N och am selben Tag wurde Dorothea Bahl aus einem Geheimraum in ihrer eigenen Villa befreit. Dennis Schäfer hatte noch im Streifenwagen einen hysterischen Zusammenbruch erlitten. Nun schien es ihm darum zu gehen, den Schaden zu minimieren. Offenbar versetzte ihn allein der Gedanke an eine erneute Inhaftierung in Panik.
Dorothea war schwach, aber stabil. Im Gegensatz zu Schäfer machte sie von ihrem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern. Stattdessen verlangte sie nach ihrem Anwalt. Hellmer hielt es für fraglich, ob das langfristig Axel Kammer bleiben konnte. Doch die Frage, ob und wie häufig er sein Berufsethos verletzt hatte, mussten andere Instanzen klären. Und auch ohne ein Geständnis von Frau Bahl würden ihr Konsequenzen drohen. Zumindest wegen der Mittäter- oder zumindest Mitwisserschaft rund um die Ereignisse, die sich vor und nach Eva Schuhmachers Tod abgespielt hatten.
In dem Geheimraum der Villa Bahl wurden außerdem verschiedene Kunstobjekte sichergestellt, deren Herkunft zweifelhafter Natur war. Aber auch um diese Dinge sollte sich jemand anders als die Mordkommission kümmern.
Nachmittags führte Julia ein langes Telefonat mit Claus Hochgräbe. Sie war ein wenig verwundert, dass die Reisegruppe schon jetzt an der Côte d’Azur eingetroffen war.
»Das lange Fahren strengt Clara mehr an als erwartet«, erklärte er. »Hier in Susannes Haus haben wir den perfekten Ort gefunden. Und je nachdem, wie sich die Dinge entwickeln, können wir immer noch mal durchstarten.«
Julia hörte es in seiner Stimme. Er war tapfer, keine Frage. Aber er wusste auch, dass es kein Durchstarten mehr geben würde.
»Ich komme, sobald ich hier wegkann«, versprach sie. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Sie schwiegen.
»Hat Doris sich es schon in meinem Büro bequem gemacht?«, fragte er, bevor die Stille drückend wurde.
Julia musste lächeln. »Ich glaube, der orthopädische Chefsessel wird ihr gut stehen. Auch ohne Rückenprobleme.«
»Die Verspannungsschmerzen kommen da von ganz alleine, glaub mir.«
Julia nickte. Sie wusste es.
»Ach ja«, fragte Claus weiter, »was wird nun eigentlich aus Tiana Ganev?«
Julias Lächeln verflog. »Ich habe sie noch nicht aufgesucht. Keine Zeit.«
»Hmm. Ich glaube, sie wird Frankfurt verlassen. Früher oder später.«
»Ich kann es ihr nachfühlen.« In einer Stadt, in der man sich als Prostituierte feilgeboten hatte und wo der Partner einem Bandenmord zum Opfer gefallen war, der vermutlich niemals aufgeklärt werden würde … wer wollte so leben? Und Julia Durant hatte keinen Zweifel daran, dass Tiana über ein entsprechendes Geldpolster verfügte.
Mehr brauchte sie nicht zu wissen.
Die erste Dienstbesprechung, bei der das gesamte Team (inklusive Peter Kullmer, außerdem Charly Abel, Benni Tomas und Andrea Sievers) anwesend war, fand am drauffolgenden Montag statt. Der erste Arbeitstag eines neuen Monats, der ein neues Zeitalter einläuten würde. In welchem Maße, das konnte in diesen Tagen noch keiner von ihnen einschätzen. Auf den Fall bezogen allerdings hatten sich bereits einige Entwicklungen ergeben, und es gab so manche Frage, über die man sich noch nicht im offiziellen Rahmen ausgetauscht hatte.
»Wie genau war das noch mal mit dem Handy?«, hatte Andrea Benny schon gefragt, bevor die Besprechung losgegangen war.
»Caspar Bahl hat es von der getöteten Vivian Munz. Vermutlich, weil sein Name oder ein Foto darauf zu finden waren. Er hat ja so manches getan, um seine Spuren zu verwischen. Dass es dann ausgerechnet als sein Lebensretter fungierte …« Benny hob die Achseln. »Manchmal geht das Schicksal sonderbare Wege.«
Julia Durant war bei den beiden stehen geblieben. In der Hand eine leere Kaffeetasse, die nach neuem Inhalt dürstete.
»Doppelt sogar«, hörte sie Andrea Sievers sagen. »Auf dem Bettlaken haben sich tatsächlich ein paar wenige Hautschuppen gefunden, die ich Caspar Bahl zuordnen konnte. Es macht die arme Vivian zwar leider nicht wieder lebendig, aber am Ende hat sie ihren Mörder doch noch zur Strecke gebracht.«
»Bahl war demnach schon seit mehreren Wochen hier«, schloss Durant. »Er ist irgendwo untergekommen, leider können wir ihn nicht mehr fragen, wo das war. Hat in aller Ruhe seine Rückkehr vorbereitet und ist dann, bevor er sich offiziell zurückmeldete, nach Zittau gefahren. Sein Anwalt war ja wirklich dorthin unterwegs, wenigstens das können wir belegen.«
»Klingt nach einem Plan, nur leider war Bahl gleichzeitig so bescheuert, sich bei einer Nutte zu vergnügen.« Uwe Liebig war an die kleine Gruppe herangetreten. Seine Handfläche wischte vor dem Gesicht hin und her. »Hätte er damit nicht noch ein paar Tage warten können?«
»Vielleicht kam er sogar deshalb erst auf die Idee mit Polen«, erwiderte die Kommissarin. »Alibibeschaffung. Vermutlich ist ihm die Zeit einfach lang geworden. Könnte ja sein, dass Bahl erst noch die Hochzeit seiner Schwester aussitzen wollte.«
Sievers kniff die Augenlider zusammen. »Dann muss er aber informiert worden sein. Der Anwalt?«
»Hoffentlich werden wir das jemals erfahren.« Julia Durant blies die Backen auf und schnaufte. »Herr Kammer und Frau Bahl haben sich ja leider dazu entschieden, sämtliche Kooperation zu verweigern. So viel zum Thema ›volle Unterstützung‹.«
»Hmm.« Frank Hellmer hatte sich ebenfalls bei der Gruppe eingefunden. »Und was wird aus diesem Schäfer? Kann er uns nicht bei den offenen Fragen helfen?«
Julia Durant hatte am Wochenende mehrere Stunden bei Schäfer verbracht. »Das erzähle ich euch gleich in der großen Runde.«
Sie wechselten ins Konferenzzimmer, füllten sich ihre Tassen und Becher und nahmen Platz. Danach trat die Kommissarin nach vorne und fasste die Erkenntnisse nüchtern zusammen.
Dennis Schäfer war über Jahre hinweg der Mann fürs Grobe gewesen. Der Schmuggel von Kunstobjekten, kleinere und größere Hehlereien, dazu diverse Reisen. Alles hinter dem Rücken von Bahl senior und Dorothea. Eines Tages war Caspar in angespannter Stimmung auf ihn zugekommen. Er müsse verschwinden, und es müsse endgültig aussehen. Er stellte ihm eine große Summe Geld in Aussicht. Hier war Schäfer recht vage geblieben. Dafür müsse er Bahls Jaguar im Rhein versenken. Es solle wie ein Selbstmord aussehen. Von der Toten im Kofferraum habe er nichts gewusst. Dass Caspar Bahl am Abend zuvor Manuela Voss ermordet hatte, ebenso nicht. Er sei nur der Handlanger gewesen – wie immer –, und Bahl habe ihn genau instruiert, was er sagen dürfe und was nicht. Auch eine kurzzeitige Inhaftierung sei möglich. Deshalb ja das viele Geld. (Auch hier: keine weiteren Details.) Aber dann, in der Haft, überrollte die Familie ihn mit Gutachten. Plötzlich war er schuldig. Die untergeschobenen Handys. Medikamente, die ihm verabreicht wurden. »Sie haben mich kaputtgemacht. Gebrochen.« Irgendwann habe er sich eingestehen müssen, dass er gegen die Übermacht nicht ankam. Er gab auf. Verlor sich in Fantasiewelten. Hielt sich am Leben und wartete, dass seine Haftzeit zu Ende ging.
»Dann tauchte er eines Tages bei Dorothea Bahl auf«, schloss die Kommissarin. »Ihr muss das Herz bis in die Kniekehlen gerutscht sein, als sie ihm gegenüberstand. Dem Mann, der nicht zuletzt wegen ihrer Aussage fünfzehn Jahre in den Knast gewandert war. Jetzt war er da. Ohne dass es irgendjemand wusste. Mit einem neuen Namen und einem Plan, der ihm selbst eine ansehnliche Entschädigung einbrachte – nämlich fünfzig Prozent des Familienvermögens. Das forderte er ein. Dorothea fiel es womöglich gar nicht so schwer, darauf einzugehen, denn seine Hochzeit mit ihr würde sie ja ebenfalls zur Erbin machen. Nicht nur den Pflichtteil, keine Verwaltung. Alles. Das Testament muss Schäfer gekannt haben. Vielleicht von Caspar, vielleicht anderswoher. Doch Dorothea hielt ihn hin. Wochenlang. Und er hauste derweil in dieser Geheimkammer, von der außer den Geschwistern keiner etwas wusste. Er setzte Dorothea unter Druck. Der Justizskandal, die falschen Gutachten, das hätte dem Ansehen der Bahls den Todesstoß versetzt. Also spielte sie mit, oder gab es zumindest vor. Ob sie ihn jemals geheiratet hätte, ist fraglich. Axel Kammer hat ihr offenbar dabei geholfen, das Ganze in die Länge zu ziehen. Der bittere Preis dafür war, dass sie Schäfer in ihrem eigenen Haus ausgeliefert war. Er wollte sich nicht sehen lassen, von niemandem. Und Dorothea war ihm vermutlich hörig, sei es aus schlechtem Gewissen oder aus dem Kalkül heraus, dass es sich am Ende für sie rechnen würde. Dann kam Frau Schuhmacher ins Spiel. Sie muss die beiden überrascht haben, und wir wissen alle, was ihr danach zugestoßen ist. Ein harter Schlag, der Treppensturz und schließlich das Feuer, um alles zu vertuschen. Schäfer konnte es sich nicht leisten, entdeckt zu werden. Und Dorothea Bahl leistete ihm die entsprechende Hilfe.«
Frank Hellmer schüttelte den Kopf. »Kapiere ich trotzdem nicht. Ein Anruf bei der Polizei, und sie hätte ihn losgehabt.«
Durant hob die Schultern. »Dann wäre die Heirat vom Tisch gewesen. Außerdem hatte sie vermutlich ein schlechtes Gewissen, weil ihre Aussage damals maßgeblich zu Schäfers Verurteilung beigetragen hat.«
Andrea Sievers hob die Hand. »Das verstehe ich jetzt wiederum nicht. Was hat sie denn genau gesagt?«
»Sie hat bestätigt, dass Schäfer ihren Bruder bedroht hat. Steht in den Akten. Sie hat nicht nur behauptet, dass ihr Bruder Angst hatte, sie hat es auch dramatisch ausgeschmückt. Schon bei der Vermisstenmeldung hat sie erwähnt, sie glaubt, dass ihm durch Schäfer etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte. Entweder hat Bahl sie instruiert, oder sie tat es, weil sie wirklich Angst um ihren Bruder hatte. Aber das Endergebnis blieb gleich.«
»Gut.« Andrea schien noch nicht ganz zufrieden. »Aber weshalb hat er diesen Messerstecher umgebracht?«
»Ein fataler Zufall«, bestätigte Durant. »Im Gegensatz zu Bahl konnte Schäfer sich ja in der Öffentlichkeit zeigen. Selbst bei einer Polizeikontrolle hätte ihm nicht viel passieren können, es sei denn, man hätte seine DNA genommen. Dann wäre aufgefallen, dass er es war, der damals statt Bahl zu dem Reihentest gegangen ist. Dann geht er am Mainufer entlang und wird ausgerechnet von diesem Taschendieb attackiert. Er hat es wahrscheinlich gar nicht mitbekommen, dass sein Blut auf den Mantel spritzte. Er entsorgte das Messer und sah zu, dass er aus dem Sichtfeld gelangte. Sein gesamter Plan schien zu wackeln. Sein Vertrauen in die Justiz war zerstört. Im Nachhinein betrachtet vielleicht eine überzogene Reaktion, ein extrem unglücklicher Affekt, das wird die Verhandlung erst zeigen. Aber in diesem speziellen Fall … Jedenfalls haben wir Schäfers DNA auch bei Frau Schuhmacher gefunden. Deshalb hat er sich vielleicht auch zu einem umfassenden Geständnis entschieden. Im Gegensatz zu damals, wo er von seiner Unschuld überzeugt war und es ihm nichts geholfen hat, weiß er heute, dass er schuldig ist.«
»Zwei Tötungsdelikte also«, murmelte Charly Abel und fuhr sich über den Kopf. »Für jemanden, der unschuldig für einen Doppelmord gesessen hat, ja fast schon eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.«
Uwe Liebig lachte auf. »Am Ende glaubt er, dass er die Haftzeit darauf anrechnen kann.«
Alle im Raum wussten, dass das nicht passieren würde. Ein Gesetz, das einen sogenannten Freischuss erlaubt, gibt es im deutschen Rechtssystem nicht. In der Praxis würde es vermutlich so ablaufen, dass Dennis Schäfer für die Verurteilung an den Doppelmorden Bahl/Voss eine Haftentschädigung zugesprochen bekam. Anschließend würde er für seine Beteiligung an den beiden anderen Fällen verurteilt werden.
Ob Mord oder Totschlag vorlag, darüber mussten am Ende die Gerichte befinden.
Als Nächstes berichtete Andrea Sievers über die Kooperation mit der französischen Polizei und Interpol. Womöglich war Bahl nach vielen unbeschwerten Jahren in Südostasien nach Europa zurückgekehrt. Am Ende seiner finanziellen Mittel, so die Vermutung. Ob er schon in Frankreich den Entschluss gefasst hatte, nach Deutschland zurückzukehren, konnte man noch nicht sagen. Ebenso wenig, ob es in Fernost weitere Sexualdelikte mit Todesfolgen gegeben hatte. Für Caspar Bahl schien es nur eine Form von Sexualität zu geben: dominant, mit einem hohen Gewaltpotenzial. Es gab nicht wenige Männer, die ihre Lust maximierten, indem sie Frauen schlugen oder ihnen die Luft abschnürten.
Vor wem aber würde Caspar Bahl Rechenschaft ablegen müssen, falls er nicht mehr aufwachte? Oder zumindest nicht prozessfähig war? Würden seine Morde ungesühnt bleiben?
Wie sehr sich Julia Durant in diesem Augenblick nach ihrem Vater sehnte. Ein Gespräch mit dem Pastor über diesen Fall. Nur ein einziges Telefonat. Niemals mehr wäre das möglich. Doch bevor sie an die Côte d’Azur aufbrach, würde sie einen Zwischenstopp in München einlegen und das Grab ihrer Eltern besuchen.
Doris Seidel hatte nicht lange Zeit, um sich an ihre neue Position zu gewöhnen. Am dritten März erreichte sie der Anruf ihres Mannes.
Sie musste lächeln. Immerhin waren die beiden erst vor einer Stunde vom Mittagessen aufgestanden und gemeinsam zurück ins Präsidium gefahren. »Hast du schon wieder Sehnsucht nach mir?«
»Immer. Aber dieses Mal ist es dienstlich.«
Doris horchte auf. Peters neue Abteilung befasste sich mit sexueller Gewalt. Das bedeutete, dass immer, wenn er sich künftig bei ihr meldete, etwas Schlimmes geschehen war. Kein schöner Gedanke, wie sie fand.
»Erzähl!«
»Du solltest besser bei uns vorbeikommen.«
Doris legte auf und nahm den Aufzug. Auf dem Weg zu den Räumen des K13 begegnete sie Charly Abel, dem sie sich anschloss. Peter saß vor einem Computermonitor. Er wirkte erschüttert.
Er winkte sie zu sich und scrollte und klickte dann mit der Maus.
Doris erreichte ihn, streichelte ihm über die Schulter und sah auf den Bildschirm. Zwei Männer.
Verdammt! Die Erkenntnis traf die Kommissariatsleiterin wie ein Schlag. Plötzlich war alles wieder da. Die Nidda-Brücke. Der alte Flugplatz. Das Dickicht. Flaschenklirren und Männerstimmen.
»Was ist …«, keuchte sie, während sie mit der Hand nach der Tischkante griff.
Peter sah sie an. Zögerte kurz und sagte dann: »Man hat sie am Flugplatz Bonames gefunden. Am Ende der Rollfelds. Jemand hat sie dort festgebunden und ihre Genitalien mit einem Kabelbinder abgeschnürt.«
»O Gott!« Ein Gedankensturm brach in ihrem Kopf los. Drei Männer. Zwei Opfer. »Was ist mit dem Dritten?«
Peter schüttelte den Kopf. »Ich weiß selbst noch nichts Genaueres. Charly hat sie anhand der Phantombilder identifiziert. Er sagt, das seien die Kerle, die Mia Busold vergewaltigt haben. Du bist ihnen doch auch begegnet, relativ genau dort, wo man sie jetzt vorgefunden hat.«
Doris nickte nur.
Alles Weitere, was ihr Mann im Folgenden von sich gab, nahm sie nur noch als verwaschene Laute wahr.
Drei Männer, dann zwei, bleibt einer, dachte sie. Und hinter der Stirn glaubte sie, wie eine ihr wohlbekannte Stimme selbstverliebt zu lachen begann.
Uwe Liebig.
Mit diesem Gedanken musste sie erst einmal klarkommen.
Nein. Einen sanften Start hätte sie sich wahrlich anders vorgestellt.
Julia Durant führte zeitgleich ein längeres Telefonat mit Roland Geßler. Sie war zu müde, um ihn persönlich zu besuchen, vielleicht war es auch eine gewisse Scheu. Nicht noch ein Mensch, dem sie von ihrer Kraft abgeben musste. Ihre Reserven mussten erst einmal gründlich aufgefüllt werden.
»Ich habe es schon gelesen«, sagte Geßler, nachdem sie sich mit ihrem Namen gemeldet hatte. »Dieser Bahl ist noch am Leben. Er ist zurück.«
Geßler stockte, und Durant übernahm das Wort: »Es ist noch eine ganze Menge mehr passiert. Ich darf Ihnen nicht alle Details nennen, aber Sie haben die Wahrheit verdient. Bahl hat nicht nur Nicole getötet, er hat noch weitere Frauen auf dem Gewissen. Deshalb ist er damals untergetaucht. Aber all seine Lügen, die Leute, die er missbraucht hat, das alles hat ihn am Ende eingeholt.«
»Wie meinen Sie das?« Geßler atmete schwer. »Ist er etwa …«
»Tot?« Durant schluckte. Sie hatte sich in der Klinik erkundigt. Caspar Bahl befand sich im tiefen Koma, und es klang eher unwahrscheinlich, dass er wieder aufwachte. Er würde stattdessen in jener geistigen Vorhölle dahinvegetieren, die man bei Patienten in seinem Zustand vermutete. So jedenfalls stellte Julia es sich vor. »Tot vielleicht nicht«, sprach sie weiter. »Aber er wird nie, nie wieder einen anderen Menschen quälen.«
Eine längere Pause entstand. Geßler weinte leise, das war nicht zu überhören, auch wenn er sich vermutlich größte Mühe gab, es zu verheimlichen.
»Glauben Sie an Gott?«, fragte er wie aus dem Nichts.
»Ja.«
»Wie können Sie das angesichts all der Dinge, die Sie tagtäglich sehen?«
»Mein Vater war Pastor. Er hat mir immer dabei geholfen, zurückzufinden. Weshalb fragen Sie?«
»Glauben Sie, dass Caspar Bahls Seele Buße tun wird?«
»Das tut sie bereits. Es ist das Einzige, was ihm noch bleibt.«
»Es ist vielleicht nicht besonders christlich«, sagte Geßler und holte kräftig Luft, »aber dann wünsche ich ihm, dass er noch sehr lange so leben wird.«
Julia Durant konnte es ihm nicht verdenken.
Nachdem sie aufgelegt hatte und eine Weile in Richtung der Kinderzeichnung geblickt hatte, die nun anstelle des Kalenderblatts an der Wand hing, rief sie ihre E-Mails ab.
Es war nicht viel los in ihrem Posteingang, aber ein Absender verursachte ein sonderbares Kribbeln in ihrem Inneren.
Volker Behrmann. Sie hatte sich bei ihm melden wollen, es dann aber nicht getan, wie sie feststellte. Was wollte er?
Liebe Julia Durant,
ich musste gerade an Sie denken. Kunststück, denn in den Medien begegnet man Ihnen ja momentan immer wieder.
Aber ausgerechnet das alte Präsidium!
Nun: Ich kann Ihnen zwar keine Schießerei versprechen, aber das Gebäude bietet ein paar wirklich spektakuläre Motive. Es wäre mir eine Freude, wenn wir – zu gegebener Zeit – noch einmal zusammen dort hingehen.
Und ich bin mir sicher, wir haben beide jede Menge, was wir miteinander teilen können ;-)
Herzliche Grüße,
Ihr Volker
Reflexartig klickte die Kommissarin auf »Antworten«, und in ihrem Kopf hörte sie bereits das Klacken der Tastatur. Kein Bedarf, dachte sie. Von diesem Laden habe ich die Schnauze gestrichen voll. Doch am Ende schrieb sie nichts davon.
Sie las die Mail erneut. »Jede Menge miteinander teilen.« Meinte er damit Erinnerungen? An das Präsidium oder an Alina? Oder war da am Ende mehr?
Sie schüttelte sich und schloss das Mailprogramm.
Nicht jetzt, sagte sie sich.
Sie nahm den Telefonhörer und wählte Ralph Angersbachs Nummer. Sie hatte es versäumt, ihn zur großen Dienstbesprechung einzuladen, und beantwortete ihm daher jetzt geduldig sämtliche Fragen.
»Wie gesagt, war keine böse Absicht«, betonte sie noch einmal am Ende des Telefonats. »Aber die ganze Sache hat uns ganz schön in Beschlag genommen.«
»Ich wäre wohl ohnehin nicht gekommen«, antwortete Angersbach lakonisch. »Mit meinem grünen Walross darf ich vermutlich nicht mal mehr in Frankfurts Umweltzone fahren.«
Beide mussten lachen.
»Ich soll Sie übrigens von Sabine grüßen.«
»Oh. Danke.« In Julia tauchte die Frage auf, warum er ihr das ausrichtete. Sie und Sabine hatten beide Smartphones mit Messenger. Trotzdem war der Kontakt manchmal monatelang wie eingefroren. Und wie war das denn nun genau mit diesem Angersbach und ihr? »Grüßen Sie sie mal dankend zurück.«
»Das mache ich.«
Mist. Kein »Soll ich sie Ihnen geben, sie liegt gerade in meinen Armen« und auch kein »Oh, das kann aber dauern. Wir sehen uns ja nie«. Julia fasste den Entschluss, ihrer Freundin sofort nach dem Telefonat eine Nachricht zu schreiben.
»Freut mich jedenfalls«, hörte sie Ralph weiterreden, »dass die Sache nun aufgeklärt ist. Ungelöste Fälle lassen mich schlecht schlafen.«
Julia musste lächeln. Er klang wirklich nett. »Das geht mir genauso. Übrigens … ich meine, so unter Kollegen in denselben Abteilungen, wollen wir uns nicht duzen?«
»Klar. Ich bin Ralph.«
»Und ich Julia.«
Beide mussten lachen. Zwei so scharf denkende Analytiker, aber im Austauschen von privaten Worten waren sie so unbeholfen. Aber das Lachen tat gut. In diesem Job nahm man jede Gelegenheit dankend an, denn sie half einem, weiterzumachen.
An ein Aufhören jedenfalls war für Julia Durant nicht zu denken.