zurück
XVIII
Ein lauter Knall weckte Vier. Im dämmerigen Halbschlaf dachte er, er hätte eine Kanone gehört, doch als er sich aufsetzte, merkte er, dass da jemand von außen gegen das Zelt trat. Brüllende Stimmen erklangen ringsherum, und Fußtritte und Stockschläge prasselten auf das Zelt ein. Drinnen hörte es sich tief und wild an. Vier sah, dass Neun die Augen offen hatte und alles ganz genau mitbekam.
»Cousin?«, sagte Vier in der vagen Hoffnung, dass Cousin da war, aber sich einfach noch nicht bemerkbar gemacht hatte. Wieder trat jemand gegen das Zelt, und eine dröhnende Stimme brüllte durch das Nylon. Jetzt waren Hände am Reißverschluss des Zelteingangs. Das Schloss würde verhindern, dass der Reißverschluss aufgezogen wurde, doch Vier wusste, dass er nicht einfach im Zelt hocken und abwarten konnte.
»Pistole«, flüsterte Neun zu laut.
»Ich weiß«, flüsterte Vier. Er holte die Pistole aus seiner Bettrolle hervor und lud sie, so leise er konnte. Er versteckte sie in seinem Gürtel, öffnete das Zelt und kroch nach draußen.
Als er aufstand, sah er sich von acht Männern umstellt, von denen er keinen kannte. Das waren nicht die roten Baretts, die er zuvor gesehen hatte. Diese Männer trugen zusammengewürfelte Uniformen, und alle waren mit altmodischen Gewehren und Pistolen bewaffnet.
»Was ist hier los?«, fragte Vier.
Der Anführer der Männer ignorierte Vier, öffnete die Zelttür und steckte den Kopf hinein. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe herum, bis er Neun entdeckte.
Die Geschwindigkeit, mit der Vier und Neun gepackt, entwaffnet und auf die Ladefläche des Pick-ups verfrachtet wurden, war erstaunlich. Das Zelt wurde zusammengeknüllt und in die Fahrerkabine geworfen. Vier hatte den Männern begreiflich machen können, dass Neun krank war und nicht aufrecht sitzen konnte, deshalb legten sie ihn hin, während Vier neben ihm auf dem Radkasten saß. Zwei der Männer setzten sich zu ihnen auf die Ladefläche, die Gewehre träge auf Neuns ausgestreckte Gestalt gerichtet.
Der Pick-up fuhr los, die asphaltierte Straße zurück. Vier saß da, wechselte Blicke mit Neun, obwohl er sicher war, dass auch der nicht wusste, was sie machen sollten. Viers erster Eindruck war, dass es sich um eine simple Polizeiangelegenheit handelte, die mit Schmiergeld geregelt werden konnte. Aber das Verhalten der Männer Neun gegenüber hatte irgendwie persönlich entrüstet gewirkt, was vermuten ließ, dass es ihnen nicht um Geld ging. Die acht Männer verhielten sich eher wie eine wütende Bürgerwehr und nicht wie auf Lösegeld spekulierende Entführer.
Während der Fahrt durch die schwüle Nacht bot sich Vier unfreiwillig die Gelegenheit wertzuschätzen, wie erstaunlich glatt die Straße war, die er asphaltiert hatte. Er rechnete schon fast damit, dass auch einer der Männer sich irgendwie lobend darüber äußern würde, doch derlei Anerkennung blieb ihm verwehrt. Er sah zu, wie der Wald vorbeischwamm. Am Himmel waren weder Sterne noch Mond zu sehen.
Der Pick-up fuhr fast eine Stunde, ehe sich im Wald entlang der Straße eine Lücke auftat und sie auf einen Feldweg bogen, in den Regen und Überschwemmungen tiefe Furchen gegraben hatten. Der Wagen wurde heftig durchgerüttelt, und Neuns Gesicht war starr vor unterdrücktem Schmerz. Das Fahrzeug war für einen solchen Untergrund viel zu schnell unterwegs, und obwohl Neun versuchte, stoisch zu bleiben, schrie er jedes Mal unwillkürlich auf, wenn die Räder in ein Schlagloch gerieten und der Pick-up jäh absackte und schlingerte.
Sie hielten in einer kleinen Siedlung aus Backsteinbauten. Die Männer stiegen vor einem offiziell wirkenden Gebäude aus. Es war übersät mit Einschusslöchern, und eine Dachhälfte fehlte. Menschliche Silhouetten bewegten sich durch einige offenbar spärlich eingerichtete Räume. Sie holten als Erstes Neun von der Ladefläche und trugen ihn achtlos durch die Eingangstür, bogen seinen Körper um den Rahmen herum. Vier wurde hinterdreingeschubst, die Hände vor dem Körper gefesselt.
Drinnen waren weitere fünf Männer, von denen zwei Zivilkleidung trugen. Ein junger Mann in einem grünen Tarnanzug stand in der Ecke des Raumes, und am Schreibtisch saß ein müde aussehender beleibter Mann mittleren Alters. Seine Augen hinter einer silbernen Brille waren klein und rot unterlaufen. Seine massigen Hände lagen vor ihm auf dem wackeligen Tisch. Ein Stück des vorderen linken Tischbeins fehlte und war durch einen Stapel flacher Blechbehälter ersetzt worden, die für Vier aussahen wie Tellerminen. Neun war direkt vor dem Tisch, zwischen Vier und dem Mann, auf den Boden gelegt worden.
»Ich bin hier der Kommandeur«, sagte der Mann am Schreibtisch. Seiner Uniform nach schien er ein Rebellenkommandeur zu sein, dem jetzt in Friedenszeiten rechtliche Befugnisse erteilt worden waren. Vier hatte Männer wie ihn schon auf diesem Kontinent und auf anderen gesehen. Sie hatten kein Interesse an banaler Regierungstätigkeit; wenn im Überschwang internationaler Barmherzigkeit reichlich Mittel für den Wiederaufbau ins Land flossen, ging es ihnen nur darum, genug für sich selbst abzuzapfen, um dann ins Ausland zu gehen und ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken.
»Dem Mann da wird vorgeworfen, eine Frau aus diesem Dorf vergewaltigt zu haben«, sagte er. »Das da ist der Vater der Frau.« Der Kommandeur zeigte auf einen imposanten Mann, der hinter Vier stand. Er hatte einen riesigen Kopf, dichte schwarze Augenbrauen, die seine verängstigten Augen wie Vorberge schützten. Als er erwähnt wurde, drückte er den Rücken durch und neigte fragend den Kopf, als sollte er für ein Foto posieren, wüsste aber nicht genau, wie.
»Sir, dieser Mann ist sehr krank«, sagte Vier.
»Das sehe ich«, sagte der Kommandeur.
»Er kann im Augenblick keine Fragen beantworten«, erklärte Vier. Er wusste, dass er das Geschehen verlangsamen musste, damit es nicht im Wahn von Hektik und Nacht zu einer Gewalttat kam. »Der anstrengende Transport hierher hat ihn geschwächt. Können wir ihm nicht bis morgen früh Zeit lassen, sich auszuruhen?«
Vier beobachtete den Vater der Frau. Als der Kommandeur die Situation erklärte, war der Vater seltsam zuvorkommend, als hätte der Vorgang, dass zwei Ausländer hergebracht worden waren, die sich für die Tat verantworten sollten, und einer sogar jetzt vor ihm auf dem Boden lag, seine Erwartungen bereits übertroffen, und als könnte kein Aufschub ihm das wegnehmen, was er bereits erreicht hatte. Er nickte ernst, den Tränen nahe.
»Gut«, sagte der Kommandeur.