch Landstreicher und die Drogenszene. Die Kriminalität des nahen Hauptbahnhofs hatte nicht lange gebraucht, um sich aus den Augen der Obrigkeit in das verlassene Gebäude zu verlagern.
Momentan war der Weg über das Gelände der benachbarten Matthäus-Kirche sein Favorit, von dort aus gelangte er über eine Bodenluke, die ins Untergeschoss führte, in den Innenbereich des Präsidiums. Er hatte sich außerdem zwei weitere Wege erschlossen, denn man musste damit rechnen, dass die Behörden hier neue Maßnahmen ergriffen, um dem illegalen Lost-Place-Tourismus oder sonstiger Nutzung des Gebäudes vorzubeugen. Zudem hatte der fast zwanzigjährige Leerstand der Bausubstanz erheblichen Schaden zugefügt, was allerdings hauptsächlich die Nebengebäude betraf, die nach dem Krieg an das Baudenkmal geklebt worden waren.
Dieses Mal allerdings hatte er das volle Risiko eingehen müssen. Zwei Zufahrten gab es. Einmal von der Friedrich-Ebert-Anlage, ein zwei Meter hohes Metalltor mit V-förmigen Streben, an denen Stacheldraht gespannt war. Die Graffiti auf der geschlossenen Fläche waren farbenfroh, der Blick nach innen versperrt. Kette und Vorhängeschloss sicherten die Torflügel. Jedes Eindringen würde von Dutzenden Autofahrern bemerkt werden, auch wenn es den meisten gleichgültig sein dürfte.
Die zweite Zufahrt befand sich auf der anderen Seite des Gebäudeblocks. Inmitten eines Klinkerbaus mit dreckiger orangeweißer Fassade und unzähligen Fenstern öffnete sich ein Schlund, Gittertor, Schranken und ein Pförtnerfenster. Hier, in der Ludwigstraße, war einst die Hauptzufahrt gewesen, und noch immer bot sich hier die unauffälligste Möglichkeit, mit einem Fahrzeug aufs Gelände zu kommen.
In den Fenstern des VW hafteten zwei A4 -Drucke, die den Wagen als »Gebäudesicherheit und Wachschutz« auswiesen. Eine Behelfslösung, für alle Fälle. Rot-weiße Aufkleber an den hinteren Kotflügeln, die an der Garagenwand geklebt hatten, um das Anstoßen der Türen abzufangen, rundeten das Bild ab. Kein Mensch würde es wagen, Fragen zu stellen. Niemand würde ihn stören. Aber auch hier interessierte sich keiner der wenigen Passanten auch nur im Entferntesten für ihn. Minuten später hatte er den Innenhof erreicht und das Tor wieder geschlossen. Er bewegte den Wagen an der ehemaligen Tankstelle vorbei, von der nur noch das Dach erhalten war. Eine prächtige Fünfzigerjahre- Kulisse, doch für derartige Ausschweifungen war jetzt keine Zeit. Stunde um Stunde hatte er in den letzten beiden Tagen hier verbracht.
Schmerzhafte Erinnerungen durchlebt und diabolische Zukunftspläne geschmiedet. Jetzt war es so weit.
Günther stand vor der Haustür. Sie war abgeschlossen, das hatte er nicht anders erwartet. Von hier vorne konnte keiner gekommen sein, das hätte er gesehen. Er schlich die Stufen wieder hinab und erreichte einen mit Kieselsteinen gestreuten Weg, der um das Gebäude führte. Statt auf den Steinen tappte er über das Gras, um keine Geräusche zu machen. Lauschte angespannt, ob aus dem Hausinneren etwas zu hören war. Doch er sah kein weiteres Leuchten und hörte nur den eigenen pochenden Herzschlag.
Günther erreichte die Terrasse. Duckte sich und schlich unter dem aufgeschütteten Plateau vorbei. Nach etwa zwanzig Metern verschluckte ihn der Gebäudeschatten. Keine Straßenleuchte, kein Außenlicht, die Sichel des zunehmenden Mondes war noch viel zu schmal, um eine nennenswerte Strahlkraft zu besitzen.
Dann stand er vor der Nebentür. Ein Zugang, der von der Küche in Richtung Kräutergarten führte. Das Reich von Frau Schuhmacher, ehe man sie ins Reich der Toten befördert hatte. Günther überkam ein Schauer. Die Tür stand sperrangelweit offen. Im Inneren ein Geräusch, dann ein Lichtreflex.
Er fasste sich ein Herz und trat ein. Die Dienstwaffe, mit der er zeit seines Lebens ausschließlich auf dem Schießstand geschossen hatte, lag in seiner warmen Dreizimmerwohnung, wo sie in den vergangenen Jahren so oft gelegen hatte. Eigentlich meistens. Seine rechte Hand klammerte sich um die Taschenlampe, die er aus dem Auto mitgenommen hatte.
Er scheute sich, sie einzuschalten, weil das grelle Weiß der LED ihn sofort verraten hätte. Stattdessen ein mutiger Schritt über die Schwelle. Wie John Wayne, der in den Saloon trat. Unwissend, wie viele Gewehrläufe im Inneren auf ihn gerichtet sein würden. Am Ende war es egal. Denn John Wayne stand immer als Letzter und bekam seinen Whiskey.
Whiskey. Günther konnte ihn förmlich schmecken.
Doch das warme Brennen in der Kehle blieb aus.
Als der Schattenmann am anderen Ende der Küche auftauchte und Günther begriff, dass er sich in seinem Fluchtweg befand, wurde er steif und kalt. Die Lampe rutschte ihm aus schweißnasser Hand, er taumelte und suchte geistesgegenwärtig einen Lichtschalter. Schritte polterten, die Deckenlampe flammte auf, der Fremde stand nur noch eine Armlänge von ihm entfernt. Als die beiden Männer einander in die Augen sahen, froren ihre Bewegungen ein.
Wie zwei Schüsse bei einem Duell platzte dasselbe Wort zeitgleich aus beiden Mündern.
»Sie?!«
»Müssen wir jetzt noch mal dahinfahren?«, stöhnte Hellmer und warf einen Blick auf die Uhr.
Er fühlte sich abgeschlagen und war genervt. Die Wellen, die die Ermittlung schlugen, wurden immer höher. Dabei sehnte er sich nach ein paar freien Stunden, einer Nacht ruhigem Schlaf.
Einer Nacht mit seiner Frau.
»Weiß nicht«, brummte Durant, die die Hand über den Hörer gelegt hatte.
»Geht es Günther denn gut?«
»Ich denke schon.« Sie nickte. »Er würde, glaube ich, gerne mit dir sprechen.«
Hellmer nahm den Hörer entgegen und räusperte sich. »Ich hab gedacht, du wolltest es langsamer angehen?«
»Witzbold. Ich war voll mit Kaffee und hab bis zum Schluss gedacht, dass ich’s mir nur eingebildet hab. Und dann steht dieser Jungspund plötzlich vor mir und gafft mich an.«
Hellmer wusste bereits, wen Günther damit meinte. Aber er verstand noch immer nicht, was das zu bedeuten hatte.
»Noch mal für langsam denkende Frankfurter Kommissare, okay?«, hakte er nach. »Du bist also ohne jede Verstärkung in die Villa gegangen und hast …«
Günther fiel ihm scharf ins Wort. »Ich habe eine verdächtige Bewegung gesehen und bin diesem Verdacht nachgegangen, um Gewissheit zu erlangen. Dass mir dann ausgerechnet dieser schmierige Anwalt in die Arme läuft …«
»Axel Kammer.«
»Genau. Dieses Früchtchen. Er beteuert zwar, dass er nur im Sinne seiner Mandanten handeln würde. Aber die Aktentasche mit dem Familienschmuck spricht da eine andere Sprache.«
»Du glaubst, er wollte die Bahls bestehlen?«
»Er wollte nicht, er hat.«
Hellmer beäugte seine Kollegin, die über Lautsprecher mithörte und sich nun zu Wort meldete: »Könnte es nicht auch sein, dass er die Wertgegenstände im Auftrag von Caspar geholt hat? Um diesem eine erneute Flucht zu ermöglichen?«
Günther prustete. »Na. Man hat schon Pferde kotzen sehen!«
Durant rollte die Augen, während Hellmer kicherte.
»Lassen Sie ihn hierher ins Präsidium bringen«, verlangte Hellmer. »Und niemand soll diese Tasche anfassen!«
»Ich werde mich hüten«, antwortete Günther. »Wobei ich diese Mauser mal an mich genommen habe. Sicherheitshalber.«
»Welche Mauser?«
Vor Hellmers Auge zeichnete sich das eingängige Bild der vielleicht bekanntesten deutschen Pistole ab, die es je gegeben hatte. Eine Selbstladepistole mit dem markanten, schräg nach hinten verlaufenden Griff. Meist bezeichnet als Luger, benannt nach ihrem Entwickler. Während der Nazizeit hauptsächlich in den Mauser-Werken in Oberndorf am Neckar produziert. Daher auch die Bezeichnung, die Günther verwendet hatte.
»Eine P08 «, fuhr dieser fort, und seine Stimme klang aufgeregt. »Kammer sagt, er habe sie im Safe gefunden. Sie gehörte sicherlich dem alten Bahl. Vielleicht auch schon dessen Vater. Jedenfalls ein seltenes Überbleibsel aus dem Krieg und in einem hervorragenden Zustand. Sammler würden dafür sicher einen ganzen Batzen …«
Julia Durant brach Günthers Schwärmerei ab: »Kann ich bitte mit Kammer sprechen? Jetzt? «
Hellmer kniff die Augen zusammen. Konnte das nicht wenigstens so lange warten, bis er im Präsidium war?
Axel Kammer atmete schnell, so viel konnte man durchs Telefon hören. Julia Durant sagte ihm das auf den Kopf zu: »Sie klingen aufgeregt.«
»Das wären Sie in meiner Situation auch.«
»Ich breche nicht in fremde Villen ein.«
Kammer lachte auf. »Ich bin nicht eingebrochen. Ich bin immerhin der Anwalt von …«
»Ja, von wem denn eigentlich nun? Wollten Sie für Caspar Dorotheas Safe leeren? Befinden Sie sich da nicht genau in dem Gewissenskonflikt, den Sie erst kürzlich geleugnet haben?«
»Äh, nein. Ich habe hauptsächlich Unterlagen geholt. Und genau genommen ist es der Familiensafe und nicht allein der von Dorothea Bahl.«
»Günther hat Schmuck erwähnt. Und eine Pistole.«
»Ja. Das auch. Gottlieb Bahl besaß zwei alte Schießeisen, aber ich hab nur eines davon im Tresor gefunden. Keine Ahnung, was mit der anderen Luger passiert ist. Es war das gleiche Modell wie das, das ich an mich genommen habe. Hauptsächlich ist es mir aber um gewisse Dokumente gegangen.«
»Und was genau wäre das?« Durant dachte nach. Ein Testament? Konnte es sein, dass es noch andere Verfügungen gab, nicht nur jene, von denen sie bereits wusste? Und irgendwer lief jetzt mit einer historischen Pistole herum.
Axel Kammer schwieg. Sie hörte ihn atmen, doch er sagte nichts. Sie vernahm Stimmen im Hintergrund, verstand jedoch nicht, worum es ging. Streifenwagen waren vor der Villa eingetroffen. Beamte hatten alles abgesperrt und würden nicht mehr weichen, bis die Sache geklärt war. Alles Diskrete gehörte der Vergangenheit an. Jetzt galt nur noch eines: Wo waren die beiden Bahls?
»Hören Sie!«, sagte Kammer leise.
Durant wäre zwischenzeitlich um ein Haar geplatzt vor Anspannung. Sie spürte den Schweiß auf der Stirn. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, den Anwalt von Angesicht zu Angesicht zu vernehmen. Doch offenbar hatte er noch etwas zu sagen.
»Ich höre.«
»Es ist wegen Dorothea. Sie wollte … heiraten.«
»Dorothea?« Das Gedankenkarussell kreiselte, immer wieder kamen brauchbare Fetzen zum Vorschein. Die Gesetzesänderung war seit Oktober 2017 in Kraft:
Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.
Das Testament des alten Bahl stammte aus einer Zeit lange davor. »Heiratet sie eine Frau?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Na ja, erklären Sie es mir!«
»Dorothea muss einen Mann heiraten, ob es ihr gefällt oder nicht. Vor einigen Monaten ist sie mit der Idee zu mir gekommen.«
»Können Sie das eingrenzen?«
»Na ja, im Herbst oder so. Frau Conrad wird das herausfinden können.«
»Haben Sie über die andere Option nie geredet?«
»Die mit zwei Frauen? Nein, vergessen Sie’s! Da sind der alte Bahl und mein Schwiegervater schon auf Nummer sicher gegangen, als sie das Testament aufgesetzt haben.«
»Hmm. Okay, dann bitte weiter.«
»Dorothea und ich haben, wie gesagt, Vorbereitungen für eine Hochzeit getroffen. Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber das Ganze schien ihr nie sonderlich eilig zu sein. Im Gegenteil. Sie wirkte nicht glücklich damit, wollte es aber durchziehen.«
»Um dem Testament nach als Alleinerbin dazustehen.«
»Drastisch gesagt. Ich sage es mal anders: um Fakten zu schaffen. Mit einer standesamtlichen Bescheinigung wäre der erste Schritt erfüllt. Deshalb wunderte es mich auch nicht, dass sie die Sache nun zügig vorantreiben wollte.«
»Weil Caspar wieder aufgetaucht ist.«
»Exakt. Sobald seine Identität amtlich festgestellt und bestätigt ist, kann er ihr da gehörig in die Parade fahren.«
»Verstehe ich trotzdem nicht. Die Hälfte ist doch immer noch genug.«
»Aber solange niemand anderes da ist – oder anspruchsberechtigt ist –, bestimmt Dorothea über alles. Wir reden von Kunst, von Einzelstücken, vielleicht auch von Gegenständen, die zweifelhafter Herkunft sind. Das kann man nicht alles gerichtlich klären.«
»Dorothea wird ja wohl schlau genug gewesen sein, solche Dinge von der Bildfläche verschwinden zu lassen.«
»Dorothea hatte überhaupt keinen Grund, so etwas zu tun! Bis vor ein paar Tagen glaubte sie noch, sie sei die einzige noch lebende Bahl der Familie.«
»Wen wollte sie denn überhaupt heiraten?«, fragte Durant abrupt.
Kammer brummelte etwas. »Was weiß ich. Kenne den Typen ja nicht mal. Irgendein Allerweltsname, warten Sie, so wie der Bayern-Spieler. Thomas Müller. Nein, Halt. Lukas.«
»Podolski?«, rief Hellmer aus dem Hintergrund.
»Quatsch. Müller! Lukas Müller.«
Julia Durant und Frank Hellmer sahen einander wie versteinert an.
Die Dunkelheit hatte ihn wieder.
Dafür konnte er die Zehen spüren. Nackte Füße auf kaltem Untergrund. Er fasste sich ins Gesicht. Mit einem kehligen Geräusch brachte er seine Verwunderung zum Ausdruck, dass ihm diese reflexartige Geste überhaupt gelungen war.
Er war frei! Nun, wenigstens auf die zuvor gefesselten Extremitäten traf dieser Euphemismus zu. Denn die Dunkelheit blieb.
Er versuchte sich zu erinnern. Der Kofferraum. Zusammengerollt. Fesseln und ein Knebel. Er hustete und streckte die Zunge heraus. Frei . Kein speichelnasser Stoffballen mehr, der ihm auf die Zunge drückte. Er saß auf einer Bank. Mitten im Nichts. Das Rauschen der Straße klang, als läge es nur noch fern am Horizont. Genau wie das Licht. Ein fahles Schimmern. Ganz hoch oben. Glasbausteine. Ein muffiger Geruch.
Der Schlag auf den Kopf. Hatte er sich das nur eingebildet? War der Kofferraum eine Täuschung, ein Traumbild? Er versuchte mit aller Kraft, sich zu erinnern. Fahrgeräusche. Holpern. Anhalten. Wieder losfahren. Langsame Kurven. Der Motor erstarb. Eine Autotür. Das Klacken im Schloss. Helles Licht. Schatten. Schmerz.
Wenn aber in diesem Schmerz das Erwachen gelegen hatte, am Ende seines Traumes, wie war er dann hierhergekommen?
Der Schotter. Die Villa. Befand er sich immer noch dort? Hier? In seinem Elternhaus?
Caspar Bahl rieb sich die Schläfen. Das Klopfen hinter der Schädeldecke kam einem Presslufthammer gleich. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, ohne dass ihm Fantasiebilder dazwischenfunkten. Oder der Schmerz ihn am Weiterdenken hinderte.
Der geheime Raum. Nur er und seine Schwester wussten von ihm. Und …
Sein Oberkörper krampfte nach vorn, und er erbrach sich auf den kalten Boden.
Julia Durant spielte nervös mit den Fingern. Sie hatte Doris Seidel verständigt und sie über alles informiert. Diese saß nun ebenfalls mit im Büro, während man überall sonst im Präsidium den Feierabend einläutete.
»Axel Kammer kommt trotzdem hierher?«, wollte die neue Chefin wissen.
Hellmer nickte: »Der wird noch eine Menge zu erklären haben.«
Durant pflichtete ihm bei. »Den letzten Kontakt mit Caspar Bahl hatte er gestern Abend. Kammer meinte, seit diesem Treffen wusste Bahl auch von der geplanten Hochzeit.«
»Hat er sich verplappert«, fragte Seidel und rieb sich das Kinn, »oder hat er es am Ende sogar absichtlich ausgeplaudert?«
»Das werden wir bis ins Detail aus ihm herauskitzeln müssen«, antwortete Hellmer. »Aber solange wir die Bahls nicht zu fassen kriegen …«
»Und diesen Dennis Schäfer alias Lukas Müller!«, schnaubte Durant und ballte die Faust. »Das setzt dem Ganzen echt die Krone auf! Warum haben wir das nicht gewusst? Wo hat dieser Kerl sich die ganze Zeit über aufgehalten? Irgendwo in der Villa?«
»Viel wichtiger«, schloss Doris Seidel, »ist die Frage, wo Schäfer/Müller jetzt ist.«
Die Stille machte ihn wahnsinnig.
Wen man es genau betrachtete, waren es die dumpfen Geräusche, die aus unerreichbarer Ferne zu hören waren. Der Widerhall seiner eigenen Bewegungen. Es war ein nackter Raum mit glatten Fliesen. Über drei Meter hoch, aber nicht viel mehr als einen Meter breit. Elf Kacheln, um genau zu sein. Hochkant. In der Höhe seines Kopfes ein schmaler Absatz mit Glasbausteinen. Draußen war es dunkel. Nur wenig Licht fiel herein, und die Verzerrungen im Glas ließen keine Objekte auf der anderen Seite erkennen. Die gemauerte Pritsche war schmal. Dreimal hochkant. Dafür umso länger. Kaltes, abgeriebenes Holz. Keine Toilette, kein Waschbecken. Nur eine rostige Tür, an der er sich bereits die Handballen taub geschlagen hatte. In unerreichbarer Höhe quoll Bauschaum aus einer Öffnung. Er konnte das Lösungsmittel noch riechen. Jemand musste ihn erst kürzlich dort hineingespritzt haben.
»Schreien ist zwecklos.«
War es sein Traum, in dem er das Zischen der Stimme gehört hatte? Oder gehörte all das zu einer Realität, die er nicht begriff?
Es war kein Geheimnis, dass Caspar noch nie eine Gefängniszelle von innen gesehen hatte. Reichen Menschen passierten solche Dinge in der Regel nicht. Das Geld bot ihnen stets einen Ausweg, um Dinge auf andere Weise zu regeln. Doch das hier war eine Zelle. Und die Dunkelheit, die Enge, die Ungewissheit und der Geruch nach Erbrochenem machte das Ganze zu seiner persönlichen Hölle.