Keller zu Pferd


Keller kaufte sich in der Flughafenbuchhandlung ein Taschenbuch, einen Western. Das Cover bediente die üblichen Klischees: ein großer, schlanker Kerl, Typ Marlboro-Mann, der mit einem Schießeisen an der Hüfte die staubige Straße eines Wildwest-Städtchens hinunterschritt. Weder der Titel noch der Name des Autors sagten Keller etwas. Was sein Interesse weckte, war ein Satz auf dem Cover, der ihn geradezu ansprang.

»Er ritt tausend Meilen«, stand dort, »um einen Mann zu töten, den er nie gesehen hatte.«

Keller bezahlte das Buch und steckte es in seine kleine Reisetasche. Als das Flugzeug in der Luft war, holte er es heraus und betrachtete das Cover und fragte sich, warum er es gekauft hatte. Er las nicht viel, und wenn doch, keine Western.

Vielleicht sollte er dieses Buch auch gar nicht lesen. Vielleicht sollte er es als Talisman betrachten.

Alles nur wegen dieses einen Satzes. Das musste man sich mal vorstellen, tausend Meilen zu reiten, egal, aus welchem Grund, und dann auch noch, um einen Fremden umzubringen. Wie lang brachte man etwa, um zu Pferd tausend Meilen zurückzulegen? Ein Rennpferd schaffte eine Runde in etwa zwei Minuten, aber es konnte dieses Tempo unmöglich den ganzen Tag durchhalten, genauso wenig wie ein Mensch sechsundzwanzig Vier-Minuten-Meilen aneinanderhängen und das Ganze dann einen Marathon nennen konnte.

Welche Entfernung schaffte man auf einem Pferd, fünfzig Meilen am Tag? Hundert Meilen in zwei Tagen, tausend Meilen in zwanzig. Sagen wir mal drei Wochen, an deren Ende man wahrscheinlich am liebsten jeden umbringen würde, egal ob das ein Fremder oder ein Blutsverwandter war.

Wurde der alte Cowboy für seine tausend Meilen bezahlt? War er in derselben Branche tätig? Keller drehte das Buch um und las den Text auf der Rückseite. Es hörte sich nicht besonders vielversprechend an. Irgendwas über einen Rumtreiber in Arizona, einen berittenen Vagabunden, der eine alte Rechnung aus dem Bürgerkrieg begleichen wollte.

Besser, du vergibst und vergisst, riet ihm Keller.

Keller, der deutlich mehr als tausend Meilen zurücklegen musste, wenn auch nicht zu Pferd, sondern in einem Flugzeug, hatte einen ähnlichen Auftrag. Er sollte einen Mann töten, dem er nie begegnet war. Und er war in den guten, alten Wilden Westen unterwegs, um es zu tun, zuerst nach Denver, dann nach Casper, Wyoming, und schließlich in eine Stadt namens Martingale. Das war Grund genug gewesen, das Buch zu kaufen, aber war es auch Grund genug, es zu lesen?

Er ließ es auf einen Versuch ankommen. Er las ein paar Seiten, bis sie mit dem Getränkewagen den Mittelgang herunterkamen, las ein paar mehr, während er seinen V-8 trank und die gesalzenen Nüsse aß. Dann nickte er offensichtlich ein, denn das Nächste, was er mitbekam, war, dass ihn die Stewardess weckte, um sich zu entschuldigen, dass sie den Früchteteller, den er bestellt hatte, nicht hatten. Er sagte ihr, das machte nichts, er nähme das reguläre Essen.

Als es kam, aß er es bis auf das dubiose Fleisch fast ganz auf. Danach schlief er erneut ein und wachte erst wieder auf, als die Maschine zum Landeanflug auf den Stapleton Airport ansetzte.

Das Buch hatte er in die Tasche auf der Rückseite des Sitzes vor ihm gesteckt, denn eigentlich hatte er vorgehabt, es eingeklemmt zwischen dem Spuckbeutel und der Plastikkarte mit den Notfallanweisungen in den Sonnenuntergang reiten zu lassen. Doch im letzten Moment überlegte er es sich anders und nahm das Buch mit.

 
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Er verbrachte eine Stunde auf dem Flughafen von Denver, eine weitere auf dem Flug nach Casper. Der gutgelaunte junge Mann am Avis-Schalter hatte eine Autoreservierung für Dale Whitlock vorliegen. Keller reichte ihm einen in Connecticut ausgestellten Führerschein und eine American-Express-Karte, und der junge Mann händigte ihm einen Satz Schlüssel aus und wünschte ihm einen schönen Tag.

Die Schlüssel gehörten zu einem weißen Chevy Caprice. Als er auf dem Interstate Highway nach Norden fuhr, merkte Keller, dass ihm an dem Wagen bis auf den Namen alles gefiel. Seine Mission hatte nichts Kapriziöses. Tausend Meilen zu reiten, um einen Mann zu töten, dem man nie begegnet war, war nichts, was man aus einer Laune heraus unternahm.

Im Idealfall, dachte er, wäre er in einem Mustang oder vielleicht auch einem Bronco auf einer zweispurigen Asphaltstraße dahingezuckelt. Selbst ein Pinto hätte besser zu einem kantigen, wettergegerbten Desperado wie Dale Whitlock gepasst als ein Caprice.

Der Wagen war jedoch komfortabel, und er mochte, wie er sich fuhr. Und die Farbe war auch okay. Aber von wegen weiß. Für ihn war der Wagen ein Palomino.

 
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Er brauchte etwa eine Stunde nach Martingale, ein Zehntausend-Seelen-Städtchen am I-25, auf halber Strecke zwischen Casper und Sheridan. Man brauchte sich nur kurz umzusehen, um zu wissen, dass man die Ostküste weit hinter sich zurückgelassen hatte. In der Ferne Berge, darüber ein unermesslich weiter Himmel. Und direkt vor seiner Nase lauter Holzhäuser, die Kulissen für einen Randolph-Scott-Film hätten sein können. Ein Lebensmittelladen, ein Geschäft für Westernklamotten, ein heruntergekommenes Hotel, in dem man sich nicht gewundert hätte, wenn Wild Bill Hickock mit einem Blatt Assen und Achter im Saloon gesessen oder Doc Holliday sich in einem Zimmer im ersten Stock die Lunge aus dem Leib gehustet hätte.

Natürlich gab es auch ein paar Supermärkte und Tankstellen, ein Kino mit zwei Sälen und einen Toyota-Händler, einen Pizza Hut und einen Taco John’s. Insofern war es also nicht allzu schwer, auf die Reihe zu kriegen, in welchem Jahrhundert man war. Aus dem Taco John’s sah er einen Mann kommen, der dem jungen Randolph Scott verdammt ähnlich sah, angefangen bei seinen Stiefeln bis hinauf zu seinem Stetson; allerdings zerstörte er die Illusion ein wenig, als er in einen Pick-up stieg.

Das Hotel, das Hickock-Holliday-Fantasien auslöste, war das Martingale, das genau im Ortszentrum an der breiten Hauptstraße lag. Keller stellte sich vor, wie er zur Tür reinmarschierte und eine Kreditkarte auf die Theke klatschte. Dann würde der Typ an der Rezeption – im Kino spielte ihn immer Henry Jones – sagen, dass sie kein Plastik nahmen. »Und P-p-papier auch nicht«, würde er hinzufügen, während seine Blicke bereits durch den Raum zuckten, um nach einer Stelle zu suchen, wo er in Deckung gehen konnte, wenn die Schießerei losging.

Und Keller würde einen Silberdollar auf der Theke kreiseln lassen. »Ich werde ein paar Tage bleiben«, würde er sagen. »Und falls ich noch Wechselgeld kriege, kaufen Sie sich neue Hosenträger davon.«

Und Henry Jones würde auf seine Hosenträger hinabschauen, um zu sehen, was mit ihnen nicht in Ordnung war.

Er seufzte, schüttelte den Kopf und fuhr zu dem Holiday Inn, das am nächsten an der Interstate-Ausfahrt lag. Sie hatten jede Menge Zimmer und gaben ihm, worum er bat, ein Nichtraucherzimmer im zweiten Stock, das nach hinten raus ging. An der Rezeption war eine Frau, sehr jung, sehr blond, sehr kess, und sie hatte gar nichts von Henry Jones an sich. Sie sagte: »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt bei uns, Mr. Whitlock.« Kein Stottern, der Blick unverwandt.

Er packte aus, duschte und stellte sich ans Fenster, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Es war die Sorte Sonnenuntergang, in den ein Held davonritt und eine schlanke Blondine zurückließ, die ihm, mit den Tränen kämpfend, hinterherrief: »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt bei uns, Mr. Whitlock.«

Lass den Scheiß, sagte er sich, und reiß dich gefälligst zusammen. Du bist ein paar tausend Meilen geflogen, um einen Mann zu töten, dem du nie begegnet bist. Bring es hinter dich. Der Sonnenuntergang kann warten.

 
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Er war dem Mann nie begegnet, aber er wusste, wie er hieß. Allerdings wusste er nicht, wie sein Name ausgesprochen wurde.

Der Mann in White Plains hatte Keller eine von Hand beschriftete Karteikarte gegeben.

»Lyman Crowder«, las er davon ab und sprach es so aus, dass es sich auf louder reimte. »Oder sollte es Crowder«, ausgesprochen wie loader , »heißen?«

Ein Achselzucken war die einzige Reaktion.

»Martingale, WY«, fuhr Keller fort. »Noch weiter weg wäre wohl nicht gegangen. Und wo genau? Wyoming ist groß. Liegt Martingale in der Nähe von irgendwo?«

Ein weiteres Achselzucken, begleitet von einem Foto. Oder einem Teil davon; es war offensichtlich von einem größeren Foto abgerissen worden und zeigte die obere Hälfte eines Mannes in mittleren Jahren, der aussah, als hätte er viel Zeit im Freien verbracht. Groß und kräftig war er auch. Keller war nicht sicher, woher er das wusste. Die Beine des Mannes waren nicht zu sehen, und auf dem Foto war nichts, das man als Maßstab hätte heranziehen können. Aber irgendwie konnte er das sagen.

»Was hat er getan?«

Wieder ein Achselzucken, aber eines, aus dem sich Rückschlüsse ziehen ließen. Wenn der Mann, der ihm gegenüber saß, nicht wusste, was Crowder getan hatte, hatte er es offensichtlich jemand anderem getan. Das hieß, der Mann in White Plains hatte kein persönliches Interesse an der Sache. Es war was rein Geschäftliches.

»Und wer ist der Kunde?«

Ein Kopfschütteln. Hieß das, dass er nicht wusste, wer die Rechnung bezahlte, oder dass er es wusste, es aber nicht sagen wollte? Schwer zu sagen. Der Mann in White Plains war kein Mann der vielen Worte und ein Meister der keinen.

»Der zeitliche Rahmen?«

»Der zeitliche Rahmen«, wiederholte der Mann, sichtlich amüsiert über die Wendung. »Es eilt nicht. Eine Woche, auch zwei.« Er beugte sich vor, tätschelte Kellers Knie. »Lassen Sie sich Zeit. Machen Sie sich ein paar schöne Tage.«

Auf dem Weg nach draußen hatte er die Karteikarte Dot gezeigt. »Wie würdest du das aussprechen?«, fragte er sie. »Wie crow oder wie crowd

Dot zuckte mit den Achseln.

»Also wirklich«, sagte er, »du bist ja genauso schlimm wie er.«

»Niemand ist so schlimm wie er«, sagte Dot. »Was für einen Unterschied soll es machen, Keller, wie Lyman seinen Nachnamen ausspricht?«

»Ich habe mich nur gefragt.«

»Am besten, du bleibst bis zur Beerdigung«, riet sie ihm. »Und wartest, wie ihn der Geistliche ausspricht.«

»Du bist wirklich eine große Hilfe«, sagte Keller.

 
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Im Telefonbuch von Martingale stand nur ein Crowder. Lyman Crowder, dazu eine Telefonnummer, aber keine Adresse. Das war bei einem der Drittel der Einträge so. Keller fragte sich, warum das so war. Nahmen diese Leute an, in einer Stadt dieser Größe wusste jeder, wo sie wohnten? Oder waren sie berittene Nomaden mit Handys und ohne festen Wohnsitz?

Wahrscheinlich irgendwo weit draußen, dachte er. Wohnten außerhalb der Stadt an einer namenlosen Straße, holten ihre Post im Postamt ab, warum also die Adresse im Telefonbuch angeben?

Super. Seine Zielperson lebte im Hinterland einer Stadt, die nicht groß genug war, um ein Hinterland zu haben, und Keller hatte nicht mal ihre Adresse. Er hatte die Telefonnummer, aber was nutzte sie ihm? Sollte er Crowder etwa anrufen und ihn fragen, wie er am besten zu ihm rauskam? »Hi, hier ist Dale Whitlock, wir kennen uns zwar nicht, aber ich bin gerade tausend Meilen geritten und …«

Nein, vergiss es.

 
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Er fuhr in der Stadt herum und aß in einem Café im Zentrum, das Singletree hieß. Es befand sich in einem verwitterten Holzbau in der Nähe des Martingale Hotel. Der Name des Cafés war mit einem Seil geschrieben, das an die Holzverschalung der Fassade genagelt war. In Keller weckte der Name Assoziationen mit einer allein stehenden Kiefer oder Eiche inmitten weiter Weideflächen, ein Orientierungspunkt für die Viehhüter, ein seltenes Fleckchen Schatten unter der gnadenlos vom Himmel brennenden Sonne.

Auf der Speisekarte erfuhr er, dass ein Singletree eine Vorrichtung war, um ein einzelnes Pferd oder ein Gespann anzuschirren. Ihm war nur nicht ganz klar, was es genau war oder wie es funktionierte, aber mit Sicherheit war es kein Gewächs, das mitten in der Prärie seine Zweige ausbreitete.

Keller bestellte das Tagesgericht, ein gebratenes Putensteak mit in Soße schwimmenden Pommes. Er war so hungrig, dass er, obwohl es grauenhaft schmeckte, alles aufaß.

Hier willst du nicht leben, sagte er sich.

Es erleichterte ihn, das zu wissen. Als er in Martingale herumgefahren war, hatte er sich an Roseburg, Oregon, erinnert gefühlt. Roseburg war allerdings größer, ohne die Wildwestatmosphäre von Martingale, aber beides waren kleine Provinzkäffer, in die es ihn sonst selten verschlug. In Roseburg hatte sich Keller eine Weile von seinen Fantasien forttragen lassen, aber so weit sollte es nicht noch einmal kommen.

Trotzdem war es ihm beim Betreten des Singletree nicht gelungen, nicht an das kleine mexikanische Lokal in Roseburg zu denken. Wenn das Essen und der Service auf einem ähnlichen Niveau waren …

Von wegen. Er hatte nichts zu befürchten.

 
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Nach dem Essen stolzierte Keller durch die Fledermausflügeltüren nach draußen und ging die Straße auf einer Seite hinauf und auf der anderen Seite wieder herunter. Es kam ihm so vor, als wäre etwas an seinem Gang eigenartig, als ginge er wie ein Mann, der gerade von einem Pferd gestiegen war.

Keller hatte in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal auf einem Pferd gesessen und konnte sich nicht mehr erinnern, wie er nach dem Absteigen gegangen war. Folglich war dieser Gang nichts, was mit seiner Vergangenheit zu tun hatte. Es musste etwas sein, was er unbewusst aus Filmen oder Westernserien übernommen hatte, der Inbegriff aller Kinocowboys.

Aber ihm war inzwischen klar, dass er keine Angst zu haben brauchte, er könnte den Wunsch verspüren, sich hier niederzulassen. Gegenstand seiner Fantasien war nämlich im Moment nicht jemand, der hier sesshaft werden wollte, sondern jemand auf der Durchreise, ein berittener Vagabund, ein Revolverheld, eine Lonesome Cowboy mit zusammengekniffenen Augen, der nach getaner Arbeit einfach weiterzieht.

Das war eine gute Fantasie, fand er. Mit so einer Fantasie handelte man sich keinen Ärger ein.

 
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Zurück auf seinem Zimmer, nahm sich Keller wieder das Buch vor, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Er machte den Fernseher an und zappte sich mit der am Nachttisch festgeschraubten Fernbedienung durch die Kanäle. Mit Western, fand er, verhielt es sich wie mit Polizisten und Taxis; nie waren sie da, wenn man sie brauchte. Er hatte den Eindruck, dass er sich noch nie durch alle Programme gekämpft hatte, ohne auf John Wayne oder Randolph Scott oder Joel McCrea zu stoßen oder auf eine Wiederholung von Rauchende Colts oder Tausend Meilen Staub oder einen dieser Spaghetti-Western mit Eastwood oder Lee Van Cleef. Oder auf einen der großen Schurken – auf Jack Elam, Strother Martin oder den jungen Lee Marvin in Der Mann, der Liberty Valance erschoss .

Wahrscheinlich sagte es einiges über einen, dachte Keller, wenn Jack Elam sein Lieblingsschauspieler war.

Er machte den Fernseher aus und sah Lyman Crowders Telefonnummer nach. Er könnte sie wählen, und wenn jemand dranging und »Hier bei Crowder« sagte, wüsste er, wie der Name ausgesprochen wurde. »Ich wollte nur mal sehen, ob jemand zu Hause ist«, konnte er dann sagen und auflegen und ihnen was zu denken geben.

Natürlich würde er das nicht sagen, sondern nur irgendetwas Unverfängliches wie »falsch verbunden« in den Hörer nuscheln, aber war selbst so wenig Kontakt ratsam? Vielleicht machte es Crowder misstrauisch. Vielleicht war Crowder sogar schon auf der Hut. Das war das Problem, wenn man vollkommen unvorbereitet an die Sache herangehen musste, wenn man nichts über die Zielperson oder den Auftraggeber wusste.

Wenn er vom Motel aus bei Crowder anrief, wurde der Anruf vielleicht registriert und es gab eine Verbindung zwischen Lyman Crowder und Dale Whitlock. Keller konnte das egal sein, denn er würde die Whitlock-Identität bereits mit der Abreise aus der Stadt abstreifen, aber es gab keinen Grund, dem echten Dale Whitlock zusätzliche Unannehmlichkeiten zu bereiten.

Denn es gab einen echten Dale Whitlock, und Keller bereitete ihm schon genügend Unannehmlichkeiten, auch ohne ihn zu einem Mordverdächtigen zu machen.

Der Mann in White Plains ging sehr raffiniert vor. Er kannte jemand, der ein Gerät besaß, mit dem sich einwandfreie American-Express-Karten herstellen ließen. Und er kannte jemand anders, der die Namen und Kontonummern seriöser American-Express-Karteninhaber beschaffen konnte. Und dann ließ er Kreditkarten machen, bei denen es sich im Prinzip um Duplikate existierender Karten handelte. Man brauchte sich also keine Gedanken zu machen, dass der Karteninhaber seine Karte als gestohlen meldete, weil sie ihm nicht gestohlen worden war, sondern in seiner Brieftasche steckte. Man konnte sich also die halbe Welt kaufen, und er bekam erst etwas davon mit, wenn er seinen monatlichen Kontoauszug erhielt.

Auch der Führerschein war echt. Das heißt, rein technisch gesehen war er natürlich eine Fälschung, und auf dem Foto war Keller und nicht Whitlock. Aber irgendjemand hatte sich Zugang zum Computer des Connecticut Bureau of Motor Vehicles verschafft, weshalb auf dem gefälschten Führerschein dieselbe Nummer und dieselbe Adresse wie die Whitlocks standen.

Früher, dachte Keller, war alles nicht annähernd so umständlich gewesen. Man hatte keinen Führerschein gebraucht, um ein Pferd zu reiten, und keine Kreditkarte, um sich eines zu mieten. Man kaufte oder stahl sich eines, und wenn man in eine Stadt geritten kam, verlangte niemand von einem, dass man seinen Ausweis vorlegte. Wahrscheinlich fragten sie einen nicht einmal nach seinem Namen, und wenn doch, erwarteten sie keine ausführliche Antwort. »Nennt mich Tex«, hätte man in so einem Fall gesagt, und so würden sie einen auch nennen, wenn man in den Sonnenuntergang davonritt.

»Wiedersehen, Tex«, würde ihm die Blondine hinterherrufen. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt.«

 
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Die Hotelbar im Erdgeschoss entpuppte sich als der angesagte Treff von Martingale. Keller hatte es auf seinem Zimmer nicht mehr ausgehalten und war nach unten gegangen, um in Ruhe was zu trinken. Er betrat einen Raum mit dickem Teppichboden, gedämpfter Beleuchtung und einer guten Musikanlage. Es waren fünfzehn bis zwanzig Leute da, die sich alle amüsierten oder dies zumindest versuchten.

Keller ging an die Bar und bestellte sich ein Coors. In der Musikbox sang Barbara Mandrell einen Song über Treulosigkeit und Verrat. Als sie fertig war, sang ein Duo, das er nicht kannte, einen Song über Treulosigkeit und Verrat. Und dann kam Hank Williams’ Klassiker »Your Cheatin’ Heart«.

Wenn sich da kein Muster abzuzeichnen begann.

»Ich stehe total auf diesen Song«, sagte die Blondine.

Eine andere Blondine, nicht das kesse junge Ding von der Rezeption des Hotels. Diese Frau war größer und älter und hatte eine fülligere Figur. Sie trug einen Rock und eine Art Cowgirl-Bluse mit Paspeln und Stickereien.

»Tja, der gute, alte Hank«, sagte Keller, um etwas zu sagen.

»Ich bin übrigens June.«

»Nenn mich Tex.«

»Tex!«, lachte sie japsend. »Kannst du mir vielleicht sagen, wann dich mal jemand Tex genannt hat?«

»Tatsächlich noch niemand«, gab er zu. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«

»Woher kommst du, Tex? Nein, entschuldige, so kann ich dich unmöglich nennen, das bleibt mir im Hals stecken. Wenn du möchtest, dass ich dich Tex nenne, musst du wenigstens Stiefel tragen.«

»Dass ich kein Cowboy bin, ist an meiner Aufmachung zu sehen.«

»Deine Klamotten, dein Akzent, deine Frisur. Wenn du nicht von der Ostküste kommst, bin ich noch Jungfrau.«

»Ich bin aus Connecticut.«

»Hab ich mir’s doch gedacht.«

»Ich heiße Dale.«

»Das lasse ich durchgehen. Das heißt natürlich, nur wenn du es drauf anlegst, ein Cowboy zu werden. Du müsstest dich anders anziehen und anders reden und dir eine andere Frisur zulegen, dann ließe sich über Dale reden. Hast du auch noch einen anderen Namen?«

Kaum gibst du jemand den kleinen Finger, will er die ganze Hand. »Whitlock«, sagte er.

»Dale Whitlock. Jetzt aber ohne Scheiß, besser geht es ja kaum. Mit so einem Namen kriegst du unten im Agway auf der Stelle einen Kredit. Du müsstest nicht mal ein Formular ausfüllen. Bist du verheiratet, Dale?«

Was war da die richtige Antwort? Sie selbst trug einen Ring, und in der Musikbox lief inzwischen ein weiterer Song über Treulosigkeit und Verrat.

»Nicht in Martingale«, sagte er.

»Ah, das gefällt mir.« Ihre Augen blitzten. »Fände ich überhaupt eine super Idee, regionale Ehe. Ich bin in Martingale verheiratet, aber wir sind nicht in Martingale. Die Front Street ist die Stadtgrenze.«

»Wenn das so ist«, sagte er, »kann ich dich ja vielleicht auf einen Drink einladen.«

»Ihr Leute von der Ostküste«, sagte sie. »Ihr kommt immer so wahnsinnig schnell zur Sache.«

 
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Es musste einen Haken geben.

Keller kam relativ gut bei Frauen an und machte hin und wieder einen Stich. Aber er sah keineswegs so gut aus, dass sich alle nach ihm umdrehten, und seine Verführungskünste waren auch eher bescheiden. Vor ein paar Jahren hatte er ein Buch mit dem Titel Wie spreche ich Mädchen an gelesen. Es war voller Anmachsprüche, die angeblich garantiert funktionierten. Keller hatte sie ziemlich dämlich gefunden. Er war bereit zu glauben, dass sie funktionierten, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie das bei ihm täten.

Diese Frau hatte ihn allerdings angemacht, bevor er sich überhaupt ihrer Anwesenheit bewusst geworden war. So was kam vor, vor allem wenn man sich in einer Bar, in der sie ausschließlich Songs über Treulosigkeit spielten, mit einer verheirateten Frau unterhielt. Jeder wusste, weswegen alle anderen da waren, und niemand wollte groß Zeit verlieren. So etwas kam also vor, aber nie schien es ihm zu passieren, und deshalb war er skeptisch.

Es konnte jederzeit etwas schiefgehen. Sie konnte zu Hause anrufen und feststellen, dass ihr Kind Fieber bekommen hatte. Oder ihr Mann kam zur Tür herein, wenn die Musikbox gerade mit »You Picked a Fine Time to Leave Me, Lucille« loslegte. Sie bekäme ein schlechtes Gewissen oder kippte um von dem Drink, den ihr Keller gerade ausgegeben hatte.

»Ich könnte natürlich fragen, bei mir oder bei dir«, sagte sie. »Aber die Antwort darauf kennen wir ja bereits. Was für eine Zimmernummer hast du?« Keller sagte sie ihr. »Geh schon mal vor«, sagte sie. »Ich komme erst in einer Weile nach. Aber fang nicht schon ohne mich an.«

Er putzte sich die Zähne, trug etwas Aftershave auf. Sie taucht bestimmt nicht auf, sagte er sich. Oder sie verlangt Geld, was der Sache etwas von ihrem Reiz nähme. Oder ihr Mann taucht auf, und sie versuchten ihn zu erpressen und ihm sein Geld abzunehmen.

Oder sie war total besoffen, oder er bekam keinen hoch. Oder sonst was.

 
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»Wow«, sagte sie. »Du brauchst wohl doch keine Cowboystiefel. Ich nenne dich meinetwegen Tex oder Slim oder sonst was, nur damit du kommst, wenn man dich ruft. Wie lang bleibst du hier in Martingale, Dale?«

»Kann ich noch nicht so genau sagen. Ein paar Tage.«

»Was Geschäftliches, hm? Was machst du beruflich?«

»Ich arbeite für ein großes Unternehmen«, sagte er. »Die schicken mich weiß Gott wohin, damit ich nach dem Rechten sehe, wenn es irgendwo Probleme gibt.«

»Hört sich so an, als dürftest du nicht darüber reden.«

»Na ja, wir machen viel für die Regierung. Deshalb sollte ich lieber den Mund halten.«

»Sag nichts mehr«, sagte sie. »Wahnsinn, schau mal, wie spät es ist!«

Während sie duschte, griff er nach dem Taschenbuch und verfasste den Klappentext neu. Er legte tausend Meilen zurück, dachte er, um eine Frau zu reiten, der er nie zuvor begegnet war. Manchmal hatte man eben Glück. Die Sterne standen richtig, die Kräfte, die das Universum regierten, fanden, man verdiente ein Geschenk. Die Sache musste doch nicht immer einen Haken haben.

 
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Sie stellte die Dusche ab, und er hörte die letzte Zeile des Songs, den sie gesungen hatte. »›And Celia’s at the Jackson Park Inn‹«, sang sie. Wenig später kam sie aus dem Bad und begann, sich anzuziehen.

»Was soll das denn sein?«, fragte sie. »›Er ritt tausend Meilen, um einen Mann zu töten, dem er nie begegnet ist.‹ Das ist jetzt aber echt komisch, denn weißt du, ich hatte grade einen verrückten Gedanken, als ich meine zarte rosa Haut eingeseift habe.«

»Ja?«

»Das Letzte habe ich nur gesagt, um dich daran zu erinnern, was unter diesem Rock und dieser Bluse ist. Aber der verrückte Gedanke, der mir gekommen ist, war: Also, du hast doch gesagt, dass du für die Regierung arbeitest. Und deshalb dachte ich, vielleicht ist er von der CIA, vielleicht ist er ein alter Söldner, vielleicht ist er die Antwort auf die Gebete dieser unschuldigen Maid.«

»Was soll das jetzt bitte heißen?«

»Nur, dass es bereits ein wunderbarer Abend war, Dale, aber es wäre der Himmel auf Erden, wenn du nach Martingale gekommen wärst, um meinen Scheißmann umzulegen.«

Jetzt aber. War sie die Auftraggeberin? War die Anmache in der Hotelbar nur eine raffinierte Möglichkeit gewesen, sich mit ihm zu treffen? War es möglich, dass sie tatsächlich so blöd war, den Mann, den sie angeheuert hatte, ihren Mann umzubringen, in einer Bar anzumachen?

Aber wie hatte sie ihn dann erkannt? Nur Dot und der Mann in White Plains kannten den Namen, den er verwendete. Sie hatten ihn bestimmt für sich behalten. Und sie hatte ihn angesprochen, bevor sie seinen Namen wusste. Hatte sie ihn irgendwie erkannt? Ich sehe an deiner Aufmachung, dass du ein Profikiller bist? Irgendwas in dieser Richtung?

»Yarnell«, sagte sie. »Hobart Lee Yarnell, und er möchte gern Bart genannt werden, aber alle nennen ihn Hobie. Was sagt dir das jetzt über den Mann?«

Dass er nicht der Mann ist, den ich umbringen soll, dachte Keller. Das war eine beruhigende Einsicht, aber sie wartete trotzdem auf eine Antwort. »Dass er sich schwer durchsetzen kann«, sagte Keller. »Dass er jemand ist, dem es schwer fällt, seinen Willen zu kriegen.«

Sie lachte. »Das allerdings. Aber nicht, weil er es nicht versucht. Du gefällst mir echt, Dale. Du bist ein sympathischer Typ. Aber wenn es heute Abend nicht du gewesen wärst, wäre es jemand anders gewesen.«

»Und ich dachte noch, es läge an meinem Rasierwasser.«

»Das kannst du jemand anders erzählen. Nein, bei der Ehe, die ich habe, komme ich oft hierher. Ich habe diese Musikbox letztes Jahr ganz ordentlich mit Quartern gefüttert.«

»Und lauter Songs über Treulosigkeit und Verrat gespielt?«

»Und dabei auch ziemlich oft selber untreu gewesen. Aber es hilft nicht wirklich. Wenn ich am nächsten Morgen aufwache, bin ich immer noch mit diesem Arschloch verheiratet.«

»Warum lässt du dich dann nicht scheiden?«

»Habe ich mir durchaus schon überlegt.«

»Und?«

»So, wie ich erzogen worden bin, ist das nichts, woran ich glaube«, sagte sie. »Aber wahrscheinlich ist das nicht der wahre Grund. Ich bin auch nicht so erzogen worden, dass ich ans Betrügen glaube.« Sie runzelte die Stirn. »Zum Teil liegt es am Geld«, rückte sie heraus. »Ich will dich nicht mit den Einzelheiten langweilen, aber eine Scheidung käme mich ziemlich teuer zu stehen.«

»Mhm.«

»Andererseits, was mache ich mir wegen des Gelds Sorgen? Genug ist alles, was jemand braucht, und mein Dad hat jede Menge Geld. Er wird mich nicht verhungern lassen.«

»Wenn das so ist …«

»Es ist nur so, dass er große Stücke auf Hobie hält.« Sie sah Keller finster an, als wäre das seine Schuld. »Geht mit ihm auf die Elchjagd, geht mit ihm Forellenfischen, hält ihn für das Tollste überhaupt. Und will das Wort Scheidung nicht mal hören. Kennst du den Tammy-Wynette-Song, in dem sie das Wort ausbuchstabiert? Glaub mir, er hätte bereits das Zimmer verlassen, bevor du zu D kommst. Es bräche Lyman Crowder das Herz, wenn sich sein kleines Mädchen scheiden ließe.«

Es stimmte tatsächlich. Wenn man den Mund hielt und die Ohren aufsperrte, bekam man einiges mit. Was er gerade mitbekommen hatte, war, dass sich Crowder auf powder reimte.

Und jetzt?

Nachdem sie gegangen war und nachdem er geduscht hatte, ging er auf und ab und dachte über eine Lösung nach. In den paar Stunden seit seiner Ankunft in Martingale hatte er mit einer Frau geschlafen, die sich als die liebende Tochter der Zielperson und aller Wahrscheinlichkeit nach auch als die nicht so liebende Ehefrau des Auftraggebers entpuppte.

Aber vielleicht auch nicht. Lyman Crowder war steinreich, lebte im Norden der Stadt auf einer großen Ranch, die er mehr oder weniger als Hobby betrieb. Sein Geld hatte er vor allem mit Öl gemacht, und damit hatte noch nie jemand wenig Geld gemacht. Entweder man ging pleite, oder man wurde reich. Reiche Männer hatten Feinde. Leute, die sie bei einem Geschäft übers Ohr gehauen hatten, Leute, die von ihrem Tod profitierten.

Aber aller Wahrscheinlichkeit nach war Yarnell der Auftraggeber. Dem lag eine Art höherer Unausweichlichkeit zugrunde. Sie macht ihn in der Hotelbar an. Nicht genug, dass sie die Tochter der Zielperson ist, muss sie auch noch die Frau des Auftraggebers sein. Das nennt man, nichts dem Zufall überlassen, sich gegen alle Eventualitäten absichern.

Was man in so einer Situation tun musste … klar, er wusste, was er tun musste. Was er tun musste, war, erst mal ein paar Stunden schlafen und dann, in aller Frühe, den üblichen Ablauf umkehren und in den Sonnenaufgang davonreiten. Sich in ein Flugzeug setzen, nach New York zurückfliegen und Martingale als nettes amouröses Abenteuer abschreiben. Immerhin waren Männer bekanntermaßen schon weiter gereist, um mit einer Frau im Bett zu landen.

Dem Mann in White Plains würde er sagen, er sollte sich jemand anders suchen. Manchmal musste man das tun. Daran war nichts auszusetzen, solange es nicht zur Gewohnheit wurde. Er würde sagen, er sei enttarnt worden.

Was er ja auch tatsächlich war. Sehr gekonnt sogar.

 
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Am Morgen stand er auf und packte. Er würde vom Flughafen in White Plains anrufen oder sogar warten, bis er zurück in New York war. Von seinem Zimmer wollte er jedenfalls nicht anrufen. Wenn der echte Dale Whitlock aus allen Wolken fiel und bei American Express anrief, würden sie sich Dinge wie die Holiday-Inn-Rechnung ansehen. Es brachte nichts, etwas zu hinterlassen, was irgendwohin führen konnte.

Er dachte an June, und die Erinnerung an sie brachte ihn auf eine Idee. Er sah auf die Uhr. Acht Uhr, im Osten zwei Stunden später, um diese Zeit konnte man ruhig schon mal anrufen.

Er rief in Whitlocks Haus in Rowayton, Connecticut, an. Eine Frau ging dran. Er gab sich als Mitarbeiter eines Umfrageinstituts aus, nannte ihr den Namen eines Politikers, der ihr etwas sagen musste. Indem er ihr Fragen stellte, die zu längeren Antworten verleiteten, hatte er keine Mühe, sie davon abzuhalten aufzulegen. »Na, dann herzlichen Dank«, sagte er schließlich. »Einen schönen Tag noch.«

Sollte Whitlock das jetzt mal American Express erklären. Er packte zu Ende und war schon fast zur Tür hinaus, als sein Blick auf den Western fiel. Sollte er ihn mitnehmen? Oder dem Zimmermädchen dalassen?

Er griff danach, las den Spruch auf dem Cover, seufzte. War das, was Randolph Scott täte? Oder John Wayne oder Clint Eastwood? Oder gar Jack Elam?

Nein, sicher nicht.

Dann gäbe es nämlich keinen Film. Ein Mann reitet in die Stadt, schaut, was dort so läuft, lernt eine Frau kennen, landet bei ihr, macht dann einen Rückzieher und reitet weg? Würde man aus so was einen Film machen, schaffte er es nicht mal in irgendwelche Filmkunsttheater.

 
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Trotzdem, das war kein Film.

Trotzdem …

Er sah den Schmöker an und hätte ihn am liebsten durchs Zimmer gepfeffert. Aber stattdessen seufzte er schwer. Und machte sich ans Auspacken.

 
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Er trank gerade eine Tasse Kaffee in der Stadt, als auf der anderen Straßenseite ein Pick-up anhielt und zwei Männer ausstiegen. Einer von ihnen war Lyman Crowder. Der andere, nicht ganz so groß, war zehn Kilo leichter und zwanzig Jahre jünger. Seinem Aussehen nach zu schließen, Crowders Sohn.

Sein Schwiegersohn, wie sich herausstellte. Keller folgte den zwei Männern in einen Laden, in dem sie der Typ hinter dem Ladentisch mit Lyman und Hobie begrüßte. Crowder hatte einen langen Einkaufszettel dabei, auf dem hauptsächlich Dinge standen, für die Keller kaum Verwendung gefunden hätte.

Während der Ladeninhaber die gewünschten Gegenstände holte, schaute sich Keller die handgenähten Stiefel an. Ihre Spitzen wären in New York sehr praktisch, dachte er. Ideal, um auch in den Zimmerecken Kakerlaken zu killen. Und die Absätze würden ihn mindestens drei Zentimeter größer machen. Lyman und Hobie schienen sich jedenfalls durchaus wohl zu fühlen in ihren Stiefeln, die vorne so spitz und hinten so hoch waren wie die Modelle in der Auslage. Aber nicht weniger wohl schienen sie sich auch mit ihren Schnürsenkelkrawatten und Zehn-Gallonen-Hüten zu fühlen, in denen sich Keller bestimmt lächerlich vorgekommen wäre.

Die beiden waren ein Herz und Seele, fand er. Sie sahen gleich aus, sie redeten gleich, sie waren gleich angezogen, und sie schienen ungewöhnlich angetan voneinander zu sein.

 
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Zurück auf seinem Zimmer stellte sich Keller ans Fenster und schaute auf den Parkplatz hinaus und dann darüber hinweg auf zwei Berge. Vor einigen Jahren hatte ihn seine Arbeit nach Miami geführt, wo er einen Kubaner kennengelernt hatte, der ihm dringend geraten hatte, nie ein Hotelzimmer über dem ersten Stock zu nehmen. »Angenommen, Sie müssen überstürzt weg«, hatte der Mann gesagt. »Erdgeschoss, kein Problem. Erster Stock, kein Problem. Aber im zweiten Stock brechen Sie sich unweigerlich die Beine.«

Diese Logik hatte Keller eingeleuchtet, und eine Weile hatte er den Rat des Mannes befolgt. Doch dann bekam er zufällig mit, dass der Kubaner nicht nur die höheren Etagen von Hotels mied, sondern sich auch weigerte, in einen Fahrstuhl oder ein Flugzeug zu steigen. Was zunächst nach dem reichen Erfahrungsschatz eines Profis ausgesehen hatte, war wohl nichts weiter als eine simple Phobie.

Keller wurde bewusst, dass er in seinem ganzen Leben noch nie ein Hotelzimmer, oder auch sonst irgendein Zimmer, durchs Fenster verlassen hatte. Was nicht hieß, dass es nie dazu kommen würde, aber es war ein Risiko, das einzugehen er bereit war. Er mochte hohe Stockwerke. Vielleicht mochte er es sogar, Risiken einzugehen.

Er griff nach dem Hörer, wählte eine Nummer. Als sie dranging, sagte er: »Hier Tex. Kannst du dir das vorstellen, mein Termin wurde abgesagt? Jetzt habe ich den ganzen Nachmittag für mich.«

»Bist du, wo du zuletzt warst?«

»Ich habe mich kaum von der Stelle bewegt.«

»Dann tu das auch jetzt nicht«, sagte sie. »Ich komme gleich vorbei.«

 
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Gegen neun Uhr abends bekam Keller Lust auf einen Drink, aber er wollte ihn nicht in der Gesellschaft von Ehebrechern und ihrer Lieblingsmusik zu sich nehmen. Er fuhr in seinem palominofarbenen Caprice herum, bis er am Stadtrand eine Bar fand, die recht vielversprechend aussah. Sie hieß Joe’s Bar. Von außen machte sie nicht viel her. Im Innern roch es nach abgestandenem Bier und schlampig verlegten Wasserrohren. Die Beleuchtung war gedämpft. Auf dem Fußboden waren Sägespäne und an den Wänden die Köpfe toter Tiere. Die Klientel war ausschließlich männlich, was Keller stutzen ließ. In New York gab es Schwulenbars, die sich mächtig Mühe gaben, so auszusehen wie diese Kneipe, obwohl sich Keller nicht recht erklären konnte, weshalb eigentlich. Aber das Joe’s war keine Schwulenbar, nicht einmal annähernd.

Er setzte sich auf einen wackligen Barhocker und bestellte ein Bier. Die anderen Trinker ließen ihn – und auch alle anderen Anwesenden – in Ruhe. Die Musikbox lief mit Unterbrechungen. Wenn die Gäste die Stille nicht mehr aushielten, fütterte sie jemand mit ein paar Münzen.

Die Songs fielen alle unter ein bestimmtes Genre, stellte Keller fest. Da waren die Ich-versuche-mir-diese-Frau-aus-dem-Kopf-zu-saufen-Songs und die Das-Glück-meint-es-nicht-gut-mit-mir-Songs. Nichts von wegen Celia im Jackson Park Inn oder dass der Himmel nur eine Sünde weit entfernt war.

 
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Die Songs waren dazu da, dass man sich beim Trinken auch noch richtig beschissen fühlte.

»Noch so ein Scheißtag«, sagte eine Stimme neben Keller.

Er musste sich nicht zur Seite drehen, um zu wissen, wem sie gehörte. Er dachte, er hätte die Stimme vielleicht wiedererkannt, aber er glaubte nicht, dass es darauf zurückzuführen war. Nein, es war mehr die Einsicht in die Unausweichlichkeit des Ganzen. Es konnte nur Yarnell sein, der ihm in dieser Bar, in der niemand mit jemandem redete, ein Gespräch aufdrängte. Wer hätte es sonst sein sollen?

»Noch so ein Scheißtag«, pflichtete ihm Keller bei.

»Ich glaube nicht, dass ich Sie hier schon mal gesehen habe.«

»Ich bin nur auf der Durchreise.«

»Sie Glücklicher«, sagte Yarnell. »Ich bin übrigens Bart.«

Wenn, dann aber auch gleich richtig. »Dale«, sagte Keller.

»Freut mich, Dale.«

»Ganz meinerseits, Bart.«

Der Barmann tauchte vor ihnen auf. »Hi, Hobie. Das Übliche?«

Yarnell nickte. »Und für Dale hier auch noch mal dasselbe.« Der Barmann schenkte Yarnell das Übliche ein, was sich als ein Bourbon mit Wasser entpuppte, und machte Keller eine Flasche Bier auf. Jemand knickte ein und steckte einen Quarter in die Musikbox, worauf sie »There Stands the Glass« spielte.

»Haben Sie gehört, wie er mich genannt hat?«, fragte Yarnell.

»Ich habe nicht aufgepasst.«

»Hobie hat er mich genannt«, sagte Yarnell. »Wie alle anderen auch. Sie werden es genauso machen, Sie werden gar nicht anders können.«

»Die Welt kann ganz schön grausam sein.«

»Wem sagen Sie das, Dale? Besser könnte man es nicht auf den Punkt bringen. Sind Sie verheiratet, Dale?«

»Im Augenblick nicht.«

»›Im Augenblick nicht?‹ Ich würde viel darum geben, wenn ich das auch von mir behaupten könnte.«

»Probleme?«

»Verheiratet mit einer Frau und verliebt in eine andere. Das kann man wohl Probleme nennen.«

»Wahrscheinlich.«

»Das süßeste, zärtlichste, bezauberndste, liebenswerteste Wesen, das man sich vorstellen kann«, fuhr Yarnell fort. »Wenn sie mir ›Bart‹ ins Ohr haucht, ist es mir völlig egal, wenn der Rest der Welt ›Hobie‹ schreit.«

»Sie reden jetzt aber nicht von Ihrer Frau«, sagte Keller.

»Weiß Gott, nein! Meine Frau ist eine böswillige, lose, hartherzige Schlampe. Ich hasse meine Frau. Ich liebe meine Freundin.« Darauf schwiegen sie eine Weile, was auch der Rest der Anwesenden tat. Dann spielte jemand »The Last Word in Lonesome Is Me«.

»Solche Lieder schreiben sie heute einfach nicht mehr«, sagte Yarnell.

Das taten sie tatsächlich nicht mehr. »Ich bin sicher nicht der Erste, der Ihnen das rät«, sagte Keller, »aber haben Sie schon mal darüber nachgedacht …«

»June zu verlassen?«, sagte Yarnell. »Mit Edith durchzubrennen? Mich scheiden zu lassen?«

»Etwas in der Art.«

»Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht darüber nachdenke, Dale. Tag und Nacht denke ich an nichts anderes. Ich denke darüber nach, und ich lasse mich dabei volllaufen, aber das Einzige, wozu ich nicht in der Lage bin, ist, es zu tun.«

»Warum?«

»Es gibt da einen Mann, der Vater und bester Freund für mich in einem ist. Der beste Mann, den ich je kennengelernt habe, und das einzige Falsche, was er in seinem ganzen Leben gemacht hat, war, eine Tochter zu haben, und der größte Fehler, den ich gemacht habe, war, sie zu heiraten. Und wenn es etwas gibt, woran dieser Mann glaubt, dann ist es die Unantastbarkeit der Ehe. Für ihn ist Scheidung das unanständigste Wort, das es überhaupt gibt.«

Deshalb konnte Yarnell seinem Schwiegervater nicht einmal erzählen, dass seine Ehe die Hölle war, geschweige denn Schritte unternehmen, sie zu beenden. Er musste sein Verhältnis mit Edith streng geheim halten. Der einzige Mensch, mit dem er reden konnte, war Edith, und sie war die ganze nächste Woche verreist, weshalb er fast umkam vor Einsamkeit und nicht einmal davor zurückschreckte, dem erstbesten Fremden sein Herz auszuschütten. Wofür er sich entschuldigte, aber …

»Aber was, überhaupt kein Problem, Bart«, sagte Keller. »Man sollte nicht immer alles in sich hineinfressen.«

»Dass Sie mich Bart nennen, rechne ich Ihnen hoch an, wirklich. Sogar Lyman nennt mich Hobie, und er ist der beste Freund, den jemand haben kann. Mein Gott, er kann einfach nicht anders. Früher oder später nennt mich jeder Hobie.«

»Also«, sagte Keller, »ich werde so lange durchhalten, wie ich kann.«

 
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Wieder allein, überdachte Keller seine Optionen.

Er konnte Lyman Crowder umbringen. Das wäre das Einfachste. Er führte einfach den Auftrag aus, den er erhalten hatte. Damit wären aller Probleme gelöst. June und Hobie konnten sich scheiden lassen, was beide unbedingt wollten.

Andererseits würden beide den Mann verlieren, den sie als das Größte überhaupt seit der Erfindung von Mikrowellenpopcorn hielten.

Er konnte eine Münze werfen und entweder June oder ihren Mann ins Jenseits befördern und gewissermaßen als Scheidungsrichter in höchster Instanz auftreten. Bei Kopf konnte June den Rest ihres Lebens einen Geist betrügen. Bei Zahl bekam Yarnell, was er wollte, und Edith auch. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie aufhörte, ihn Bart zu nennen und zu Hobie überging, und ehe er sich’s versah, würde auch sie im Holiday Inn vorbeischauen und die Musikbox mit Quarters füttern, damit sie »Third-Rate Romance, Low-Rent Rendezvous« spielte.

Keller überlegte, ob es eine Lösung gab, die nicht zu einem Rückgang der Einwohnerzahl von Martingale führte. Er gab sich jedoch keinen Illusionen hin, dass er nicht unbedingt derjenige war, dem sie am ehesten einfiele.

Hatte man ein gesundheitliches Problem, hing die Behandlung, die man bekam, davon ab, zu welcher Art von Arzt man ging. Man erwartete nicht, dass einem ein Chirurg die Wirbelsäule einrenkte oder Kräuter verschrieb oder Einläufe verpasste oder dass er mit einem niederkniete und betete. Egal, was das Problem war, würde ein Chirurg als Erstes sehen, ob er etwas wegschnippeln konnte. Dafür war er ausgebildet, so sah er die Welt, das war, was er tat.

Auch Keller neigte zu einer chirurgischen Herangehensweise. Während andere Beratungsgespräche und 12-Punkte-Programme empfahlen, griff Keller zum Skalpell. Manchmal wurde allerdings nicht so schnell ersichtlich, wo der Eingriff erfolgen sollte.

Bring sie einfach alle um, dachte er finster, den Rest soll Gott richten. Oder reite mit dem Schwanz zwischen den Beinen in den Sonnenuntergang.

 
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Am nächsten Morgen fuhr Keller nach Sheridan und flog nach Salt Lake City. Er zahlte sein Ticket in bar und buchte es auf den Namen John Richards. Am TWA-Schalter in Salt Lake City kaufte er sich ein einfaches Ticket nach Las Vegas, das er ebenfalls bar bezahlte, aber diesmal verwendete er den Namen Alan Johnson.

Am Flughafen von Las Vegas ging er auf dem Langzeitparkplatz herum, als suchte er seinen Wagen. Das hatte er etwa fünf Minuten lang getan, als ein glatzköpfiger Mann in einem karierten Sportsakko einen zwei Jahre alten Plymouth abstellte, mehrere große Koffer aus dem Kofferraum wuchtete und auf einen Gepäckwagen stellte. Egal, wohin er flog, er hatte genügend Gepäck dabei, um eine Weile dort zu bleiben.

Sobald der Mann außer Sichtweite war, ließ sich Keller auf ein Knie nieder und tastete den Unterboden des Plymouth ab, bis er den magnetisierten Ersatzschlüssel fand. Das tat er immer, bevor er ein Auto knackte, und in einem von fünf Malen hatte er damit Glück. Wie üblich freute ihn das. Den Schlüssel zu finden war ein gutes Omen. Die Sache ließ sich gut an.

Im Lauf der Jahre war Keller ziemlich oft in Las Vegas gewesen. Er mochte die Stadt zwar nicht, aber er kannte sich dort aus. Er fuhr zum Caesars Palace und ließ den geborgten Plymouth von einem Hotelangestellten wegbringen. Er klopfte so lange an die Tür eines Zimmers im achten Stock, bis seine Bewohnerin lautstark protestierte, sie versuche gerade einzuschlafen.

»Ich habe Neuigkeiten aus Martingale, Miss Bodine«, sagte er. »Machen Sie endlich auf.«

Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit, ließ aber die Kette vorgelegt. Sie war etwa im gleichen Alter wie June, sah aber älter aus mit ihrem zerzausten schwarzen Haar, den Ringen unter den Augen und den Make-up-Spuren vom Vortag im Gesicht.

»Crowder ist tot«, sagte er.

Keller wären alle möglichen Dinge eingefallen, die sie darauf hätte erwidern können. Sie reichten von »Was ist denn passiert?« bis zu »Ist mir doch egal«. Aber diese Frau kam sofort auf den Punkt. »Was wollen Sie hier, Sie Idiot?«

Das war ein Fehler.

»Lassen Sie mich erst mal rein«, sagte er, und sie kam seiner Aufforderung nach.

Ihr zweiter Fehler.

 
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Der Hotelangestellte brachte Keller den Wagen und schien hocherfreut über das Trinkgeld, das Keller ihm gab. Am Flughafen hatte jemand an der Stelle, an der der glatzköpfige Mann ursprünglich den Plymouth geparkt hatte, einen Toyota Camry abgestellt, weshalb ihn Keller etwa zehn Plätze seitlich versetzt in der nächsten Reihe in eine Lücke quetschen musste. Er glaubte, sein Besitzer würde ihn finden, und hoffte, er würde sich keine Sorgen machen, dass sich bereits die ersten Anzeichen von Alzheimer bei ihm zeigten.

Keller flog als Richard Hill nach Denver, als David Edwards nach Sheridan. Unterwegs dachte er an Edith Bodine, die anscheinend im Bad ihres Zimmers im Caesars Palace auf einer nassen Fliese ausgerutscht war und sich am Rand der Badewanne den Kopf angeschlagen hatte. Wegen des NICHT STÖREN -Schilds am Türgriff und der voll aufgedrehten Klimaanlage ließ sich nicht sagen, wie lang sie ungestört bliebe.

Er war zu dem Schluss gelangt, dass sie die Auftraggeberin sein musste. June oder Hobie, die beide dachten, die Welt drehte sich um Lyman Crowder, konnten es eigentlich nicht sein. Wer blieb dann also noch? Crowder selbst, der insgeheim einen ausgeprägten Todeswunsch entwickelt hatte? Irgendein alter Feind, ein Konkurrent?

Nein, Edith war die aussichtsreichste Kandidatin. Ein Kunde würde sich entweder mit Keller treffen wollen – nicht auf indirektem Weg, wie das beide Yarnells getan hatten, sondern nach vorheriger Absprache –, oder der Kunde würde dafür sorgen, dass er ostentativ nicht anwesend war, wenn es passierte. Deshalb der Ausflug nach Las Vegas.

Und der Grund? Das Crowdersche Vermögen natürlich. Sie machte Hobie Yarnell verrückt nach sich, aber der wollte aus Angst, Crowder das Herz zu brechen, seine Frau June nicht verlassen, zumal er, wenn er es doch täte, mit leeren Händen dastünde. June umbringen zu lassen brachte auch nichts, weil sie selbst kaum eigenes Vermögen hatte. Wenn dagegen der alte Herr starb, würde June alles erben, und dann konnte auch June noch etwas zustoßen.

So hatte er es sich zumindest auseinanderdividiert. Hätte er Ediths genaue Beweggründe wissen wollen, hätte er sie fragen müssen, aber das hatte er für Zeitverschwendung gehalten. Oder genauer, das Letzte, was er wollte, war, sie näher kennenzulernen. Wenn man diese Leute kennenlernte, machte das alles nur komplizierter.

Wenn man tausend Meilen ritt, um einen Mann zu töten, dem man nie begegnet war, war man gut beraten, unterwegs bei jedem Schritt auf wortkarger Fremder zu machen. Wenn man unbedingt etwas sagen wollte, konnte man es seinem Gaul ins Ohr flüstern.

 
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In Sheridan stieg er aus dem vierten Flugzeug dieses Tages, ging zu seinem Caprice – der Name erschien ihm von Stunde zu Stunde passender – und fuhr nach Martingale zurück. Er hielt sich immer an die Geschwindigkeitsbegrenzung, musste dann aber fünf Meilen vor Martingale mit allen anderen vom Gas gehen. Von der Gegenfahrbahn wurde gerade ein Autowrack geräumt. Das hätte der Verkehr auf seiner Seite nicht beeinträchtigen müssen, was aber trotzdem der Fall war; jeder fuhr langsamer, um zu sehen, weswegen alle anderen langsamer fuhren.

Zurück auf seinem Zimmer, hatte er bereits seine Sachen gepackt, als er merkte, dass sein Auftrag noch keineswegs erledigt war. Die Kundin war tot, aber das spielte keine Rolle; da er eigentlich gar nicht hätte wissen dürfen, dass sie die Auftraggeberin war und dass sie tot war, war er weiterhin verpflichtet, seine Mission zu erfüllen. Er konnte natürlich nach Hause zurückkehren und zugeben, dass er seinen Auftrag nicht hatte erledigen können, um dann zu warten, dass entsprechende Einzelheiten durchsickerten, aus denen hervorging, dass es keinen Auftrag mehr zu erledigen gab. Damit wäre er zwar aus dem Schneider, aber er hätte sich weder mit Ruhm bekleckert, noch bekäme er sein Honorar. Der Kunde hatte mit ziemlicher Sicherheit im Voraus bezahlt, und falls es einen Mittelsmann zwischen dem Auftraggeber und dem Mann in White Plains gab, hatte er das Geld höchstwahrscheinlich bereits weitergeleitet. Außerdem war sehr unwahrscheinlich, dass der Mann in White Plains einem toten Kunden eine Zahlung rückerstatten würde, zumal es niemanden mehr gab, der das einfordern konnte. Genauso wenig würde der Mann in White Plains Keller aber auch für einen Auftrag bezahlen, den er nicht ausgeführt hatte. Der Mann in White Plains würde einfach alles selbst behalten.

Nach einiger Überlegung gelangte Keller zu der Ansicht, dass es das Beste wäre, erst einmal abzuwarten. Wie lang konnte es dauern, bis ein Hoteldieb oder ein Zimmermädchen Edith Bodines Leiche entdeckte? Und bis wann würde die Nachricht von ihrem Tod nach White Plains durchdringen?

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass das ziemlich lange dauern konnte. Wenn, wie das manchmal der Fall war, eine ganze Reihe von Mittelsmännern involviert war, würde die Nachricht vielleicht nie zu Garcia durchdringen.

Das Einfachste war vermutlich, Crowder umzubringen, und damit hatte es sich dann.

Nein, dachte er. Er hatte gerade einen Abstecher von, ja, mehr als tausend Meilen gemacht – und bisher noch auf eigene Kosten – und das alles nur, um den legendären Mann, dem er nie begegnet war, nicht umbringen zu müssen. Er müsste schön blöd sein, ihn nach diesem ganzen Aufwand jetzt noch umzubringen.

Aber er würde auf jeden Fall erst mal abwarten. Außerdem hatte er im Moment keine Lust mehr, noch irgendwohin zu fahren, und Flugzeuge konnte er schon gar keine mehr sehen, geschweige denn die Vorstellung ertragen, in eines zu steigen.

Er legte sich aufs Bett und schloss die Augen.

 
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Er hatte einen schrecklichen Traum, in dem er mitten in der Nacht durch die Wüste ging. Er hatte sich verirrt, fror, fühlte sich völlig allein. Plötzlich kam aus dem Nichts ein Pferd angaloppiert, und auf ihm saß eine wunderschöne Frau mit einer üppigen Mähne und im Mondschein schimmernden Augen. Sie streckte ihm die Hand entgegen, und Keller sprang hinter ihr auf das Pferd und ritt mit ihr weiter. Sie war nackt. Das war auch Keller, obwohl ihm das bis dahin entgangen war.

Sie verliebten sich ineinander. Ohne Worte erzählten sie sich alles, kannten sich wie verwandte Seelen. Und als er ihr dann in die Augen schaute, merkte Keller, wer sie war. Sie war Edith Bodine, und sie war tot. Er hatte sie getötet, ohne zu ahnen, dass sie sich als die Frau seiner Träume erweisen würde. Es war passiert, es ließ sich nicht mehr rückgängig machen, und es brach ihm in alle Ewigkeit das Herz.

Keller wachte zitternd auf. Fünf Minuten lang ging er im Zimmer auf und ab und versuchte, auseinanderzudividieren, was Traum war und was Wirklichkeit. Er hatte nicht lang geschlafen. Die Sonne ging gerade unter, es war immer noch derselbe endlos lange Tag.

Was für ein höllischer Traum.

Er konnte sich nicht mit dem Fernseher ablenken, und noch weniger Erfolg hatte er mit dem Buch. Er legte es beiseite, griff nach dem Telefon und wählte Junes Nummer.

»Hier Dale«, sagte er. »Ich sitze hier grade rum und …«

»Oh, Dale«, fiel sie ihm ins Wort, »wie rücksichtsvoll von dir anzurufen. Ist das nicht furchtbar? Einfach schrecklich!«

»Was?«, sagte er verständnislos.

»Ich kann jetzt nicht reden«, sagte sie. »Ich kann nicht mal klar denken. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so durcheinander. Jedenfalls vielen Dank, dass du an mich gedacht hast, Dale.«

Sie legte auf, und ihm blieb nichts anderes übrig, als verständnislos das Telefon anzustarren. Wenn sie nicht gerade eine bessere Schauspielerin war, als er ihr zugetraut hätte, hatte sie vollkommen von der Rolle gewirkt. Es wunderte ihn, dass die Nachricht von Edith Bodines Tod sie so bald erreicht haben könnte, aber noch mehr wunderte ihn, dass sie ihr so naheging. Steckte hinter dem Ganzen mehr, als er ahnte? Waren Hobies Frau und seine Geliebte gute Freundinnen? Oder waren sie – jetzt aber! – mehr als nur gute Freundinnen?

Für Randolph Scott war jedenfalls alles wesentlich einfacher gewesen.

 
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Im Joe’s hatte derselbe Barmann Dienst. »Ich schätze nicht, dass Ihr Freund Hobie heute Abend vorbeikommt«, begrüßte er Keller. »Sie haben es wahrscheinlich schon gehört.«

»Nein, was?«, sagte Keller. Von wegen streng geheim gehaltene Affäre, dachte er, wenn die ganze Stadt Hobie schon tröstete, bevor die Leiche richtig kalt war.

»Wirklich bedauerliche Geschichte das«, fuhr der Barmann fort. »Ein schwerer Verlust für die Stadt. Ohne ihn wird Martingale nicht mehr sein wie früher.«

»Davon habe ich anscheinend noch nichts mitbekommen«, sagte Keller vorsichtig. »Was ist denn passiert?«

 
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Er rief die Fluggesellschaften von seinem Motelzimmer an. Der nächste Flug von Casper ging erst am nächsten Morgen. Wenn er natürlich nach Denver fahren wollte …

Er wollte nicht nach Denver fahren. Er buchte den ersten Flug am nächsten Morgen, unter dem Namen Whitlock und mit der Whitlock-Kreditkarte.

Es war nicht mehr nötig hierzubleiben, nicht, nachdem Lyman Crowder irgendwo auf einer Bahre lag und mit Konservierungsmittel vollgepumpt wurde. Ums Leben gekommen bei einem Autounfall auf dem I-25 North, genau dem Unfall, dessentwegen alle langsamer gefahren waren, als Keller aus Sheridan zurückgekommen war.

Am Begräbnis würde er nicht teilnehmen, aber sollte er einen Kranz bestellen? Wohl lieber nicht. Trotzdem, fast fühlte er sich ein bisschen dazu verpflichtet.

Er wählte 1-800-FLOWERS und schickte Mrs. Dale Whitlock in Rowayton ein Dutzend Rosen, die er von Whitlocks American-Express-Konto abbuchen ließ. Er bat darum, den Blumen eine Karte mit folgendem Text beizufügen: »Einfach weil ich dich liebe – Dale.«

Er fand, das war das Mindeste, was er tun konnte.

 
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Zwei Tage später fand er sich im Taunton Place in White Plains ein, um Bericht zu erstatten. Unfälle waren immer gut, sagte der Mann. Unfälle und natürliche Ursachen sind immer das Beste. Klar, manchmal musste man in die Vollen gehen, um jemand eine Botschaft zu übermitteln, aber sonst ging nichts über einen Unfall.

»Gut, dass Sie es so regeln konnten«, sagte der Mann.

Da war eine Menge Glück mit im Spiel gewesen, dachte Keller. Andernfalls hätte er erst mal dafür sorgen müssen, dass Lyman Crowder in seinem Pick-up mit ordentlichem Tempo in Richtung Norden fuhr. Dann hätte er einen arbeitslosen Schafhirten namens Danny Vasco sturzbesoffen machen und in seinem eigenen Pick-up – fuhren die hier eigentlich auch was anderes als Pick-ups? – mit 150 km/h in Richtung Süden auf Martingale zurasen und auf die Gegenfahrbahn kommen lassen müssen. Und dort hätte Vasco erst einmal ein paar entgegenkommende Fahrzeuge knapp verfehlen und einen Schulbus und einen Minivan streifen müssen, um schließlich frontal mit Crowder zusammenzustoßen.

Dafür brauchte man schon ein bisschen Glück.

Falls der Mann in White Plains wusste, dass der Auftraggeber tot war, oder auch nur die leiseste Ahnung hatte, wer er war, ließ er es Keller gegenüber nicht durchblicken. Auf dem Weg nach draußen fragte ihn Dot, wie Crowders Name ausgesprochen würde.

»Reimt sich auf chowder «, sagte er.

»Hätte mich auch gewundert, wenn du es nicht rausgefunden hättest«, sagte sie. »Keller, hast du was? Du wirkst irgendwie anders als sonst.«

»Nur von Ehrfurcht ergriffen, wie das Schicksal so spielt«, sagte er.

»Das erklärt einiges«, sagte sie.

 
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Auf der Zugfahrt zurück in die Stadt dachte er darüber nach, wie das Schicksal so spielte. Vor Kurzem hatte er sich noch gesagt, dass sein Ausflug nach Las Vegas pure Verschwendung von Zeit, Geld und Menschenleben gewesen war. Er hätte nur einen Tag warten müssen, damit Danny Vasco die Sache für ihn erledigte.

Aber weit gefehlt.

Ohne seinen Abstecher nach Las Vegas wäre auf dem Highway kein Unfall passiert. Das eine Ereignis hatte einen Kanal geöffnet, der das andere geschehen ließ. Das konnte er nicht erklären, und er konnte auch keinen Sinn dahinter erkennen, aber irgendwie wusste er, dass es so war.

Alles war genau so passiert, wie es hatte passieren müssen. Dass er June in der Hotelbar begegnet war, dass er Hobie in dieser Loser-Kneipe über den Weg gelaufen war. Diese Begegnungen hätte er ebenso wenig vermeiden können, wie er sich hätte davon abhalten können, das Taschenbuch mit dem Western zu kaufen, der schon einmal die Grundrichtung festgelegt hatte.

 
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Er hoffte, dass Mrs. Whitlock die Blumen gefielen.