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VII
Am späten Nachmittag hatte Vier achtundzwanzig Kilometer asphaltiert, und die Maschine brauchte eine Pause. Vier schaltete sie ab und suchte sich eine ebene Stelle neben der Straße für sein Zelt. Aus der Ferne hörte er die schwachen Klänge von Gesang – eine Gruppe von Stimmen, die sich harmonisch hoben und senkten. Der Himmel war ein mattes Weiß.
Vier schlug das Zelt auf, legte Schlafsack und Kissen hinein, auf das er seinen Kopf bettete. Die ferne Musik war angenehm, und er fragte sich, woher sie kam. Es klang wie ein Chor, vielleicht religiöser Art, die Stimmen alle weiblich, vermutete er. Er steckte sich seine Kopfhörer in die Ohren und drückte Play, schloss die Augen und machte Pläne. Er wollte beim Abendessen mit Neun reden, doch nach zwanzig Minuten stand er auf und fing an, allein zu essen.
Er aß eine Packung Cracker, zwei Müsliriegel, eine große Tüte Nüsse und eine Handvoll Vitamine, als die ferne Musik plötzlich aufhörte und dann wieder anfing, diesmal lauter. Der zuvor zaghafte Chor klang jetzt kräftiger, wilder. Die Musik und ihr Ursprung hatten Viers Neugier geweckt. Wäre er zu Hause, würde er ihre Quelle erkunden, aber er konnte die RS -80 nicht unbeaufsichtigt lassen. Um 17.15 Uhr war er mit dem Essen fertig.
Er kroch ins Zelt, um seine Ausrüstung zu überprüfen. Er entrollte sein Bündel und nahm die Plastikpistole heraus, säuberte sie kurz. Als er fertig war, packte er sie wieder ein, und als er das Zelt verließ, sah er über die noch nicht asphaltierte Straße vor ihm eine rote Staubwolke näher kommen. Neun begann zu hupen, sobald er Vier sah. Er hielt grinsend an, das Gesicht rot von Sonne und Staub.
»Hey, du Blödmann! Hab ich das Abendessen verpasst?«
Vier sagte nichts.
»Du hast dir Müsliriegel und Wasser ohne mich schmecken lassen? Und sag ja nicht, ich hab auch die Cracker verpasst!«, sagte Neun lachend. Er stieg vom Quad und trabte kurz auf der Stelle, als wollte er die Krämpfe in den Beinen abschütteln. »Nur Spaß. Aber, hör mal, ein Stück die Straße hoch hab ich einen Laden gesehen, wo wir beide hinkönnen, ein richtiges Lokal. Sehr sauber. Sehr sicher. Und ich hab zwei Jungs gefunden, die herkommen und auf unsere Sachen aufpassen können, solange wir weg sind. Ich hab an alles gedacht.«
»Nein«, sagte Vier. »Jetzt setz dich.«
Neuns Lächeln erstarb. »Wie bitte?«
»Setz dich. Ich bin hier der Teamleiter, also setz dich gefälligst. Ich bin dein Vorgesetzter.«
»Du bist der Teamleiter? Du bist mein Vorgesetzter?« Neun starrte Vier in die Augen. »Das sind faszinierende Behauptungen.«
Vier zog sich der Magen zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Neun seine Autorität infrage stellen würde. Schließlich war das Neuns erster und Viers dreiundsechzigster Einsatz. Eine Rangordnung in ihrem Zwei-Mann-Team war von der Firma zwar nicht festgelegt worden, doch wer von ihnen beiden das Sagen hatte, hätte eigentlich unausgesprochen klar sein sollen.
»Ich muss mit dir über die Arbeit reden, die du machst«, sagte Vier in einem ruhigen Ton.
Neun lächelte wieder. »Hör mal, lass uns in dem Laden was essen und dabei alles bequatschen. Sobald wir da sind, rennen zwei Jungs hierher und passen auf die Fahrzeuge auf. Ich hab sie gestern Abend kennengelernt. Das sind gute Jungs. Ich hab auch ihre Eltern kennengelernt. Ihre Mütter betreiben das Lokal, wo wir hingehen. Einverstanden?«
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Vier. »Ich hab schon gegessen, und ich bleibe bei der Maschine, weil ich vertraglich dazu verpflichtet bin. Ich will kein Essen von hier zu mir nehmen, und du solltest das auch nicht. Du verhältst dich wie ein Kind in den Ferien. Ich habe heute neun Stunden in der Kabine gesessen, und ich habe dich zweimal zu Gesicht bekommen.«
Vier sah zu, wie Neun das zu verarbeiten schien, den Mund öffnete, als wollte er etwas erwidern, sich aber schließlich dagegen entschied. Er ging ein paar Schritte weg, kam dann zurück und schüttelte mit übertriebener, theatralischer Zerknirschung den Kopf.
»Also schön, es tut mir leid«, sagte Neun. »Du hast recht. Du hast wirklich einen schwierigen Job, und du machst deine Sache gut. Ich bin dankbar, und die Leute, mit denen ich gesprochen habe – die sind auch unglaublich dankbar. Du solltest sie mal reden hören! Irgendwann heute kam eine Mutter zu mir, mit ihrem Kind auf dem Arm, einem Jungen, der irgendeine schlimme Infektion im Bein hat. Es sah aus wie Elefantiasis. Sie meinte, sobald die Straße fertig ist, kann sie ihn nach Norden in die Hauptstadt bringen und das Bein behandeln lassen. Ich habe mit einem Ladenbesitzer gesprochen, der meinte, beim alten Straßensystem hatte er während der Regenzeit nichts zu verkaufen und seine Kunden hatten nichts zu kaufen. Es war unmöglich, Waren so weit in den Süden zu schaffen. Aber unser Highway sorgt endlich für Abhilfe. Er wird jede Woche eine neue Lieferung bekommen können, sogar jeden Tag. Weißt du, was er gesagt hat? ›Das ist wie neugeboren werden.‹ Du hast keine Ahnung, wie isoliert die hier sind. Die meisten haben noch nie einen richtigen Arzt gesehen.«
»Das ist ja alles gut und schön«, sagte Vier. »Aber –«
»Hör mal«, fiel Neun ihm ins Wort, »wir müssen nicht zusammen essen gehen. Aber ich möchte, dass du selbst erlebst, was ich gestern Abend erlebt habe. Ich pass auf die RS -80 auf. Du nimmst das Quad. Fahr einfach ein paar Kilometer geradeaus, bis du einen schmalen Weg siehst, der nach Westen führt. Den nimmst du und kommst nach kurzer Zeit durch ein Wäldchen und zu einer Lichtung, und da ist das Dorf.«
»Nein«, sagte Vier.
»Du kannst den alten Mann kennenlernen, den ich getroffen habe. Er trägt einen weißen Hut mit breiter Krempe, eine Art Fedora, und er wird dir die Hand schütteln und dir danken. Er wird dich gut bewirten. Ach ja, und er hat Töchter, die sind ganz schön kokett –«
»Nein. Nein!«, brüllte Vier. Er hatte langsam, aber sicher die Geduld verloren. Neuns Hals zuckte nach hinten, geschockt von Viers Lautstärke. Dann lächelte er, kurz, als wäre er über diesen neuen Gefühlsausbruch amüsiert. »Faszinierend«, sagte er.
Vier schaute in den Wald hinter Neun. Er wusste, dass er sich jetzt beherrschen musste, ehe er etwas sagte, was er bereuen würde. Seine Frau hatte das schon vor Jahren an ihm kritisiert, seine Neigung, eine Lösung durch rasche, schonungslose Durchsetzungskraft herbeiführen zu wollen.
»Entschuldige, dass ich laut geworden bin«, sagte Vier. »Aber der Zeitplan hat für mich absolute Priorität. Die Regierung bezahlt für diese Straße, und die haben eine Parade geplant. Weißt du das eigentlich?« Neuns Gesicht war ausdruckslos. »Sie soll am Zwanzigsten dieses Monats stattfinden«, fuhr Vier fort. »Den Termin müssen wir unbedingt schaffen. Hunderttausende Menschen verlassen sich darauf. Wenn dir die Menschen hier am Herzen liegen, solltest du alles tun, was du kannst, damit wir den Termin einhalten.«
Neun dachte darüber nach, und Vier meinte, in Echtzeit zu sehen, wie ein Mann erleuchtet wird. Endlich schien er seine Handlungen daran auszurichten, wie sie sich auf die Menschen auswirken würden, denen zu helfen ihm angeblich so ein wichtiges Anliegen war.
»Ich verstehe«, sagte er. »Wirklich. Wir schaffen den Termin. Versprochen.« Er spähte mit zusammengekniffenen Augen die Straße hinunter, in die Richtung des Dorfes, wo er mit Vier hingewollt hatte. »Aber du weißt, wie gastfreundlich die Leute hier sind. Ich sollte ihnen wenigstens Bescheid sagen, dass wir nicht kommen. Sonst warten sie die ganze Nacht auf uns.«