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VIII
Neun kam an dem Abend nicht zurück. Vier schaute ihm nach, wie er in der rostfarbenen Dämmerung davonfuhr, angeblich um die Verabredung zum Abendessen abzusagen. Vier kroch ins Zelt, steckte sich seine Kopfhörer in die Ohren und schlief schließlich ein. Einige Stunden später wurde er wach, weil er pinkeln musste, und als er am Straßenrand stand, der Mond eine helle Sichel am Himmel, sah er keine Spur von Neun oder dem Quad. Es war halb vier. Als er bei Tagesanbruch wieder aufwachte und das Zelt öffnete, stand das Quad ordentlich geparkt auf dem Seitenstreifen, und Neun war dabei, sein Zelt zusammenzupacken.
»Mein Vorgesetzter erwacht!«, sagte Neun.
Vier zog sich, ohne zu antworten, wieder in sein Zelt zurück. Im Laufe vieler Jahre hatte Vier die Fähigkeit entwickelt, bei solchen Menschen und Problemen jedes Gefühl abzuschalten. Neun frustrierte ihn seit fast drei Tagen, aber jetzt, da ihm klar war, dass er ihn weder verändern noch kontrollieren noch dazu bringen konnte, in irgendeiner Weise effektiv zu sein, und da er wusste, dass Neun die Arbeit an der Straße im Grunde nicht behinderte – er war lediglich eine Ablenkung –, konnte Vier den Mann und dessen Verhalten außer Acht lassen. Er konnte ihn sozusagen in einen Glaskasten stecken, sodass er nicht mehr zu hören war.
»Willst du wissen, wie es gestern Abend war?«, fragte Neun.
Vier beschloss, dass er es tatsächlich hören wollte, wenn auch nur, weil es hilfreich für den Bericht sein würde, den er nach Abschluss der Arbeiten über Neun schreiben wollte.
»Du hast dir ein leckeres Essen entgehen lassen. Es gab Lamm. Ich hoffe, du weißt, was für eine große Sache das ist, in einer Gegend wie dieser kurz nach einem Krieg Lamm zu essen. Das muss das einzige gottverdammte Schaf im Umkreis von hundert Kilometern gewesen sein. Jedenfalls, die Leute wissen, wie man Lamm zubereitet. Hast du in diesem Teil der Welt schon mal Lamm gegessen?«
Vier rollte seinen Schlafsack zusammen und schnürte ihn fest. Er zog die Stangen aus seinem Zelt, und es fiel zusammen wie eine gelöschte Flamme. Neun machte keine Anstalten zu helfen, sondern folgte Vier am Straßenrand auf und ab, während der sich für den Tag fertig machte.
»Ich hab jedenfalls mehr über die Parade herausgefunden. Weißt du das mit dem Präsidenten und seiner Frau?«
Vier sagte nichts. Er stopfte sein Zelt in die Hülle und ging zur RS -80, um es im äußeren Gepäckfach zu verstauen. Als er sich umdrehte, wäre er fast mit Neun zusammengestoßen, der ihm zum Fahrzeug gefolgt war. Vier ging langsam um die Maschine herum, um sie auf Beschädigungen zu überprüfen. Neun folgte ihm auf den Fersen.
»Anscheinend ist sie während des Krieges bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie war die erste Frau des Präsidenten, aber er hatte auch noch andere oder irgendein Arrangement mit ein paar Nebenfrauen, oder wie nennt man die? Konkubinen? Konkubinen. Jedenfalls, sie war seine erste Frau, und sie hatten sich schon als Kinder gekannt. Er liebte sie, und sie war so was wie eine Altruistin, und während des Krieges hat sie Opfer der Kämpfe auf beiden Seiten besucht. Ich meine, die Leute, die mir das gestern Abend erzählt haben, waren aufseiten der Rebellen, aber selbst die hatten großen Respekt vor ihr. Das war richtig bewegend.
Dann hatte sie den Autounfall, von dem keiner glaubt, dass es ein Unfall war. Sie hat verwundete Soldaten besucht – Kindersoldaten, sollte ich sagen –, in einem Krankenhaus, das von irgendeiner NGO betrieben wurde. Und als sie das Krankenhaus verließ und auf der Fahrt zum Flugplatz war, ist ein Truppentransporter seitlich in ihren Pick-up gekracht. Dieser riesige Laster hat ihren Wagen zusammengequetscht wie ein Akkordeon. Der Fahrer des Lasters wurde nie gefunden, aber er hatte Zeug von den Rebellen geladen. Hast du von der Sache gehört?«
Vier hatte in dem vorbereitenden Informationsmaterial der Firma etwas über den Vorfall gelesen, dem aber kein großes Interesse geschenkt. Wer in so einem Konflikt wen tötete, ging ihn nichts an, und was immer er in einer Informationsbroschüre las, war wahrscheinlich so weit von der Wahrheit entfernt, dass es kaum sein besonderes Augenmerk verdient hatte.
»Deshalb sind mit dieser Waffenruhe und der Parade so große Hoffnungen verbunden«, fuhr Neun fort. »Ich meine, dieser Präsident – die haben gedacht, er wäre wegen des Todes seiner Frau oder ihrer Ermordung, oder was immer es auch war, nur noch von Zorn und Rachegelüsten erfüllt, aber er hat sich dem internationalen … dem ganzen Friedensprozess unterworfen, und die Kämpfe haben aufgehört. Und die Parade war seine Idee. Er lässt die Straße bauen und hat diese Parade geplant, und ich finde, das ist eine ziemlich große und selbstlose Geste der Versöhnung. Selbst einige von den Rebellen hier unten sehen ihn als eine Art – na ja, nicht als Heiligen, aber als Staatsmann. Als jemand mit Weitblick, der das Verlangen nach Vergebung hat, das man nach so einem schrecklichen Krieg braucht. Ich glaube, deshalb hat er sie zu so einer spektakulären Abrüstung bewegen können. Ich meine, die Rebellen haben alles abgegeben, mehr, als sie hätten abgeben müssen, glaub ich. Jetzt gibt es angeblich eine große vereinte Armee, aber scheiße, kannst du dir das vorstellen? Wann hat das je so gut funktioniert? Jedenfalls das hat mir vor allem diese eine Frau erzählt. Moment, ich hab doch die Frau von neulich Abend erwähnt, weißt du noch? Die züchtige Geschichte, die ich dir erzählen wollte? Die Frau, die so besonders getanzt hat?«
Vier erinnerte sich, dass Neun von so einer Frau gesprochen und ihre Tanzbewegungen nachgemacht hatte. »Nein«, sagte er.
»Tja, aus irgendeinem Grund war sie gestern Abend nicht da. Aber es waren so viele andere da, und eine von ihnen hat mich damit zugelabert. Wir haben alle um ein Feuer gesessen, das sie in einer Art abgesägten Öltonne gemacht hatten. Und rings um das Feuer leuchten die vielen Augenpaare, und alle sehen mich an, während die eine Frau mir die ganze Geschichte von der Frau des Präsidenten erzählt, aber währenddessen hab ich mich gefühlt wie ein kleines Häschen, das von Wölfen umzingelt ist. Das waren alles Frauen, wohlgemerkt, und alle tranken sie Reiswein. In ihren Augen lag ein Hunger, der sich einfach in dich hineinbohrt. Ich hab mich als Sexualobjekt gefühlt, ehrlich.« Neun brachte ein anzügliches Lachen zustande.
»Ich schätze, es liegt an meinem Haar«, sprach er weiter. »Ständig haben sie es angefasst.« Er fuhr sich mit schmutzigen Fingern durch die Enden seines fettigen Haars. »Sie haben andauernd von Filmstars geredet und dass keiner von den Männern hier sein Haar so trägt wie ich.«
Vier stieg in die Fahrerkabine und ließ den Motor an. Er warf einen Blick auf die Anzeigen und vergewisserte sich, dass der erste Thermopod aufgeheizt wurde. In gut zehn Minuten wäre der Asphalt bereit. Er starrte geradeaus auf die unasphaltierte Straße und dachte, er könnte die Tür der Kabine schließen und so wenigstens Neuns unaufhörliches Geschwafel dämpfen.
»Und nach dem Essen ist dann wahnsinnig viel passiert«, fuhr Neun fort. »Jeder bringt mir irgendwelche Sachen. Ich weiß nicht, was sie mir schenken und was sie mir bloß zeigen wollen. Ein älterer Typ will mir ein Foto von irgendeinem Entwicklungshelfer zeigen, den er vor zwanzig Jahren gekannt hat. Ich gehe also zu seinem Haus, und wir sehen es uns an, und er gibt mir was von seinem selbst gebrannten Fusel. Das Zeug riecht übel, ist aber saustark. Es hat geschmeckt wie eine faule Orange.«
Vier zählte die Minuten, bis die RS -80 startklar sein würde. Knapp siebeneinhalb.
»Zwanzig Minuten später hatten wir seinen ganzen Schnaps getrunken und haben Domino gespielt, aber ich konnte ehrlich nicht sehen, was zum Teufel wir da machten. Es war zu dunkel, und meine Augen funktionierten nicht mehr richtig. Und ich schwöre, der Typ schummelt. Nur er und ich spielen Domino, es geht nicht um Geld, und der Typ schummelt. Ich meine, was soll das? Irgendwann wache ich auf, und ich liege mit dem Kopf auf dem kleinen Tisch von dem Typen, so ein kleiner Beistelltisch aus Eisen mit einer Gitterplatte. Ich wache auf, und ich hab eine Schraffur im Gesicht, ja? Und der Typ lacht und lacht über mich. Er lacht dermaßen irre, dass ich echt das Gefühl hatte, ich wär irgendwie in der Hölle gelandet. Und ich kann noch immer kaum was sehen. Ich hab schon gedacht, ich würde blind von dem Fusel, ja? Dann sind wir zurück zu dem Feuer, und es sind gar nicht mehr so viele Leute da. Ein paar von den Mädchen sind inzwischen weg, vielleicht von ihren Eltern nach Hause gebracht. Aber ehrlich, ehe ich wieder bei den anderen am Feuer bin, packt mich auf einmal eine Hand.«
Vier spürte die jähe Umklammerung von Neuns Fingern. Um seine Geschichte anschaulicher zu machen, hatte er die Hand nach oben in die Kabine gereckt und Viers Arm gepackt.
»Lass das«, sagte Vier.
»Ich will dir nur zeigen, wie stark die Frau war. Sie hat mich vom Feuer weggezogen, und sie hat mich regelrecht in die Dunkelheit und Richtung Wald gezerrt, und die ganze Zeit versuche ich zu erkennen, welche von den Frauen am Feuer sie ist. Ich weiß es nicht mal, ja? Ich kann sie nur von der Seite sehen, von hinten, bloß verschwommene Umrisse im Gehen, und das Mondlicht ist schwach. Als wir knapp zweihundert Meter von der Dorfmitte entfernt sind, führt sie mich in so ein Gebäude, das mal eine Schule gewesen sein muss. An einer Wand ist eine Tafel, und der Boden ist übersät mit weißem Papier. Ansonsten ist das Gebäude ausgebrannt – kein Dach, keine Scheiben in den Fenstern, der Boden bloß festgestampfte Erde. Der Boden ist wichtig, denn sobald wir drin sind, zeigt sie nach unten, wo sie eine Matratze oder Matte in der Ecke liegen hat. Sie will, dass ich mich da hinlege, obwohl es aussieht wie eine Fixerabsteige. Da will sie es mit mir treiben.«
Noch zwei Minuten, dachte Vier.
»Ich setz mich also hin, aber ich hab nicht vor, meine Klamotten auszuziehen. Sie setzt sich neben mich und lehnt sich dann an mich, als würden wir ein Picknick machen und auf einen Fluss schauen oder so. Ich fange an, ihr Haar zu streicheln, und sie fängt an zu murmeln, und es hört sich an wie eine schnurrende Katze, bloß viel zu laut, verstehst du? Es ist einfach zu laut an einem stillen Abend in einem Dorf ohne irgendwelche anderen Geräusche ringsum – und wir sind nicht allzu weit weg von den Häusern. Ich höre also auf, ihr Haar zu streicheln, und sie setzt sich wieder auf und schaut mir in die Augen. Ihr Gesicht war höchstens zwei, drei Zentimeter von meinem entfernt, so nah, dass ihre beiden Augen aussahen wie eins. Und in dem Moment merkte ich, dass sie total widerlich aus dem Mund stank.« Neun lachte schallend. Er lachte ein tiefes und echtes Lachen, das in Vier kurz Wut aufbranden ließ.
»Keine Ahnung, ob sie das gewusst hat«, fuhr Neun fort. »Ich hab gedacht, Scheiße, den Mund kann ich unmöglich küssen. Und in dem Moment hüpft sie einfach auf mich drauf, sitzt rittlings auf mir, als wär ich ein Baum, an dem sie hochrobben will. Ich meine, ich hab kurz keine Luft mehr gekriegt, so fest hat sie mich umklammert. Sie hatte mich im Nu in sich drin. Ich hatte gedacht, sie wäre Jungfrau, aber ausgeschlossen. Sie hat genau gewusst, wo sie mich findet und wo sie mich hintut, und ich muss schon sagen, sie hat mich gespielt wie eine Harfe. Ich meine, sie hat jede Saite zum Klingen gebracht, sie hat aus mir eine Symphonie gemacht. Ich vibriere jetzt noch.«
Die RS -80 war startklar. Vier schloss die Tür, legte den Gang ein und fuhr los. Neun, sein Blick verletzt und überrascht, trat von der Maschine weg und ließ sie passieren.
Der Arbeitstag verlief reibungslos, und genau wie am Vortag beschloss Vier, die Mittagspause durchzuarbeiten und in der Fahrerkabine der RS -80 zu essen. Neun war vorausgefahren, und Vier hatte ihn seit einer Stunde nicht mehr gesehen. Nachdem Vier vorübergehend von dem schwarz verkohlten Wrack eines Jeeps abgelenkt worden war und die Augen wieder nach vorn richtete, sah er einen kleinen Jungen zwanzig Meter entfernt mitten auf der Straße stehen.
Vier löste das Warnsignal der RS -80 aus, einen jaulenden Ton, eher wie eine Krankenwagensirene als eine traditionelle Autohupe. Er rechnete damit, dass der Junge beiseitespringen würde, wie das die meisten Leute angesichts einer riesigen gelben Maschine machen würden. Doch dieser Junge rührte sich nicht. Er war höchstens einen Meter zwanzig groß, und Vier schätzte, dass er um die acht Jahre alt war. Er war barfuß und nackt bis auf ein zerlumptes Shirt und eine graue Unterhose, die einmal weiß gewesen war.
Vier erwog, die RS -80 zu stoppen, wusste aber, dass das eine Reihe von Problemen zur Folge haben könnte – zum Beispiel eine Naht im Asphalt, die selbst mit der verbesserten neuen Maschine nicht zu vermeiden war. Normalerweise würde sie vor einem Halt die Asphaltausgabe langsam reduzieren, und plötzliche Stopps verursachten Fehlstellen. Also fuhr er weiter. Er ließ die Sirene noch einmal aufheulen und schaltete das Licht ein. Doch der Junge rührte sich noch immer nicht. Die Sensoren zeigten an, dass er sieben Meter entfernt war, Vier blieben also keine zehn Sekunden mehr, um den Jungen zu verscheuchen.
Vier öffnete die Cockpittür und winkte dem Jungen. »Weg da!«, schrie er und fuchtelte wild mit den Armen. Der Junge sah ihn an, und Vier war einen Moment lang erleichtert. In den Augen des Jungen schien ein neues Begreifen zu liegen, als wäre er aus einem Tagtraum aufgeschreckt. Vier setzte sich wieder, doch als er erneut auf die Straße schaute, stand der Junge noch immer an derselben Stelle.
Vier drehte die Lautstärke der Sirene höher und schaltete die Beleuchtung auf ein rhythmisches Blinken. Aber der Junge blieb, wo er war.
Vier bremste und stoppte die Asphaltiermaschine, ließ den Motor im Leerlauf tuckern, und auf dem Bildschirm begann ein Countdown ab fünfundvierzig, wonach Vier wieder weiterfahren oder einen kompletten Reset durchführen musste.
Während das Fahrzeug stillstand und vor sich hin brummte, sprang Vier aus der Kabine. Er ging auf den Jungen zu, deutete mit beiden Armen in Richtung des Waldes neben der Straße. Doch der Junge, der seine Aufmerksamkeit auf Vier gerichtet hatte, rührte sich nicht.
Vier blieb nichts anderes übrig, als genau das zu tun, was die Firma streng verboten hatte. Er musste den Jungen entfernen. Als Vier auf ihn zuging, rechnete er nicht damit, dass der Junge irgendwie reagieren würde, doch zu seiner Verblüffung hob der Junge die Arme und ließ sich hochheben.
Der Junge wog praktisch nichts. Von Weitem hatte er unglaublich dünn ausgesehen, wie die meisten Kinder in der Gegend, aber das hatte Vier nicht auf das seltsame Gefühl vorbereitet, ein menschliches Wesen im Arm zu halten, das hohl zu sein schien. Der Junge hatte das Gewicht einer Marionette. Eingedenk der Zeit, die Vier noch blieb, vielleicht zwanzig Sekunden, lief er mit dem Jungen zum Straßenrand, stellte ihn sicher dort ab und hastete zurück in die Kabine.
Als er sich setzte, sah er auf dem Zähler, dass er noch drei Sekunden hatte. Er hatte es rechtzeitig geschafft und ließ die RS -80 wieder anfahren. Als er aufblickte, fürchtete er und rechnete schon fast damit, dass der Junge wieder an derselben Stelle mitten auf der Straße stehen würde. Doch dem war nicht so. Er hatte sich nicht von dort, wo Vier ihn hingestellt hatte, wegbewegt. Und als die Maschine an ihm vorbeifuhr, spürte Vier eine immense Erleichterung, dass der Junge in Sicherheit war, dass die Maschine keinen Reset brauchte und er seinen Zeitplan einhalten würde. Vier winkte dem Jungen in der törichten Hoffnung, dass das, was immer sie gerade getan hatten, jetzt erledigt war, doch der Junge winkte nicht zurück. Er stand nur da und blickte mit der gleichen sonderbaren Neugier wie zuvor in seine Richtung.
Die letzte Stunde des Tages verlief ohne weitere Anomalien. Aber er sah Neun nicht. Als Vier den ersten Pod des nächsten Tages erreicht hatte, schaltete er die RS -80 aus. Er nahm das Zelt aus dem Gepäckfach, fand eine geeignete Stelle auf der Straße und baute es auf. Er entrollte seinen Schlafsack und legte sein Messer und seine Pistole hinein. Er trat aus dem Zelt und hielt Ausschau nach Neun, konnte aber keine Spur von ihm entdecken. Bis Sonnenuntergang war es noch eine Stunde.
Vier kehrte ins Zelt zurück und legte sich hin, um vor dem Abendessen vielleicht ein bisschen zu schlafen. Doch als er die Augen schloss, konnte er nur an den Jungen denken. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn, der nagende Verdacht, dass mit dem Kind irgendetwas nicht stimmte oder mit der Situation, in der es sich befand. Vier vermutete sogar, dass der Junge noch immer genau dort stand, wo er ihn zurückgelassen hatte. Und auf einmal kam Vier der Gedanke, dass der Junge sich verirrt hatte, dass er erwartet hatte, Vier würde ihm helfen, zurück zu seiner Familie zu finden. Stattdessen hatte Vier ihn einfach von der Straße getragen und war weitergefahren.
Vier rief sich in Erinnerung, dass es nicht Teil seines Auftrags war, Jungs zu tragen, geschweige denn, sie zurück zu ihrer Familie zu bringen. Andererseits war es erst fünf Uhr, und Vier hatte noch mindestens neunzig Minuten lang Licht. Er hatte schon einmal mit dem Jungen interagiert, es würde also kein größeres Risiko bedeuten, wenn er es ein zweites Mal tat. Er konnte die RS -80 für ein paar Minuten allein lassen, wenn er sie im Auge behielt.
Er baute das Zelt ab, verstaute es im Fahrzeug und ging zurück in die Richtung des Jungen. Der Asphalt war noch warm unter den Füßen, der Haferflockengeruch schwach, aber überall um ihn herum. Als er die ansteigende Straße hinaufging, begutachtete er seine Arbeit und fand sie tadellos. Es war das erste Mal, dass er die fertige Straße richtig in Augenschein nahm – die Inspektion war normalerweise Aufgabe des zweiten Mitarbeiters auf dem Quad –, doch Vier fand es ungemein sinnvoll, die Straße jetzt zu sehen, zu sehen, wie der Asphalt sich setzte und abkühlte. Während er ging, rief Vier sich in Erinnerung, dass die Firma zu regelmäßiger körperlicher Bewegung riet. Er befolgte also gleich zwei Firmenanweisungen – Inspektion und Sport –, während er mit strammen Schritten zurück zu dem Jungen ging, eine Entfernung, die er auf rund zwei Kilometer schätzte.
Nach kurzer Zeit sah er den Jungen. Er stand nicht mehr, sondern saß am Straßenrand, nicht weit von der Stelle, wo Vier ihn zurückgelassen hatte. Der Junge sah Vier näher kommen, bewegte sich aber nicht. Er beobachtete Vier bloß mit seinen intelligenten Augen, bis Vier, der außer Atem war und seinen Overall durchgeschwitzt hatte, bei ihm war.
»Wo wohnst du?«, fragte Vier.
Der Junge machte keine Anstalten zu antworten. Er konnte Viers Sprache nicht verstehen. Vier machte eine Reihe von Gesten – eine Mutter, ein Vater, ein Haus, ein Bett, Essen, Trinken. Der Junge schaute aufmerksam zu und schien in jeder Hinsicht wach und sogar gewillt zu verstehen. Doch er sagte nichts und stand nicht auf und wirkte beinahe bewegungsunfähig.
Vier sah auf seine Uhr. Es war 17.40 Uhr. Er hatte knapp eine Stunde, um diesem Jungen zu helfen und zur RS -80 zurückzukehren und sein Zelt wieder aufzubauen, bevor es dunkel wurde. Er hatte keine Taschenlampe dabei.
»Da lang?«, fragte er den Jungen und zeigte in den Wald, der eine Seite der Straße säumte. Der Junge nickte.
»Okay«, sagte Vier und musterte die dichten Bäume. Er hatte vor, sich von dem Jungen den Weg zeigen zu lassen und ihn durch den Wald und nach Hause zu tragen. Er nahm den Jungen auf den Arm, wieder erstaunt über die Gewichtslosigkeit des Kleinen, und ging die Böschung hinunter dahin, wo die Bäume anfingen.
»Da durch?«, fragte Vier und zeigte.
Der Junge nickte wieder.
»Gut«, sagte Vier, der jetzt zuversichtlicher war. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Sache erledigt war. Der Junge hatte die Asphaltiermaschine gehört, war von zu Hause losgelaufen, um sie zu bestaunen, hatte sich verirrt, und jetzt brachte Vier ihn zurück zu seiner Familie. Der Zeitplan war nicht gefährdet, und diese Maßnahme könnte sogar ein positives Licht auf die Firma werfen.
Aber als sie durch die ersten paar Bäume hindurch waren, sah Vier wieder eines von den ominösen Schildern mit gelben Totenschädeln auf schwarzem Grund. Der Wald war vermint. Vier verharrte mitten im Schritt, einen Fuß in der Luft. Er blickte nach unten, suchte nach einem Zünder. Der Boden war mit Nadeln und Blättern bedeckt. Falls hier eine Mine lag, würde er sie nicht sehen.
Es war Wahnsinn, mit einem Kind auf dem Arm weiter durch einen verminten Wald zu irren. Er beschloss, denselben Weg zurückzugehen, den er gekommen war, und wusste, er würde bei jedem Schritt höllisch aufpassen müssen, um die Füße wieder genau dahin zu setzen, wo er zuvor aufgetreten war. Sieben Schritte. Er drehte sich um und trat behutsam mit den Außenrändern der Füße auf, um möglichst wenig Druck auf den Boden auszuüben, rechnete jeden Moment damit, das Klicken einer Mine zu hören, deren Zünder ausgelöst wurde, den tödlichen Splitter-und-Feuer-Ball zu spüren.
Wieder ein Schritt und noch einer. Der Junge war unheimlich ruhig, seine Hand lag sacht auf Viers Schulter. Vier hielt den Atem an und konnte die salzige Haut und das staubige Haar des Jungen riechen. Er wechselte den Jungen von einem Arm zum anderen, ganz vorsichtig, um nicht die Drucklast seines Körpers zu verändern, und machte dann die letzten paar Schritte hinaus ins Licht.
Vier wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als den Jungen zu der Stelle zurückzubringen, wo er ihn gefunden hatte. Vielleicht rechnen seine Eltern ja dort mit ihm, dachte er. Vielleicht haben sie ihn Richtung Straße gehen sehen und würden dort nach ihm suchen. Und so trug er den Jungen verlegen, sodass sein Arm als eine Art Thron für das Kind diente. Er trug ihn zurück zur Straße und die Böschung hoch. Er stellte die kleinen Füße des Jungen, so leicht, wie bei einem neugeborenen Rehkitz, auf den neuen Asphalt und trat zurück. Der Junge sah sich um, als würde er sich orientieren, und dann blickte er Vier an, als wüsste er, dass Vier ihn alleinlassen würde. Er beklagte sich nicht.
Von der Last des Jungen befreit, beugte Vier sich vor und würgte. Er ging in die Knie, nahm ein paar kurze Atemzüge. Er stand auf und lief hin und her und schlug sich auf die Oberschenkel. Die Nähe zum Tod, zu seinem Tod und dem des Jungen, nahm ihn stärker mit, als er gedacht hatte oder als ihm lieb war. Kontrolle, verlangte er von sich. Kontrollier das, dachte er. Kontrolle, Kontrolle. Er drehte sich ein letztes Mal zu dem Jungen um, winkte und ging zurück zur RS -80.
Er holte sein Zelt heraus und baute es auf, aß zwei Müsliriegel und eine Tüte Nüsse, und während er auf Neun wartete, überlegte er, was er ihm sagen würde, wenn er kam. Er stellte sich vor, wie er ihn anbrüllte, entschied sich aber für einen gleichmäßigen, eindringlichen Ton, durchsetzt mit sarkastischen Worten.
Als er sein Zelt aufgebaut und sein Bett hergerichtet hatte, trat er hinaus in die kühler werdende Abendluft und bemerkte erst da, dass er das Zelt im Schatten eines gewaltigen Felsblocks aufgebaut hatte. Er konnte nicht begreifen, dass er den übersehen hatte. Es gab weit und breit keine anderen von dieser Größe. Die Landschaft war bisher flach und frei von Felsen gewesen – Hunderte Kilometer von irgendwelchen Gebirgsausläufern entfernt. Dieser Gesteinsbrocken hatte sich in tausend Jahren nicht vom Fleck bewegt, aber er hatte eine leichte Neigung, die befürchten ließ, dass er jeden Moment ins Rollen geraten und dabei als Erstes Vier zermalmen könnte.
Er wollte sein Zelt versetzen, doch er wusste, das wäre irrational. Er konnte sich nicht abergläubischen und labilen Ängsten hingeben, daher ließ er das Zelt, wo es war. Drinnen öffnete er sein Bündel, überprüfte Messer und Pistole und legte die Waffen unters Kopfkissen und in den Schlafsack. Die ganze Zeit über fluchte er innerlich auf Neun. Es war Neuns Verantwortung, sich um solche Anomalien wie den Jungen auf der Straße zu kümmern. Neun konnte die Sprache und hätte sehr viel leichter in Erfahrung bringen können, woher der Junge kam und was er brauchte. Aber von Neun fehlte jede Spur, und er hatte es Vier überlassen, was nicht nur den Zeitplan gefährdete, sondern auch das Leben des Jungen und das von Vier.
Abgesehen davon, dass er sich verantwortungslos verhielt und seine Pflichten vernachlässigte, ließ Neun Vier nachts allein, was ausdrücklich gegen das Firmenreglement und jedes Sicherheitsverständnis verstieß. Es war immerhin denkbar, dass die Interaktion mit dem Kind von den Einheimischen bemerkt worden war und sie wütend gemacht hatte. Das war einer der Hauptgründe für die strikte Firmenpolitik, keinerlei Kontakt zur heimischen Bevölkerung aufzunehmen. Alle Äußerungen, Gesten und Handlungen konnten missverstanden werden und Verzögerungen, Diskussionen oder gar Vergeltungsmaßnahmen und Gewalt zur Folge haben. Vier hatte selten Angst, aber jetzt malte er sich aus, dass eine Gruppe von Männern käme, die über seinen Umgang mit dem Jungen wütend waren. Sie könnten ehrlich wütend sein oder die Sache als Vorwand benutzen, um ihn zu erpressen. Falls Männer kommen sollten, dann würden sie in dieser Nacht kommen, davon war er überzeugt. Er war der Stelle, wo er dem Jungen begegnet war und ihn getragen hatte, noch so nah, dass es ein Leichtes wäre, ihn zu finden. Wenn Neun da wäre, könnten sie sich zu zweit einigermaßen sicher fühlen. Aber Neun war nicht da.
Unmöglich, mit ihm zusammenzuarbeiten, würde Vier in seinen Bericht schreiben. Er war zu dem Schluss gelangt, dass ein Bericht nach diesem Einsatz unumgänglich war. Er würde die Firma nicht auf die gegenwärtigen Probleme aufmerksam machen, aber später, wenn er zu Hause war, würde er alles ausführlich erläutern. Lässt es an jeglicher Reife und Ernsthaftigkeit fehlen. Er würde dafür sorgen, dass Neun nie wieder für die Firma arbeitete. Außerstande, sich auf die anstehende Arbeit zu konzentrieren. Vier steckte sich seine Kopfhörer in die Ohren und drückte Play.