Nun musste er nicht mehr nach Spuren suchen. Nur wenn ein seitlicher Zufluss einmündete, machte er kurz halt und sah sich die Stelle gründlicher an. Möglich ja, dass das Fahrzeug hier aus dem Flussbett abgebogen war. Ansonsten schritt er zügig bergan, auf die Black Mesa zu. Die Gegend, durch die sich der Arroyo schlängelte, wurde immer unwirtlicher, das Flussbett schmaler, geröllreicher, zunehmend von Gebüsch durchwuchert. An geknickten Ästen und abgerissenen Zweigen erkannte Chee, dass der Wagen hier entlanggefahren war.
Am späten Nachmittag hörte er wieder das Flugzeug, meilenweit weg, ungefähr dort, wo Chees Fahrzeug stand. Als die Maschine später dort, wo er sich befand, den Arroyo hinaufflog, ging er im Gebüsch in Deckung, bis sie verschwunden war.
Bei Sonnenuntergang fand er den Wagen. Beinahe wäre er daran vorbeigelaufen. Er war müde und durstig und dachte gerade, binnen einer Stunde wäre es zu dunkel, um noch etwas zu sehen. Eigentlich entdeckte er nicht den Wagen, sondern die Zerstörungen, die er im Gesträuch verursacht hatte. Der Fahrer war in ein schmales Bachbett abgebogen, das in den Arroyo mündete, hatte sich den Weg in ein Gehölz aus Bergmahagoni und Gestrüpp gebahnt und die Äste und Zweige, so gut es ging, hinter sich wieder aufgerichtet.
Es war ein dunkelgrüner GMC-Kombi, offenbar neu. Chee ließ sich Zeit, das Fahrzeug zu untersuchen. Ob die Ladung aus Kokain bestand oder aus Banknotenbündeln, mit denen das Kokain bezahlt werden sollte, konnte er später feststellen. Zunächst dachte er kurz nach und suchte die Umgebung dann sorgfältig nach Spuren ab. Falls er wieder auf die Abdrücke geriffelter Sohlen und schmal geschnittener Cowboystiefel stieße, würde alles zusammenpassen: die Spuren, die er unten beim Flugzeugwrack gefunden hatte, und der Wagen, der in der Dunkelheit weggefahren war. Doch der Boden bestand aus festem Granit, bedeckt mit angeschwemmtem Splitt, rings um das Fahrzeug lagen abgebrochene Zweige und abgerissene Blätter. Zwecklos, hier nach Spuren zu suchen. Chee konnte lediglich feststellen, dass jemand hier herumgelaufen war.
Der Kombi war verschlossen, die Fenster waren hochgekurbelt und von innen dicht beschlagen. Dass bei einem hermetisch verschlossenen Fahrzeug die Scheiben beschlugen, war sogar in dieser trockenen Luft nicht weiter verwunderlich, aber diese Scheiben waren geradezu blickdicht. Es musste sich also etwas im Fahrzeug befinden, das Feuchtigkeit ausströmte. Chee hockte sich auf einen Felsblock und überlegte, was er tun sollte.
Dieser Fall ging ihn nichts an. Mehr noch, die zuständigen Ermittler hatten ihn ausdrücklich davor gewarnt, sich einzumischen. Und neben Bundesbeamten hatte auch Captain Largo ihm mit Nachdruck klargemacht, er solle gefälligst die Finger von der Sache lassen. Wenn er den Wagen jetzt aufbräche, würde er sich an Beweismaterial zu schaffen machen.
Er zündete sich eine Zigarette an und atmete den Rauch langsam aus. Die Sonne war untergegangen, nur in den Wolkenfeldern über der Wüste im Süden spiegelte ihr Schein sich noch wider. Ein Hauch Rosa schwebte in der Luft. Im Nordwesten, über dem Coconino Rim, ballten sich Gewitterwolken. Die Luft über ihnen war eisig und so dünn, dass die Wolken nicht weiter aufsteigen konnten. Höhenwinde zerrten an ihnen, zerfaserten die bauschigen Wolkentürme, ließen die gespeicherte Feuchtigkeit zu Eiskristallen gefrieren.
Der Sonnenuntergang teilte die Wolkenlandschaft in drei Farbzonen. Ganz oben flimmerte – vom letzten Licht angestrahlt – ein Band aus blendend grellem Weiß, das vor dem dunkelblauen Himmel mindestens achthundert Meter hoch aufragte. Darunter glühte der Himmel im Widerschein der untergehenden Sonne in zerfließenden Farben, Pink mischte sich in Rosenrot, von lachsfarbenen Streifen durchzogen. Bis zur untersten Wolkenschicht reichte die Sonne nicht mehr, dort, im Grau, Blau und Schwarz, den Farben der nahen Nacht, zuckten die ersten Blitze auf.
Immer wieder hatten die Menschen in den Dörfern der Hopi die Wolken gerufen, nun regnete es am Coconino Rim. Und der stürmische Wind trieb die regenschweren Wolken ostwärts, wie immer im Sommer. Wenn sie Glück hatten, fielen in zwei Stunden auch hier die ersten Tropfen. Viel würde es nicht werden, höchstens ein kleiner Schauer, immerhin genug, um in dieser sandigen Gegend Spuren zu löschen. Aber Chee war in der Wüste aufgewachsen und verließ sich nie darauf, dass wirklich Regen fiel.
Er nahm einen langen Zug, genoss den Geschmack des Tabaks, atmete langsam durch die Nase aus und sah zu, wie der blaue Dunst sich verflüchtigte. Im Geiste sah er sich im Gerichtssaal, unter Eid, dem strengen Blick des Staatsanwalts ausgesetzt. »Officer Chee, wie Sie wissen, steht Meineid unter Strafe. Ich frage Sie also noch einmal: Haben Sie den GMC-Kombi gefunden, in dem …« Das Bild verschwand, ein anderes tauchte auf. Die Erinnerung an Johnson, der ihn angrinste. Johnsons Hand, die ihn ins Gesicht traf. Johnsons drohende Stimme. Chees Wut kehrte zurück und die Scham. Wieder nahm er einen tiefen Zug, der ihn beruhigte. Wut war unerheblich. Es ging um das Puzzle. Direkt vor seinen Augen befand sich ein weiteres Teil davon. Chee drückte die Zigarette auf dem Boden aus und entsorgte die Kippe in seiner Tasche.
Mit einem Schraubendreher hätte sich das Ausstellfenster leicht aufhebeln lassen, mit seinem Taschenmesser dauerte es länger. Obwohl der Wagen im Schatten stand, hatte das Innere sich aufgeheizt, und als die Messerklinge die Arretierung fasste und Chee das Fenster aufdrücken konnte, entwich die aufgestaute Hitze mit einem seufzenden Geräusch. Der Geruch verblüffte ihn. Es stank nach Chemie, stickig und dumpf, nach Desinfektionsmittel. Chee langte durch die schmale Öffnung, entsicherte die Tür und zog sie auf.
Richard Palanzer saß auf der Rückbank. Wegen des Fotos, das Cowboy ihm gezeigt hatte, erkannte Chee ihn sofort wieder. Ein schmächtiger Weißer mit zerzaustem stahlgrauem Haar, eng stehenden Augen und einem schmalen Gesicht, das schon zu Lebzeiten knochig gewesen war, jetzt aber, im Tod und von beginnender Verwesung gezeichnet, wie mumifiziert aussah. Er trug einen grauen Nylonblouson, ein weißes Hemd und Cowboystiefel. Stocksteif lehnte er in der Ecke und starrte mit blinden Augen auf das Seitenfenster.
Chee blieb an der Tür stehen, umgeben von beißendem Desinfektionsgeruch. Lysol, vermutete er, Lysoldunst und Tod. Es dauerte ein wenig, bis er die Zuckungen seines Magens in den Griff bekam. Etwas stimmte nicht mit dem linken Auge des Toten, als würde er schielen. Um möglichst nichts zu berühren, ließ Chee sich ganz vorsichtig auf den Fahrersitz gleiten. Aus der Nähe erkannte er, dass die linke Kontaktlinse sich von der Pupille gelöst hatte und halb weggerutscht war. Offensichtlich war Palanzer dort, wo er saß, erschossen worden. Auf seiner linken Seite waren Blouson und Hose von der Taille abwärts mit schwarz verkrustetem Blut durchtränkt, genau wie Rückbank und Fußmatte.
Chee durchsuchte den Kombi und achtete darauf, keine neuen Fingerabdrücke zu hinterlassen und keine alten zu verwischen. Das Handschuhfach war unverschlossen. Es enthielt die Bedienungsanleitung und den Mietvertrag mit dem Hertz-Büro am Phoenix International Airport. Das Fahrzeug war auf den Namen Jansen gemietet worden. Im Aschenbecher lagen Kippen. Das war schon alles. Keine Bündel mit Hundertdollarscheinen. Keine Segeltuchsäcke mit Rauschgift. Nur die Leiche von Richard Palanzer.
Chee schloss das Kippfenster so dicht wie möglich, drückte die Verriegelung und warf die Tür zu. Der Wagen stand wieder so da, wie er ihn gefunden hatte. Einem peniblen Polizisten mochte auffallen, dass das Ausstellfenster gewaltsam geöffnet worden war, aber womöglich würde niemand auf solche Kleinigkeiten achten. Womöglich gab es keinen Grund zum Argwohn. Vielleicht aber doch. Aber daran konnte er sowieso nichts mehr ändern. Und wenn alles so weiterging wie bisher, konnte er sich darauf verlassen, dass die Bundespolizei nur Pfusch zuwege brachte.
In der zunehmenden Dunkelheit ging er durch den trockenen Flusslauf talwärts. Er war müde. Er war angeekelt. Er war des Todes überdrüssig. Er wünschte, er wüsste viel mehr über Joseph Musket. Jetzt war nur noch er übrig. Vier Männer waren tot, eine Ladung Drogen – ein Vermögen wert – war verschwunden, aber Iron Finger lebte. »Iron Finger«, fragte Chee halblaut, »wo steckst du?«