Bitter-süß und traurig-schön – |
Er war ein schöner Mann,
ein Mann mit all jenem,
was lebenslange Sehnsucht bereitet.
Und die Sehnsucht ist eine traurige Sache,
aber ein wenig Freude ist auch dabei.
Milena Agus
Die Frau im Mond
Verliebte Menschen empfinden eine tiefe Sehnsucht nach dem anderen und vielleicht besteht ja die Verliebtheit aus nichts anderem als einer unendlichen Sehnsucht. Liebende Menschen scheinen dagegen mit der Sehnsucht gelassener umgehen zu können, sie können auch mal Trennungen ertragen, vielleicht weil sie um die Liebe des anderen schon wissen. Verliebte werden von ihrer Sehnsucht aber wahrlich umgetrieben, ausgezehrt und gepeinigt, sie empfinden jede Minute und jeden Zentimeter einer Trennung als unerträglich. Wenn der Weg in eine gemeinsame Zukunft frei erscheint, dann bekommt die Verliebtheit Flügel, aber wenn sie keine Aussicht auf Verwirklichung hat, wenn die Liebe unerreichbar und unmöglich erscheint, dann erhält die Süße der Verliebtheit einen ganz bitteren Beigeschmack.
So kann es nicht mehr weitergehen! Ich kann nicht mehr richtig essen, leide an Schlafstörungen, laufe wie traumwandelnd durch die Welt, kann mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren, mit meinen Gefühlen fahre ich Achterbahn und meine Phantasien machen mich schier fertig. Ich habe so einen ziehenden Schmerz in der oberen Bauchgegend, seitdem ich sie das erste Mal gesehen habe, und immer wenn ich an sie denke, tut es weh, es schmerzt richtig, aber ich fühle mich dabei lebendig. Wenn ich in ihrer Nähe bin, lässt dieser Schmerz etwas nach, je näher wir uns sind, desto besser geht es mir. Ich glaube, nur wenn ich sie in den Armen halten würde oder besser noch, wenn ich in ihr drin wäre, körperlich und seelisch, dann würde dieser Schmerz langsam vergehen. Irgendwie hatte ich von Anfang an das Gefühl tiefer Vertrautheit, als ob wir uns schon lange kennen würden. Da wir uns immer nur zusammen mit anderen bei Projektbesprechungen sehen, sind wir nie alleine. Die anderen stören mich langsam, am liebsten würde ich sie dann alle rausschicken. Das Gefühl des Verliebtseins kenne ich, da fühle ich mich immer leicht und beschwingt. Aber diese Sehnsucht habe ich so noch nicht erlebt, sie treibt mich langsam zum Wahnsinn, irgendetwas muss passieren! Tagsüber versinke ich immer öfter in Träumereien und gebe mich meinen Phantasien hin. Dann lieben wir uns in meiner Phantasie, wir sind immer zusammen, ich sehe ihre Augen vor mir, ihren Mund, ihren Körper, wir sprechen zärtlich miteinander und wenn ich aus den Träumen wieder in die Wirklichkeit zurückkehren muss, ist das wie eine kalte Dusche. Sie ist eine neue Kollegin, sie ist verheiratet und hat auch eine Familie, genauso wie ich. Es ist also ganz unmöglich, dass daraus etwas wird. Sie arbeitet in einer anderen Abteilung, deshalb sehen wir uns nur selten. Aber ich überlege mir immer öfter, unter welchem Vorwand ich in ihre Abteilung gehen könnte, wen ich dringend sprechen muss, um in ihre Nähe zu kommen. Neulich habe ich gar nicht gemerkt, wie ich zu ihr gegangen bin. Ich stand plötzlich vor ihrer geöffneten Zimmertür und sie lächelte mich an und fragte mich, ob ich mich verlaufen hätte. Ich habe nur Ja gestottert und bin schnell weitergegangen. Ich weiß nicht, ob es ihr auch so geht, manchmal sieht sie mich ganz intensiv an, und dann möchte ich am liebsten sagen: Wir sollten jetzt mal offen sein und uns unsere Liebe eingestehen! Aber dann sagt wieder eine Stimme in mir: Du spinnst, reiß dich zusammen, du hast einfach eine blühende Phantasie, sei endlich vernünftig! Sobald ich nachts wach werde, habe ich ihr Bild vor meinen Augen und gebe mich hemmungslos meinen Phantasien hin. Wie viel Zeit ich schlafe oder im Halbschlaf mit meinen Träumen von ihr verbringe, weiß ich gar nicht. Meine Phantasien sind Bilder voller Gefühle, alles in Farbe und unglaublich intensiv. Ich weiß nicht mehr, was zuerst da war, die Gefühle, die Phantasien, oder die Sehnsucht. Ich kann die Gefühle und meine Phantasien nicht mehr abstellen. Ist Sehnsucht eigentlich eine seelische Krankheit? Irgendwie fühlt es sich so an. Sagen Sie mir, was ich machen soll!
Sprechen Sie über diese Gefühle und Phantasien!
Aber das macht doch alles nur noch schlimmer! Dann werde ich Ihnen nur noch mehr von dieser Frau vorschwärmen und in meiner Sehnsucht zerfließen, das kann mir doch nicht helfen.
Doch, wir müssen Ihre Phantasien und Gefühle verstehen! Welche Bilder sind das? Welche Geschichten erzählen sie? Welche Bedeutung haben sie? Welche Beziehung besteht zu Ihrem realen Leben? Wohin werden Sie von den Phantasien und Gefühlen gezogen? Erst dann können wir Ihre Sehnsucht verstehen und Sie können besser mit ihr umgehen.
Das klingt für mich erst einmal nach Folter …
Ja, aber es ist doch nur eine Folter in der Phantasie und darin haben Sie ja jetzt schon ein wenig Übung. Stellen Sie sich einfach vor, Sie sind Odysseus und hören den Klang der Sirenen. Der hat sich an den Mast seines Schiffes gebunden, um nicht schwach zu werden. Und Sie binden sich bei mir in der Therapie an und erzählen mir von Ihrer Sehnsucht.
Meine Sehnsucht will aber, dass ich schwach werde und ich glaube, ich will das auch. Mich zieht alles zu ihr hin, richtig körperlich. Und gleichzeitig weiß ich, dass eine Beziehung total unmöglich ist. Es ist ausweglos, aber ich sehne mich sehr nach ihr.
Bevor Sie sich ganz dieser Sehnsucht hingeben, lassen Sie uns erst einmal versuchen, sie zu verstehen. Bitten Sie Ihre Sehnsucht, noch ein wenig zu warten und lassen Sie uns mit Ihren Gefühle und Phantasien beginnen. Schaffen Sie das?
Der Klient antwortete mit einem langen Seufzer und dann brach es aus ihm heraus. Am Anfang seiner romantischen Liebeserklärung schwärmte er nur von seiner neuen Kollegin, danach kam er offener auf seine eigenen Gefühle und seinen quälenden und wiederkehrenden Wunschphantasien zu sprechen. Es dauerte viele Stunden, bis er seine Sehnsucht, die durch diese Frau ausgelöst worden war, besser verstand. Und die Hintergründe dieser tiefen Sehnsucht waren viel älter als seine akute Verliebtheit. Viele Menschen glauben, die Sehnsucht würde erst durch die Begegnung mit der geliebten Person entstehen, aber das stimmt nicht! Sie wird durch sie nur ausgelöst. In der Therapie ging es nicht nur um seine bisherigen Liebesbeziehungen, sondern auch um seine derzeitigen Wunsch- und zukünftigen Lebensträume. Seine Sehnsucht hatte viel mehr mit seinem eigenen Leben zu tun als mit der Frau, das hatte ihn erstaunt.
Das Gefühl der Sehnsucht ist süß, hat aber in diesem Fall auch einen bitteren Beigeschmack, weil die Realisierung vollkommen unmöglich erscheint. Beide Partner sind verheiratet und haben Familie, eine Liebesbeziehung scheint von Beginn an ausgeschlossen. Nur in seinen Sehnsuchtsphantasien kann er mit ihr allein sein, ganz allein. Da stören keine Ehepartner und Familien, keine Arbeitsbeziehungen oder sonstige Realitäten. Die Sehnsucht hat ihn richtig geschmerzt, war aber dennoch intensiv und schön. Seine Frage nach dem Verhältnis von Gefühlen, Phantasien und Sehnsüchten beschäftigte mich noch eine ganze Weile. Bestehen zuerst Gefühle, die sich in Phantasien verwandeln und dann zu einer Sehnsucht werden? Oder entstehen zunächst Phantasien im Kopf, die dann mit Gefühlen besetzt werden und letztlich in eine Sehnsucht münden? Oder ist da zuerst eine Sehnsucht, die sich in Gefühlen und Phantasien bemerkbar macht und die betroffene Person wie ein Virus infiziert? Der Weg vom Gefühl zur Phantasie scheint der Normalfall zu sein.
Gefühle werden nicht immer von Phantasien begleitet, aber wenn dies so ist, dann haben sie meist etwas miteinander zu tun. Wenn wir uns betrogen, hintergangen oder auf andere Weise absichtlich geschädigt fühlen, dann werden Gefühle von Ärger, Wut und Zorn ausgelöst, die sich in der Realität, aber auch in der Phantasie Luft verschaffen können. Ob man gleich zum körperlichen Angriff übergeht oder die Wut nach einigen Rachephantasien wieder verflogen ist, hängt vom Temperament der betroffenen Person und ihrer Impulskontrolle ab. Wer seine Impulse im Griff hat, wird den Weg der Phantasie wählen. Hier kann die Phantasie dazu beitragen, starke Gefühle wieder abklingen zu lassen.
Wenn wir durch einen Unfall plötzlich einen geliebten Menschen verlieren, dann werden unsere Trauergefühle von Wunschphantasien begleitet, in denen der geliebte Mensch noch lebt. Da werden nicht nur Szenen des Lebens noch einmal geträumt, manchmal wird auch noch etwas getan oder gesagt, wozu man nicht mehr gekommen ist. Hier ist eindeutig ein Sehnsuchtsgefühl beteiligt, das sich die verlorene Person zurückwünscht. Das Gefühl des Trauerns über den Verlust ist die Voraussetzung für die Sehnsucht, aber ohne die Phantasie hätten die Trauer und die Sehnsucht keine Bilder und damit weniger Kraft. Je tiefer die Trauer ist, desto besser kann sie verarbeitet werden. Insofern ist die Phantasie für den Trauerprozess sehr wichtig.
Wenn wir uns gegenüber unseren Kindern ungerecht verhalten haben, wir sie beispielsweise für etwas bestraft haben, was sie gar nicht getan haben, dann entstehen Scham- und Schuldgefühle, für die wir uns in unserer Phantasie entschuldigen können. Hier hat die Phantasie eine wichtige Funktion, weil sie uns ein Probehandeln ermöglicht: In der Phantasie üben wir erst einmal, wie es sich anfühlt, sich bei den Kindern zu entschuldigen, können abschätzen, wie sie vermutlich darauf reagieren werden und ob sie die Entschuldigung annehmen, das eigene Verhalten also erfolgreich ist.
Wenn wir in Gegenwart eines anderen Menschen Ekelgefühle bekommen, dann kann dies für uns ein wichtiger Hinweis sein, dass wir die Nähe dieses Menschen nicht mehr ertragen können. Sofern es sich dabei um einen geliebten Menschen handelt, haben wir ein ernstes Problem. Das Hinterfragen des Gefühls kann uns dabei helfen, den Ekel genauer zu verstehen: Wann tritt er besonders auf? Worauf bezieht er sich? Wohin führt uns diese Ekelphantasie, wenn wir sie zu Ende denken? Und vielleicht hat der Ekel sogar mehr mit unseren eigenen früheren Erlebnissen zu tun als mit der aktuellen Beziehung (siehe unten: Ian MacEwan, Am Strand).
Besonders Ängste werden häufig von Phantasien begleitet, die einen Schlüssel zu ihrem Verständnis darstellen. Diese Angstphantasien sind meist sehr symbolisch und können daher sehr einfach entschlüsselt werden. Sie sind nicht nur bedeutsam für das Verständnis der Ängste, sondern auch für jede Veränderung und Hilfe. Wer eine große Angst vor dem Alleinsein hat, kann mithilfe der Phantasie diese Angst kennenlernen, verschiedene Erlebnisvarianten in der Phantasie durchspielen, Wege und Mittel entdecken, wann und wie die Angst beherrschbar sein könnte oder gar nicht mehr auftritt, welche anderen Personen in den Angstphantasien noch eine Rolle spielen und was die Angst verstärken oder hemmen könnte. Verlustängste basieren häufig auf der Erfahrung, im Leben allein gelassen oder gar plötzlich verlassen worden zu sein. In der Phantasien kann man diesen Gedanken nachgehen. Ängste ohne Phantasien sind viel schwieriger zugänglich. Man kann die Ängste in der Phantasie auch verschwinden lassen und dabei ihre Ursachen verstehen, aber auch die Möglichkeiten zur Veränderung erproben.
Alle menschlichen Gefühle können von Phantasien begleitet werden, sie können sie unterstützen, verstärken, ausschmücken, verstehen lassen, bebildern, ersatzweise befriedigen und vieles mehr. Die Verliebtheit ist ohne begleitende Phantasien nahezu undenkbar. Die Liebe erfasst uns als ganze Person und unsere Phantasie kann sich dem nicht entziehen, es wäre schon erstaunlich, wenn dem nicht so wäre. Verlieben ist aus psychologischer Sicht die Idealisierung eines Sexualpartners. Hier werden Ideale auf den Partner projiziert, die diesen zu einem wunderbaren, einzigartigen und idealen Menschen machen. Wenn das Gleiche auch vom anderen gemacht wird, dann ist man nicht nur mit dem idealen Partner zusammen, sondern man erscheint dem anderen auch ideal und daraus entsteht in der Phantasie die einzige, wahre, große Liebe des Lebens. Gegenseitige Idealisierungen sind also nah am Himmel, aber ihre Basis ist noch rein psychologisch, denn es sind erst einmal nicht viel mehr als gegenseitige Projektionen am Werke. Dieses psychologische Startkapital müssen die Verliebten nutzen, um den Weg in die reife Liebe und Intimität zu finden.
Die schönsten Beispiele für die unendlich kreativen Auswirkungen der Gefühle der Verliebtheit in der Phantasie sind immer noch Liebesgedichte. Eines der ältesten, schönsten und berühmtesten Exemplare der Lyrik ist das Hohelied Salomons. Es ist datiert auf ca. 300 v. Chr. und gilt als älteste Liebesdichtung des Alten Testaments. Hier spricht die Liebe in der Sprache der Phantasie.
Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold. Seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie Augen der Tauben an den Wasserbächen mit Milch gewaschen und stehen in Fülle. Seine Backen sind wie Wurzgärtlein, da Balsamkräuter wachsen. Seine Lippen sind wie Rosen, die von fließender Myrrhe triefen. Seine Hände sind wie goldene Ringe, voll Türkise. Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt. Seine Beine sind wie Marmelsäulen, gegründet auf goldenen Füßen. Seine Gestalt ist wie Libanon, auserwählt wie Zedern. Seine Kehle ist süß, und er ist ganz lieblich. Ein solcher ist mein Freund; mein Freund ist ein solcher, ihr Töchter Jerusalems!2
Gefühle und Phantasien beflügeln sich gegenseitig. Je mehr die Liebesgefühle erwidert werden, desto produktiver wirken sie sich auf die Phantasie aus. Ja, die Phantasieproduktion wird durch die Liebe auf geradezu berauschende Weise angeregt. Beide Partner können sich durch die Stimulation ihrer Phantasie gegenseitig zu wahren Höhenflügen der Liebe herausfordern. Was aber passiert mit den Gefühlen und Phantasien, wenn die Antwort des Geliebten ausbleibt? Wenn die Liebe eine einseitige ist? Oder wenn der andere nicht antworten kann, weil er gar nichts davon weiß? Wie lange und wie stark kann eine Phantasie in einer Person bestehen bleiben, ohne beantwortet zu werden? Wird dann die Sehnsucht ins Unendliche gesteigert oder gibt sie irgendwann auf?
Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Partner würde im Gefängnis sitzen und wäre zu zwei Mal lebenslänglich verurteilt. Sie könnten Briefe schreiben, die alle zensiert und daher zum Teil nicht durchgelassen würden, und sie würden aus dem gleichen Grund nur sehr selten eine Antwort bekommen. Wie lange würden Sie diese Liebe erhalten können? Wie lange würden Sie dennoch Briefe schreiben? Wie lange würden Sie den Menschen im Gefängnis als Ihren Partner ansehen? Als den einzig wahren? Ist es eine Frage, wie stark die Liebe ist? Reicht das Gefühl der Liebe und könnten Sie die fehlende Beziehungswirklichkeit allein durch Ihre Phantasie ersetzen? Es gibt eine Liebesgeschichte in Briefen, die darauf eine Antwort gibt.3
Xavier ist als politischer Häftling zu zwei Mal lebenslänglich verurteilt worden und seine Geliebte Aida schreibt ihm regelmäßig Briefe ins Gefängnis. Sie schreibt ihn in phantasievoller Weise an: Mein Erdlöwe, Mi Guapo, Habibi, Mi Soplete, mein Kanadim, Ya Nour, Hayati oder einfach mein Schweißer. Sie berichtet aus ihrem alltäglichen Leben, lässt ihn aber nicht nur an den Belanglosigkeiten, Begegnungen und Problemen teilhaben, sondern vor allem an ihrer Intimität, an ihren Gedanken, Gefühlen, Ängsten und Lebensfragen. Und aus allen Briefzeilen klingt die feste Überzeugung heraus, dass sie sich eines Tages wiedersehen werden. Sie ist sich sicher, dass sie ihre Liebe wieder gemeinsam leben werden, und bis dahin hat sie anscheinend beschlossen, die Zeit mit ihrer Phantasie und den Briefen zu füllen. So schreibt sie:
Mi Guapo,
als kleines Mädchen besaß ich eine Federsammlung. Fast zweihundert Stück von siebenundzwanzig Arten. Für jeden Vogel ein eigener Umschlag. Wir haben nie oft über unsere Kindheit gesprochen, stimmt’s? Ich freue mich darauf, dass wir das tun werden, inshallah. Wenn Menschen sich verlieben, sprechen sie immer gern über die Kindheit, aber wir taten das nie. Warum, meinst du? Ich denke, ich weiß es, aber ich finde nicht die richtigen Worte. Doch wenn du entlassen wirst, werde ich sie finden.4
Er wird niemals entlassen werden, es sei denn, es geschieht ein Wunder, wie eine Generalamnestie. Insofern hat ihre Phantasie etwas Trotziges und Stolzes. Sie verweigert der Realität die Anerkennung, setzt sie willentlich außer Kraft und an ihre Stelle eine Sehnsucht. Das ist eine starke Haltung, wirft aber die Frage auf, wie sie in den Momenten des Zweifels mit ihrer ausweglosen Lebenssituation umgeht. Was macht der Zweifel mit der trotzigen Phantasie?
Auch er weiß von der Ausweglosigkeit und der Perspektivlosigkeit ihrer Beziehung, aber er ist in einer anderen Situation. Zum einen hat er als Gefangener keine Alternative zu dieser Liebesbeziehung. Zum anderen kann er ihr nicht offen antworten, weil seine Briefe von der Gefängnisleitung nicht nur kontrolliert, sondern im Zweifelsfall auch zurückgehalten werden. Also schreibt er in Bildern, Anekdoten, kleinen Geschichten oder Anspielungen, die nur sie versteht. So benutzt er ihre gemeinsame Intimität, die in den Jahren vor seinem Gefängnisaufenthalt entstanden ist zur geheimen Verständigung und verstärkt damit zugleich diese Intimität. Intimität bedeutet, dass ein Text symbolisch zu lesen ist. So wird der folgende Text von Aida wahrscheinlich ganz anders gelesen und verstanden als von allen anderen. In dieser Intimität liegt die Stärke ihrer Beziehung und ihrer Sehnsucht.
Traum: Das Universum lag vor mir wie ein offenes Buch. Ich schaute hinein. Die rechte obere Ecke der rechten Seite war eingeschlagen, ein Lesezeichen. Und auf dem schmalen Dreieck des gefalteten Papiers war das Geheimnis der Materie notiert – es war so elegant und bündig wie ein Fraktal. In meinem Traum war ich dadurch so beruhigt, dass ich gar nicht daran dachte, es mir zu notieren.5
Sie schreibt ihm nicht nur Briefe, sie versorgt ihn auch mit wichtigen Lebensmitteln. Sie schickt ihm Bücher, Zigarren, Seife, alles für den täglichen Bedarf, und sie steckt immer so viele Exemplare in ein Paket, dass er einige wenige davon auch wirklich bekommt, denn das meiste behalten die Gefängnisaufseher.
Mi Guapo,
hast du das Buch von N. K. erhalten? Ich sitze auf dem Dach, die Sonne geht unter, und ich habe über Handy mit unseren Freunden gesprochen, die in Krokodilopolis unter Granatenbeschuss stehen. Sie erzählen sich Witze, Witze! … Gustavo, der Schuster, ist alt und stirbt. Über der Arbeit an einem Paar Sandalen gibt er in seinem Laden den Geist auf. Ein Engel begleitet ihn gen Himmel. In einem bestimmten Moment sagt der Engel: Wenn du möchtest, kannst du jetzt zurückschauen und die Pfade deines Lebens sehen. Der Alte tut es und erblickt die lange Spur seiner Schritte. Aber etwas erstaunt ihn. Wie kommt es, fragt er, dass meine Fußspuren zwei- oder dreimal abbrechen, für eine längere Strecke, als ob mein Leben vorbei und ich gestorben sei? Wie ist das möglich? Aber der Engel lacht und erwidert: Da habe ich dich ein Stück getragen.6
Und auch Xavier antwortet mit einer Geschichte zu seiner Sehnsucht:
Yakov, ein siebenjähriger Junge, fragt seinen Freund: Wie ist es nur möglich, dass die Menschen mit so kleinen Augen alles sehen können? Sie sehen die ganze Stadt, erkennen den riesigen Boulevard, wie passt das alles nur in so kleine Augen? Na, Yakov, sage ich, denk nur an all die Insassen in diesem Gefängnis, rund tausend Menschen. Und denk dir, wie ihre Augen aus Sehnsucht nach der Welt da draußen groß werden. Wie geht das nur, denkst du dir, Yakov, dass so viele Augen an einem so kleinen Ort zusammengepfercht sind?7
Sie bleibt in ihrer Liebe fest, auch wenn sie selten eine Antwort erhält:
Wieso empfinde ich, wenn ich in der Leere der Nacht »Ich liebe dich« sage, etwas Grenzenloses, wie kann das nur sein? Die Stille ist genauso absolut wie zuvor. Ich habe keine Antwort von dir erhalten. Es hat nur meine Liebeserklärung gegeben. Und doch bin ich erfüllt. Wovon? Warum kehrt der Verzicht als Geschenk zu dem zurück, der verzichtet? Wenn wir das verstehen, haben wir keine Furcht mehr, Ya Nour. Ich liebe dich.8
Auch er antwortet in seinem letzten Brief mit dem gleichen Optimismus:
Wenn ich daran denke, was wir vor zwanzig Jahren gemacht haben, bin ich immer betroffen von der gefährlichen Ungewissheit, die wir, in unseren Kampf verstrickt, meistens übersahen oder gar nicht in den Blick bekamen. Angesichts dessen, was wir heute zu bestehen haben, ist das eine seltsame Bestätigung, denn es zeigt, dass die Ungewissheit unsere Stärke ist.9
Die beiden haben anscheinend nicht »nur« eine Liebesbeziehung, sondern darüber hinaus eine gemeinsame bindende Idee in Form einer politischen Orientierung, die der Beziehung zusätzlich einen besonderen Halt und eine Widerstandskraft gibt. Diese Idee wird durch die Briefe weiterhin genährt, obwohl sie niemals direkt angesprochen wird. Ihre gemeinsame politische Aktivität bestand tatsächlich vor Jahren einmal, insofern ist sie nicht rein fiktiv und sie wird als gemeinsame Sicht der Welt immer wieder aktiviert.
Solche bindenden Ideen finden sich auch jenseits politischer Ambitionen im Alltag von Partnerschaften und zeigen, dass man an einem Strang zieht, ein gemeinsames Lebensziel hat, eine Sehnsucht teilt. Im Kleinen kann dies ein Haus im Grünen sein oder eine große Reise. Meistens sind es aber nicht materielle Dinge, auf die sich die Sehnsucht bezieht, sondern Lebenskonzepte. Wie und wo das Paar einmal leben will, ob es Kinder will oder nicht, wenn ja, wie viele es sein sollen, wie die familiäre Arbeitsteilung gestaltet werden soll, wie jeder seine Interessen oder Hobbies leben kann. Oder es sind einfach nur gemeinsame Träume, die eine Weile im Alltag verborgen schlummern können und sich dann wieder machtvoll melden.
Vor vielen Jahren hatte ich ein Paar in Therapie, das nach wenigen Sitzungen ein akutes Problem gelöst hatte. Sie hatten beide das Gefühl, dass es noch sehr lohnend sein könnte, sich andere Bereiche ihrer Beziehung, auch ihrer individuellen Persönlichkeit, genauer anzusehen. Als sie darüber allein zu Hause sprachen, kam ihnen eine alte Sehnsucht in den Sinn: einmal gemeinsam für mehrere Wochen mit einem Motorrad durch Südfrankreich zu fahren. Es sollte eine nachgeholte Hochzeitsreise sein, die sie nie gemacht hatten. Da für die Paartherapie und die Reise das Geld nicht reichte, mussten sie sich entscheiden: Entweder wir gönnen uns eine richtig vertiefte Paartherapie oder wir erfüllen uns einen alten Traum. Sie haben mir dann berichtet, dass sie sich für die Motorradfahrt durch Südfrankreich entschieden haben. Ich glaube, sie haben sich richtig entschieden, ich habe bis heute nichts mehr von ihnen gehört – und das ist aus therapeutischer Sicht immer ein gutes Zeichen.
Sehnsucht hat eine ohnmächtige Seite, obwohl diese von den Sehnsüchtigen gern ignoriert oder gering geschätzt wird. Denn der Schmerz und die Bitterkeit über die Ausweglosigkeit gehören zur Sehnsucht dazu, sie sind ein elementarer Teil von ihr. Man kann dieser Ausweglosigkeit nachgeben und darauf warten, dass die Sehnsucht langsam und schadlos vorbei geht, oder man kann die Kraft der Sehnsucht nutzen, um das Unmögliche eben doch möglich zu machen.
Allerdings stellt sich eine solche Frage selten als eine bewusste Entscheidung auf der Grundlage einer rationalen Abwägung. Nur bei psychisch gesunden und selbstreflexiven Menschen oder im Rahmen von Therapien geschieht dies vielleicht. In den meisten Fällen des Alltags werden diese Entscheidungen wohl eher aus dem Bauchgefühl heraus getroffen, also in der Regel unbewusst.
Ian MacEwan hat in seinem Buch Am Strand die Geschichte eines Paares beschrieben, das mit der Sehnsucht den Kampf gegen die Vergangenheit aufgenommen hat, allerdings ohne dies zu wissen. Anscheinend hatte sich Florence unbewusst vorgenommen, mithilfe ihrer Sehnsucht nach einer Liebesbeziehung, glücklichen Ehe und harmonischen Familie zu beweisen, dass ihre frühen Erfahrungen dies nicht verhindern können. Florence war von ihrem Vater sexuell missbraucht worden und hatte diese Erfahrungen dissoziiert, sozusagen ihrer Erinnerung entzogen. Sie wusste nichts mehr davon, und sie wäre nie darauf gekommen, dass ihre tiefe Abneigung gegen alles Sexuelle damit zusammenhängen könnte. Denn sie liebte ihren Vater.
Florence und Edward hatten geheiratet und sich noch in der Hochzeitsnacht endgültig getrennt – und danach nie wiedergesehen. Florence hatte den tiefen Ekel vor einem sexuellen Kontakt mit ihrer Sehnsucht nicht überwinden können. Edward wusste von alledem nichts, er war ein verklemmter junger Mann, der es respektiert hatte, dass Florence vor der Ehe keinen Sex wollte. Aber in Edward brodelte es:
Seit mehr als einem Jahr war Edward von dem Gedanken daran wie benommen, dass der empfindlichste Teil seiner selbst an einem bestimmten Tag im Juli für eine gewisse Zeit, und sei sie noch so kurz, in der natürlichen Höhlung dieser fröhlichen, liebenswerten und so außerordentlich intelligenten Frau weilen würde. Die Frage, wie dies ohne Enttäuschungen oder Peinlichkeiten zu bewerkstelligen war, ließ ihm keine Ruhe.10
Er war sexuell unerfahren und ging davon aus, dass er der Grund der nahenden Katastrophe in der Hochzeitsnacht sein würde. Aber da wusste er noch nichts von Florence’s Ekel und dessen Hintergründen, die nicht erinnert werden konnten.
Florence wurde von ihrer Mutter emotional vernachlässigt, so dass der Vater mit seiner sexualisierten Zuwendung nicht zurückgewiesen werden konnte. Sie beschreibt ihre Mutter als unkörperlich, von ihr kannte sie keine Umarmung, keinen Kuss, nicht einmal eine zärtliche Berührung. Dagegen hatte ihr Vater sie immer auf seine Geschäftsreisen mitgenommen, bei denen sie im selben Hotelzimmer übernachteten.
Als sie mit Edward ihre Hochzeitsnacht in dem Hotel am Strand feiern will passiert es, dass ein Geruch die verdrängten Gefühle aktualisiert:
Und dann drängte sich die Vergangenheit, die so undeutlich erinnerte Vergangenheit, doch noch zu ihr vor. Es war der Meergeruch, der alles heraufbeschwor. Sie war zwölf Jahre alt, lag reglos wie jetzt, wartete nackt und zitternd in einer schmalen Koje aus lackiertem Mahagoni. Ihr Kopf war leer; sie fühlte, dass sie Schande über sich brachte … Es war spät am Abend, und ihr Vater zog sich im Zwielicht der engen Kabine aus, genau wie Edward es gerade tat.11
Sie hatte vielleicht gehofft, dass ihre Sehnsucht, ihre Liebe und ihr eigenes sexuelles Verlangen diese Gefühle abtöten oder zumindest überwinden würden. Florence musste ihn nah bei sich spüren, sonst ließ sich die dämonische Angst nicht unterdrücken, die sie zu überwältigen drohte. Sie musste wissen, dass er bei ihr war, an ihrer Seite, dass er sie nicht missbrauchte.12 Da ist der Missbrauch angesprochen, der ansonsten im Nebel der unklaren Erinnerungsfetzen, der Scham, der Schuld und des Ekels gefangen war. Und was sie dann sagt, ist ihr ganz ernst, nur versteht es Edward nicht: Vielleicht sollte ich in psychologische Behandlung gehen. Vielleicht sollte ich auch lieber gleich meine Mutter umbringen und meinen Vater heiraten.13 Sie war nie wieder so nah an der Wahrheit, hätte es beinahe geschafft, aber die Verletzungen saßen zu tief, auch bei Edward. Danach bekam die Sehnsucht in ihrem Leben keine zweite Chance mehr, gegen die Geister der Vergangenheit zu kämpfen, sie hatte diesen Kampf verloren.
Wir haben gesehen, dass der Weg vom Gefühl zur Phantasie normal ist, dass Liebesgefühle sich selbst immer mehr mit Phantasie anreichern und dies wiederum die Gefühle verstärkt. Wie verläuft der umgekehrte Fall? Wie kann aus der bloßen Phantasie ein Gefühl werden? Und wie kann dabei auch noch eine Sehnsucht entstehen, die zuvor gar nicht empfunden wurde? Es ist die Phantasie einer Wirklichkeit, die bislang gar nicht wahrgenommen wurde, weder im Denken noch in den Gefühlen. Und wenn der Verdacht über eine mögliche Wirklichkeit zur Gewissheit wird, dann brauchen die Gefühle manchmal nur Sekunden, um sich machtvoll einzustellen. Kann sich aus der Phantasie auch eine Sehnsucht ergeben? Ja, wenn die Sehnsucht aus bislang unbefriedigten Bedürfnissen besteht!
Zuerst entsteht eine unklare und ungeheure Phantasie, die man immer wieder zurückdrängt, weil man sie einfach nicht wahrhaben will. Aber je konkreter und wahrscheinlicher diese Phantasie wird, desto stärker werden die Gefühle, die dann manchmal kaum noch kontrollierbar erscheinen. Sie entstehen zeitverzögert im Gefolge der Phantasien und drängen dann stark in den Vordergrund des Erlebens. So berichtet eine Klientin aufgebracht:
Ich hatte anfangs nur so einen Verdacht. Er ging mir aus dem Weg, wir hatten keinen Sex mehr und neuerdings ging er zum Telefonieren immer ins Bad. Das kam mir dann doch komisch vor. Als ich ihn darauf ansprach, tat er so, als würde ich Stimmen hören und spinnen. Dann hatte er eines Tages sein Handy zu Hause vergessen. Ich wusste eigentlich schon, was mich erwartet, bevor ich anfing, die Mitteilungen in seinem Handy zu lesen. Ich wollte nicht spionieren, aber mir auch nicht sagen lassen, dass ich spinne. Danach bin ich gleich an seinen Computer gegangen. Ich kannte sein Passwort und bin in sein E-Mail-Postfach gegangen. Als ich merkte, wie all meine Phantasien, die ich vorher gehabt hatte, bittere Wirklichkeit wurden, holten mich meine Gefühle ein. Ich habe erstmal nur geschrien und dann heulend meine Sachen gepackt. Bevor ich ging, hatte ich mir noch die gesamte E-Mail-Korrespondenz mit dieser Tussi ausgedruckt. Damit hatte ich den Beweis, dass ich nicht spinne. Als er am Abend von der Arbeit kam, war ich weg.
Sie war verletzt und gekränkt, erst viel später hatte sie sich nochmal mit ihrem Ex-Partner getroffen und über ihre gemeinsame Beziehung geredet. Das Vertrauen war für sie verloren gegangen und damit war die Beziehung für sie beendet gewesen. Es wäre alles verständlich, wenn nicht die Sehnsucht sie daran erinnern würde, dass in ihrer Logik irgendetwas nicht stimmen konnte. Sie hatte die Phase seiner Verliebtheit in die andere Frau anscheinend nicht mitbekommen, sie hatte sie schlicht verpasst. Dass er alles dafür getan hatte, sie nichts merken zu lassen, versteht sich von selbst und ist ein Teil der Erklärung, aber nicht die ganze. Es geht auch nicht um die Zeit des konkreten Betruges, sondern um die Zeit davor. Sie hatte anscheinend seine Unzufriedenheit nicht bemerkt, sie hatte einfach nicht mitbekommen, wie er sich von der Beziehung entfernte. Einer Liebesaffäre geht in der Regel eine längere Zeit der partnerschaftlichen, sexuellen und kommunikativen Unzufriedenheit voraus und genau diese Phase hatte sie anscheinend versäumt. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen und zu wenig mit der Partnerschaft. Dies ist der Zeitraum, auf den sich die Sehnsucht bezieht. Was wäre in ihrem Leben anders gelaufen, wenn sie achtsamer gewesen wäre? Was hätte aus ihr und ihrer Partnerschaft werden können?
Und die Sehnsucht wünscht sich diese Zeit zurück und die darin enthaltenen Möglichkeiten. Die Sehnsucht will noch einmal in der Zeit zurück und etwas korrigieren, einige Worte sagen, die nicht gefallen sind, einige Dinge tun, die nicht gemacht wurden, einige Chancen nutzen, die verpasst wurden. Die Sehnsucht nach den schönen Seiten der Beziehung kam erst viel später wieder, als die Klientin schon in der nächste Beziehung war. Sie hatte beim nächsten Mann gemerkt, dass in der letzten nicht alles schrecklich gewesen war und sich gefragt, was sie für ihr Leben vielleicht verpasst und wo sie nicht aufgepasst hatte. Manchmal beginnt eben die Aufarbeitung einer Beziehung erst, wenn sie schon lange vorbei ist.
Kann eine solche Sehnsucht der verpassten Chancen auch entstehen, wenn der Partner, auf den sich die Sehnsucht bezieht, bereits gestorben ist? Natürlich! Und manchmal sogar noch viel heftiger, eben weil der andere nicht mehr lebt und es daher in diesem Leben keine Möglichkeit der Korrektur mehr gibt. Wenn der ehemalige Partner noch lebt, kann man sich noch einmal sehen und miteinander reden, kann bislang nicht gesagte Worte aussprechen, sich austauschen, entschuldigen, bedauern, sich versöhnen. Wenn der Partner gestorben ist, bleibt nur die Möglichkeit des inneren Dialogs, des Gesprächs mit anderen Angehörigen oder des Gesprächs am Grab. Dabei kann die Erinnerung quälen. Es kann durchaus noch einmal eine Eifersucht aufkommen und dahinter kann noch einmal eine schwere Sehnsucht entstehen, die schwermütig den verpassten Chancen nachhängt. Die Gefühle und Phantasien können nach dem Tod des Partners noch einmal so intensiv werden, wie sie vielleicht zu Lebzeiten niemals waren. Es ist wie eine späte Rache der Sehnsucht.
Seine Frau ist nur wenige Monate nach seiner Pensionierung gestorben. Er hat sie zu Hause gepflegt, sie hatte Brustkrebs. Nach ihrem Tod hat er sich um die Versicherungen und die anderen Formalitäten gekümmert und ihren letzten Willen ausgeführt, damit die Kinder alles bekamen, so, wie sie es gewollt hatte. Danach trat erst einmal eine tiefe Leere in seinem Leben ein, die er durch ziellose Spaziergänge und zuviel Alkohol zu füllen versuchte. Er fühlte sich wie aus dem Leben gefallen, und fiel immer noch. Seine Trauer war einsam und zurückgezogen.
Eines Tages kam ein Brief für seine Frau, den er öffnete, weil sie nun mal nicht mehr lebte. Er war von ihrem ehemaligen Liebhaber, von dem er bis zu diesem Zeitpunkt nichts wusste.
Er war zuerst nur verwundert, dann fühlte er sich betrogen und bestohlen; seine Frau hatte ihn um etwas betrogen, was ihm gehört hatte und doch gebührt hätte, und der andere Mann hatte es ihm gestohlen. Er wurde eifersüchtig.14
Kann man auf eine Beziehung eifersüchtig sein, die längst nicht mehr besteht? Ja, wir kennen dies alle in Bezug auf die früheren Partnerschaften unseres Partners. Wir wollen dabei nicht nur erfahren, dass alle vorherigen Partnerschaften im Vergleich zu der mit uns minderwertig waren, sondern es sind auch kleine Trennungsübungen, damit unsere Verlustängste gemindert werden. So wie Kinder an den Kuscheltieren ihre ersten Trennungserfahrungen machen, um das Trennen zu lernen und zu üben, so üben wir den Umgang mit einem möglichen Verlust unseres Partners mithilfe der früheren Partnerschaften, also anhand relativ sicherer Beispiele, denn die Beziehungen sind vorbei.
Eifersucht kennzeichnet die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber wenn der Mensch schon tot ist, wie kann man ihn dann noch einmal verlieren? Der reale Verlust durch den Tod ist etwas anderes als ein psychischer Verlust durch eine Liebesaffäre. Auch das wissen wir von Kindern: dass sie mit dem Tod eines Elternteils manchmal besser umgehen können als mit dem Verlust des gleichen Elternteils nach einer Trennung. Leibliche Tode und seelische Tode sind verschieden. Auch für die Sehnsucht? Ja!
Er sollte in den nächsten Monaten die Erfahrung machen, dass sich hinter seiner Eifersucht eine Sehnsucht verbarg, die sich auf seine Frau und die Beziehung zu ihr bezog. Er musste also zunächst der Eifersucht nachgehen, die er zu ihren Lebzeiten niemals empfunden hatte. Dies führte ihn dazu, über die verpasste Zeit mit ihr nachzudenken. Als er das tat, kam eine tiefe Sehnsucht in ihm hoch, diese verpassten Chancen nachholen zu wollen, was aber zugleich aussichtslos war. Erst nachdem er diese Sehnsucht empfinden konnte, er noch einmal in das nicht gelebte Leben eingestiegen war, konnte er sie wirklich, also auch im psychologischen Sinne sterben lassen und damit seinen Trauerprozess beenden.
Und das Kuriose war, dass er dafür den ehemaligen Geliebten seiner Frau brauchte. Er selbst konnte sich ja nicht mehr an die Zeit erinnern, in der er neben seiner Frau hergelebt hatte in dem irrigen Glauben, es sei alles in Ordnung. Zunächst hatte er es bei seiner Tochter versucht und wollte von ihr wissen, wie ihr Leben denn vor elf Jahren war, ob ihre Mutter damals mit ihr gesprochen hatte, ob sie etwa eine Unzufriedenheit erwähnt hatte. Aber die Tochter ließ ihn abblitzen, weil sie noch sehr wütend auf ihren Vater war. Da er die Beziehung zu seiner Tochter nicht so schnell bereinigen konnte und bei seinem Sohn das gleiche Problem befürchtete, redete er mit seinen Kindern nicht mehr über die Zeit und wendete sich an den ehemaligen Liebhaber. Zunächst beantwortete er an Stelle seiner Frau die weiteren Liebesbriefe, dann freundete er sich mit ihm unverfänglich an, besuchte Cafés, spielte Schach, plauderte über das Leben und die vergangenen Zeiten. Als er sich schließlich dem anderen öffnete, ihm erzählte, dass Lisa gestorben und er ihr Ehemann war, erhält er eine erstaunliche Antwort:
Sie tun mir nicht leid. Denn ich will Ihnen noch etwas sagen. Lisa ist bei Ihnen geblieben, weil sie Sie geliebt hat, noch in schlechten Tagen mehr als mich in guten. Fragen Sie mich nicht, warum. Aber mit mir war sie glücklich. Und ich will Ihnen auch sagen, warum. Weil ich ein Aufschneider bin, ein Schwadroneur, ein Versager. Weil ich nicht das Monster an Effizienz, Rechtschaffenheit und Griesgrämigkeit bin, das Sie sind. Weil ich die Welt schön mache. Sie sehen nur, was sich Ihnen darbietet, und nicht, was sich darunter verbirgt.15
Es ist die Rede eines Romantikers. Wenn Romantik darin besteht, den Dingen des Alltags den Glanz des Besonderen zu verleihen, dann ist dieser Mann ein Romantiker im besten Sinne des Wortes. Und dann hat Lisa mit diesem anderen ihre romantische Seite ausgelebt, wie sie es mit ihrem Mann anscheinend nicht konnte. Das ist die Antwort auf seine bohrende Frage.
Er war das Monster an Effizienz, Rechtschaffenheit und Griesgrämigkeit, während der andere die Romantik, das Leben und die Leichtigkeit darstellte und deshalb für seine Lisa attraktiv wurde. Erst nachdem er dies verstanden hatte, konnte er seine tote Lisa ebenso wie seine sehr lebendige Sehnsucht nach ihr und der verpassten Zeit wirklich sterben lassen. Die Sehnsucht war entstanden, als er seine Frau nachträglich durch die Affäre verlor. Die Erkenntnis, dass er irgendwie auch Täter und nicht allein Opfer war, muss ihn geschmerzt haben. Wahrscheinlich entstand dabei eine neue Sehnsucht, mit seiner Frau über dies alles noch einmal reden zu können. Das war allerdings nicht mehr möglich, aber manchmal ist dies auch zu Lebzeiten schon unmöglich.
Manchmal erlebt man eine Liebe, die unvollendet bleibt, weil einer der beiden Partner eine andere Richtung in seinem Leben einschlägt. Es kann eine Kleinigkeit sein, die beide auseinandertreibt. Beispielsweise ein Umzug, ein Studienplatzwechsel, ein neuer Job an einem anderen Ort, eine neue Liebesbeziehung, die sich dazwischen schiebt, bevor die andere wirklich anfing, ein Auslandsaufenthalt oder einfach nur ein dummer Zufall. Dann bleibt die Liebe in reiner Erinnerung, ungetrübt von möglichen Komplikationen oder hässlichen Szenen. Mit der Zeit wird sie vielleicht glorifiziert und zu einem Mythos von etwas ganz Besonderem. Und das Leben geht weiter, eine andere Liebe kommt, beruflicher Erfolg stellt sich ein, die eigenen Kinder werden geboren – und so verblasst die Erinnerung an diese reine Liebe aus alter Zeit langsam. Es kann sein, dass sie zwischenzeitlich durch kleine Erlebnisse immer wieder aufgefrischt wird, man meint den anderen noch einmal auf der anderen Straßenseite zu sehen, hört eine Neuigkeit über einen früheren Freund, fragt sich angesichts kleiner Erinnerungen, wie es ihm oder ihr heute wohl geht oder stellt sich in einem kleinen Tagtraum vor, wie das Leben wohl weitergegangen wäre, wenn man zusammengeblieben wäre. Dann hört man irgendwo das Lied The first cut is the deepest und schon sind wieder alle Erinnerungen präsent, man riecht den Duft der Haut und hört das Lachen. Und dann erwischt einen noch einmal dieses tiefe ziehende Gefühl der Sehnsucht nach der alten Liebe.
Was macht man, wenn man dieser alten, ungetrübten, wunderbaren Liebe mitten im Leben nach vielen Jahren plötzlich noch einmal begegnet? Sagt man Hallo, wie geht’s dir denn heute und was machst du so?, oder fragt man lieber nicht aus Angst vor der Antwort? Dabei gibt es zwei Ängste: dass der andere glücklich verheiratet ist, Kinder hat und sich nicht mehr erinnert, oder dass er single ist und immer wieder an die schöne Zeit zurückdenkt. Was wünscht man sich mehr? Und wenn es auch für den anderen die große Liebe war, die nicht ausgelebt wurde, dann wird die Sehnsucht vielleicht so stark, dass man den schmerzlichen Wunsch verspürt, dort weiterzumachen, wo man damals aufgehört hat. Das ganze Leben kann ins Wanken geraten, wenn man die erste große Liebe wiedersieht, und danach ist nichts mehr so wie vorher. Verabredet man sich noch einmal? Verschweigt man diese Begegnung gegenüber dem Ehepartner mit dem Hinweis auf einen dienstlichen Termin? Oder spricht man das Ganze offen an und kommt dann in Erklärungsnot? Plötzlich wird das Leben noch einmal kompliziert und man weiß nicht mehr, ob das schön oder schrecklich ist. Aber man wird vorangetrieben von einer tiefen Sehnsucht, die man nicht mehr kontrollieren kann und will.
Haruki Murakami erzählt die Geschichte von Hajime und Shimamoto. Hajime ist verheiratet, Ende 30, hat zwei kleine Töchter und besitzt zwei erfolgreiche Jazzclubs in einem schicken Viertel Tokios. Ihm geht es gut, er ist ohne Sorgen, raucht nicht mehr, geht regelmäßig schwimmen und liebt seine Frau Yukiko. Eines Tages kommt eine wunderschöne Frau in seinen Club, es ist Shimamoto, in die er als zwölfjähriger Junge verliebt war. Es war seine erste große Liebe. Sie haben damals viel Zeit miteinander verbracht und die Schallplatten ihres Vaters gehört. Als sie auf eine andere Schule wechselte, verloren sie sich aus den Augen. Er lernte andere Mädchen kennen, studierte, widmete sich seinem Job und lernte mit 30 Jahren seine spätere Frau kennen. Es regnete gerade, als sie einander begegneten, und da er keinen Schirm hatte, gewährte sie ihm Unterschlupf. Yikiko war für ihn eine schöne Frau, die er nicht lange genug ansehen konnte. Ihr Vater war ein großer Bauunternehmer, der ihm dabei half, einen Jazzclub zu eröffnen. Als Student hatte er in einem solchen Club gearbeitet und seither den Traum gehabt, selbst einen zu besitzen. Seine Ideen führten zu großem Erfolg und bald eröffnete er einen zweiten. Mit 36 Jahren kaufte er ein kleines Ferienhäuschen in Hakone und einen roten Jeep Cherokee für seine Yikiko, damit sie mobil war.
Eines Abends erscheint diese atemberaubend schöne Frau in seiner Bar, es ist Shimamoto. Sie reden miteinander und er ist einfach fasziniert von ihrer Person. Nach dieser Begegnung wartet er jeden Abend darauf, dass sie wiederkommt. Sie erscheint aber lange nicht mehr, bis sie eines Abends wieder lächelnd neben ihm sitzt. Sie kommt eine ganze Weile jeden Abend in die Bar und es entwickelt sich eine tiefe Vertrautheit zwischen ihnen. Dann verschwindet sie jedoch wieder und lässt sich lange Zeit nicht mehr blicken. Seine Sehnsucht nach ihr steigert sich ins Unermessliche. Als sie endlich wiederkommt, gestehen sie sich gegenseitig ihre Liebe, auch wenn diese Liebe ausweglos zu sein scheint. Sie verabreden sich für eine gemeinsame Nacht in seinem Ferienhaus und es wird eine unglaubliche Liebesnacht, in der die Liebenden abwechselnd in berauschenden Sex und tiefe Sehnsucht getränkt sind. (Diese Liebesszene ist eine der intensivsten und schönsten der Weltliteratur.) Danach verlangt sie von ihm eine Entscheidung und er antwortet, er habe sich bereits für sie entschieden.
Aber du hast eine Frau und zwei Kinder, Hajime. Und du liebst sie …
Natürlich liebe ich sie. Sehr sogar. Und ich will für sie sorgen. Aber etwas fehlt. Ich habe eine Familie, einen Beruf, und ich kann über beides nicht klagen. Man könnte mich als glücklich bezeichnen. Und doch weiß ich, seitdem ich dich wiedergetroffen habe, dass etwas fehlt. Die wichtige Frage ist, was fehlt. Etwas, was dasein müsste, ist nicht da. In mir und meinem Leben. Und deshalb ist ein Teil von mir ständig hungrig, ständig durstig. Weder meine Frau noch meine Kinder können diesen Mangel ausfüllen. Es gibt auf der ganzen Welt nur einen Menschen, der das kann. Du. Erst jetzt, da dieser Durst gestillt ist, begreife ich, wie leer ich war. Und wie sehr ich, so viele Jahre lang, gehungert und gedürstet habe.16