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VI
Es dauerte zwanzig Minuten, bis Neun auf seinem Quad auftauchte und in einem Wirbel aus rosa Staub winkend auf dem Seitenstreifen vorbeibrauste. Er hatte seinen Helm nicht aufgesetzt, und seine Arme waren nackt, obwohl die Region als Malariagebiet bekannt war. Sein Tempo war halsbrecherisch, und sein Windschatten verschleierte die Luft mit einem unnötigen roten Nebel. Er hatte sein Zelt mehr schlecht als recht hinten auf das Quad gepackt. Als er vorbeifuhr, erkannte Vier durch den Staub hindurch kaum mehr als Neuns breites Lächeln, mit dem er aussah wie ein Teenager, der auf einer geliehenen Maschine einen Strand entlangbrettert.
Deshalb und auch wegen des Besuchs in dem Dorf letzte Nacht überlegte Vier, mit dem Satellitentelefon in der Zentrale anzurufen und eine Ablösung für Neun anzufordern. Er wusste aber, dass er sie damit auf ein Problem aufmerksam machen würde. Die Firma bezeichnete so ein Problem, jedes Problem, als Anomalie, und Anomalien warfen ein schlechtes Licht auf alle Beteiligten. Die Aufgabe des Fahrers war es, Anomalien zu beheben und den Zeitplan einzuhalten. Als Vier bei seinem ersten Einsatz in dem Glauben, gründlich zu sein, gleich am ersten Tag eine Reihe von Anomalien gemeldet hatte, wurde er sanft darauf hingewiesen, dass die Firma seine Aufmerksamkeit für Details zwar zu schätzen wisse, aber nicht über Furchen, Löcher, Rillen oder von Einheimischen gestellte Fragen informiert werden müsse. Von Vier wurde erwartet, dass er derlei Probleme löste und seine Arbeit machte. Anomalien sollten aus der Welt geschafft werden, nicht gemeldet.
Vier nahm sich vor, in der Mittagspause mit Neun zu reden. Normalerweise würde er am zweiten Tag eines Einsatzes keine volle Mittagspause machen, aber in diesem Fall war eine Ausnahme erforderlich. Bei diesem Mann musste er klare Regeln aufstellen. Um sich selbst zu beruhigen, steckte er sich seine Kopfhörer in die Ohren und drückte Play.
Die Straße bot den ganzen Vormittag keinerlei Probleme. Vier kam an weiteren schwarzen Müllsäcken vorbei, an weiteren Strommasten, die nur noch aufgestellt und angeschlossen werden mussten. Er sah kleine Siedlungen auf beiden Seiten und hier und da Spuren von Häusern, die versetzt oder abgebaut worden waren, um Platz für den neuen Highway zu schaffen. Man hatte ihn gewarnt, dass einige Wälder während des Krieges vermint worden waren, und am späten Vormittag sah er an Bäume genagelte Warnschilder mit Totenschädeln und mahnenden Worten in der Landessprache.
Einen halben Kilometer weiter vorne sah Vier den nächsten Pod, und aus dieser Entfernung meinte er, erkennen zu können, dass Leute darauf saßen oder standen. Genau das, nämlich Einheimische von der Straße und vor allem von den Thermopods fernzuhalten, war die Arbeit, für die Neun bezahlt wurde. Aber er war nirgends zu sehen.
Als Vier nah genug war, um die Gestalten auszumachen, sah er, dass es drei Jungs waren, die auf dem Behälter spielten. Vier ließ das Fenster herunter und wedelte mit dem Arm, um den Jungs zu signalisieren, dass sie da wegmussten. Als sie hinuntersprangen, wurden sie augenblicklich von zwei Frauen ausgeschimpft, die die Jungs an den Armen packten und von der Straße wegzogen. Als Vier den Pod erreichte, hob die RS -80 ihn in die Andockstation und trank ohne Zwischenfälle daraus.
Doch als Vier in den Rückspiegel blickte, sah er, dass Neun ihn eingeholt hatte und jetzt von denselben Jungs umringt wurde. Sie fassten das Quad an, und Neun ließ es zu. Neun holte eine Kamera hervor und fing an, Fotos von den Jungs zu machen. Einer von ihnen trug trotz der brütenden Hitze einen lila Schal. Jedes Mal, wenn Neun ein Foto gemacht hatte, zeigte er es den Jungs, und alle lachten. Anscheinend hatten die Jungs noch nie so eine Kamera gesehen, die das Bild sofort anzeigen konnte, nachdem es aufgenommen wurde. Vier überlegte, Neun zu holen, aber dann würde er ihr fröhliches Beisammensein unterbrechen und unweigerlich mit hineingezogen.
Vier blieb in der RS -80 und startete den Motor. Er hatte vor, während der Fahrt in der Kabine zu Mittag zu essen. Als das Fahrzeug sich in Bewegung setzte, blickte Neun verdutzt auf. Vier machte keine erklärende Geste. Er würde das notwendige Gespräch mit Neun am Abend führen. In diesem Moment beschloss er, dass es eine ernstere Auseinandersetzung werden würde als die, die er für die Mittagspause geplant hatte.
Neun ließ sich erst am frühen Nachmittag wieder blicken, als er über den Seitenstreifen angesaust kam, jetzt ohne Hemd und um den Hals den lila Schal, den Vier an dem Jungen gesehen hatte. In Vorgesprächen riet die Firma dringend von Transaktionen jeglicher Art ab, ob Tauschhandel oder Geldgeschäfte. Die Einheimischen könnten ohne Weiteres behaupten, der Schal wäre gestohlen worden, was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass unberechenbare örtliche Behörden eingeschaltet wurden. Neun machte einen Schwenk die Böschung hoch und fuhr parallel zur RS -80 und versuchte mit einem breiten Lächeln, Viers Blick auf sich zu lenken. Vier wandte den Kopf nicht in seine Richtung, und Neun fuhr voraus und winkte mit erhobener Hand der Welt in seinem Windschatten zu.