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XIX
Als Vier erwachte, auf einem Etagenbett in einem Nebenraum, saß der Kommandeur noch genau dort, wo er zuvor gesessen hatte: an seinem Schreibtisch. Er telefonierte jetzt mit einem Handy und lachte hin und wieder. Im Türrahmen konnte Vier die Schulter eines unterernährten Wachmanns sehen, dessen Gewehr zu Boden zeigte. An der Wand unweit vom Schreibtisch des Kommandeurs war ein niedriges Fenster. Es hatte keine Scheibe, nur drei verrostete Gitterstäbe, und auf der anderen Seite standen drei Kinder in Lumpen und schauten in den Raum wie Zuschauer im Theater.
Vier kniete sich hin und sah nach Neun. Er schien zu schlafen, doch Vier legte die Finger unter seine Nasenlöcher, um auf Nummer sicher zu gehen. Als er seinen leichten Atem spürte, setzte er sich wieder aufs Bett.
Den ganzen Morgen hindurch tätigte und erhielt der Kommandeur Anrufe, und Vier folgerte, dass er seine Möglichkeiten abwog. Schließlich kam er in das Zimmer.
»Und wie finden Sie die Unterkunft?«, fragte er, und Vier dachte, es könnte ihn wirklich interessieren.
»Können wir etwas Wasser für meinen Kollegen bekommen?«, fragte Vier.
Der Kommandeur gab dem Wachmann eine Anweisung, der lustlos verschwand und dann irgendwo im Gebäude klappernd nach einer Tasse suchte. Während sie warteten, veränderte sich der Tonfall des Kommandeurs. »Wie geht es mit der Straße voran?«
»Gut«, sagte Vier und dachte dann, dass er das Projekt als Druckmittel nutzen könnte, um die wie auch immer gearteten Vorgänge im Polizeirevier zu beschleunigen. »Aber unser Zeitplan ist sehr eng. Wir müssen so bald wie möglich weitermachen. Und bei allem Respekt, aber unser Gewahrsam hier gefährdet den Fertigstellungstermin. Wir haben nur noch vier Tage bis zur Parade.«
»Parade?«, fragte der Kommandeur. »Es gibt eine Parade? Was für eine Parade?«
Vier stutzte. Er hatte angenommen, die Parade wäre ein nationales Ereignis von großer historischer Bedeutung, vergleichbar mit einer Parlamentswahl oder einer Amtseinführungszeremonie. Doch die Ahnungslosigkeit dieses Kommandeurs verunsicherte ihn.
»Zur Feier der neuen Straße«, sagte Vier. Um die Wucht dieser Offenbarung zu dämpfen, fügte er hinzu: »Zumindest wurde mir das so gesagt. Die Straße wird eröffnet und mit der Parade eingeweiht.«
Der Kommandeur fand das offenbar logisch und einleuchtend, obwohl seine angespannte Mundpartie sein Missfallen darüber verriet, keine vorherige Kenntnis davon gehabt zu haben. Der Kommandeur blickte zu den Kindern hinüber, die durchs Fenster zuschauten, und versuchte, sie mit einem wüsten Armschwung zu verscheuchen. Sie rührten sich nicht von der Stelle.
Als das Wasser kam, aschfarbene Flüssigkeit in einem dreckigen Glas, tunkte Vier einen Zipfel seines Hemdes hinein und hielt ihn Neun an die Lippen. Das Wasser zu trinken, war nicht ungefährlich, daher tat er nur so, als würde er es Neun einflößen.
»Ist Ihr Freund jetzt in der Lage zu sprechen?«, fragte der Kommandeur.
Vier blickte zu Neun hinunter, der zustimmend die Augen schloss.
»Nein, er hat seit vielen Tagen kein Wort gesprochen«, sagte Vier. »Er glaubt nicht, dass er überlebt.«
Der Kommandeur blickte überrascht und alarmiert. »Ist das wahr? Was für eine Krankheit hat er?«
»Akute Malaria. Die Medikamente haben nicht angeschlagen. Wir waren zu spät. Wir vermuten, dass er bereits an Leberversagen leidet. Seine Haut ist ganz gelb.«
»Wieso haben Sie dann nicht ein Flugzeug angefordert?«, fragte der Kommandeur und klang empört über Viers Gleichgültigkeit.
»Haben wir«, log Vier. »Die Firma hat abgelehnt.«
Der Kommandeur blinzelte mehrmals, während er die Information verarbeitete. Vier wusste, dass ein Rebellenkommandeur wie er die Logik darin erkennen würde, dass knappe Ressourcen nun mal unerbittliche Entscheidungen erforderlich machten. Die Kinder vor dem Fenster schauten aufmerksam zu.
»Er hat keine Familie«, schob Vier nach. Er hatte einen resignierten und sachlichen Ton angenommen, als hätte er selbst das gleiche kalte Kalkül angestellt – dass Neun weder das Geld noch die Mühe wert war.
Das Geräusch eines näher kommenden Motorrads erfüllte den Raum. Der Motor wurde abgestellt, und Vier hörte laute Stimmen vor dem Gebäude. Die Kinder gingen, um nachzusehen, wer da war, und einer der Soldaten kam herein und sprach mit dem Kommandeur. Der Kommandeur, noch verblüfft und schockiert durch sein Gespräch mit Vier, stand auf und schien erleichtert, sich gedanklich ablenken zu können.
Er verließ den Raum und kam Augenblicke später zurück, dicht gefolgt von einem Mann. Es war Medaillon. Medaillons Augen glitten durch den Raum.
»Geht es Ihnen gut?«
Vier erwiderte, dass es ihnen gut gehe. Dann fiel ihm ein, dass er gesagt hatte, Neun könne nicht sprechen, und er schob nach: »Ihm geht es nicht besser. Er hat noch immer kein Wort gesprochen. Ich glaube, es ist bald vorbei.« Sie betrachteten beide Neuns graues Gesicht, und Vier und Medaillon konnten einen flüchtigen Blick wechseln, als sie sich beide wieder dem Kommandeur zuwandten.
»Sir«, sagte Medaillon. Er trat auf den Kommandeur zu und nahm leicht seine Hand. Sie gingen aus dem Raum, um sich unter vier Augen zu unterhalten, während Vier und Neun einander schweigend ansahen. Neuns Augen waren belustigt, das erste Mal seit vielen Tagen, dass Vier so ein Licht in Neuns Gesicht sah.
Als Medaillon zurückkam, allein, setzte er sich neben Vier auf das Bett. »Weil er weiß« – er zwinkerte ihm fast unmerklich zu –, »dass Neun im Sterben liegt, hat sich alles verändert. Wenn er ein gesunder Mann wäre, hätten wir eine komplizierte Situation. Es würde einen Gerichtsprozess geben, und Neun müsste ins Gefängnis. Vielleicht würde er gezwungen, die junge Frau zu heiraten. Aber in dieser Situation schlägt der Kommandeur eine Entschädigungszahlung für das Unglück der jungen Frau vor. Haben Sie Ihr Geld dabei?«
»Ja.«
»Darf ich sehen, was Sie haben?«
Vier griff in seinen Schuh und holte die gefalteten Geldscheine hervor. Sie waren nass von Schweiß, aber Medaillon achtete nicht darauf. Er nahm zwei Scheine aus dem Packen und steckte sie in die eigene Tasche. Medaillon starrte auf die übrigen Scheine. »Das wird reichen müssen«, sagte er. »Darf ich das nehmen?«
Vier erlaubte Medaillon, mit dem Geld zurück zum Kommandeur zu gehen. Gleich darauf hörte er, dass der Kommandeur laut und aggressiv verhandelte. Er war wütend über die läppische Summe, die er sich mit dem weinerlichen Vater würde teilen müssen, aber Medaillon konnte ihn schließlich beruhigen. Und dann kam er, um Vier und Neun zu holen.
»Wir sind fertig.«