Kellers Therapie


»Ich hatte einen Traum«, sagte Keller. »Ich habe ihn sogar aufgeschrieben. Wie Sie mir geraten haben.«

»Gut.«

Bevor er sich auf die Couch gelegt hatte, hatte Keller sein Jackett ausgezogen und über den Stuhl gehängt. Er stand wieder von der Couch auf und nahm sein Notizbuch aus der Innentasche des Jacketts. Dann setzte er sich auf die Couch und schlug die Seite mit dem Traum auf. Er überflog seine Notizen, klappte das Büchlein zu und sah den Therapeuten fragend an.

»Sie können sitzen bleiben oder sich hinlegen«, sagte Breen. »Wie es Ihnen lieber ist.«

»Ist es wirklich egal?«

»Was mich angeht, schon.«

Was war bequemer? Eine sitzende Haltung schien für ein Gespräch besser geeignet, während das Gewicht der Tradition dafür sprach, sich hinzulegen. Bemüht, es besonders gut zu machen, beschloss Keller, sich an die Tradition zu halten. Er legte die Füße hoch und streckte sich aus.

»Ich wohne in einem Haus«, begann er, »aber es ist mehr eine Burg. Mit endlos langen Gängen und vielen Zimmern.«

»Ist es Ihr Haus?«

»Nein, ich wohne bloß dort. Eigentlich bin ich so was wie ein Diener der Familie, der das Haus gehört. Es sind Adlige.«

»Und Sie sind ein Diener.«

»Nur habe ich so gut wie nichts zu tun und werde wie jemand Gleichgestellter behandelt. Ich spiele auf dem Tennisplatz hinter dem Haus mit anderen Familienmitgliedern Tennis.«

»Ist das Ihre Aufgabe? Mit ihnen Tennis zu spielen?«

»Nein, das ist nur ein Beispiel dafür, dass sie mich wie jemand Gleichgestellten behandeln. Ich esse auch am selben Tisch mit ihnen, nicht unten beim Rest des Personals. Mein Job ist es, mich um die Mäuse zu kümmern.«

»Um die Mäuse?«

»Das Haus ist voll von Mäusen. Ich esse mit der Familie zu Abend, auf meinem Teller türmt sich köstliches Essen, und ein Kellner mit einer schwarzen Fliege kommt herein und trägt eine Platte mit einer silbernen Glocke auf. Ich hebe die Abdeckung hoch, und darunter liegt ein Zettel, auf dem ›Mäuse‹ steht.«

»Nur dieses eine Wort?«

»Ja, sonst nichts. Ich stehe vom Tisch auf und folge dem Diener einen langen Gang hinunter, und er führt mich in ein unausgebautes Zimmer auf dem Dachboden. Dort sind überall winzige Mäuse, bestimmt zwanzig oder dreißig, und ich muss sie alle töten.«

»Wie?«

»Indem ich sie zertrete. Das ist die schnellste und humanste Art, aber es ist mir unangenehm und ich will es nicht tun. Aber je schneller ich es erledige, umso früher kann ich an den Esstisch zurückkehren, und ich habe großen Hunger.«

»Deshalb töten Sie die Mäuse?«

»Ja«, sagte Keller. »Eine versucht zu entkommen, aber gerade als sie zur Tür hinausflitzen will, trete ich auf sie. Und dann sitze ich wieder am Tisch, und alle essen und trinken und lachen, und mein Teller ist bereits abgetragen worden. Nach einigem Hin und Her bringen sie meinen Teller schließlich aus der Küche zurück, aber es ist nicht mehr dasselbe Essen darauf wie zuvor. Es sind …«

»Ja?«

»Mäuse«, sagte Keller. »Sie sind gehäutet und gekocht, aber es ist ein Teller voller Mäuse.«

»Und Sie essen sie?«

»An diesem Punkt bin ich aufgewacht«, sagte Keller. »Und keine Sekunde zu früh, muss ich sagen.«

»Hm«, murmelte Breen. Er war ein großer Mann, langgliedrig und schlaksig, in Chinos, dunkelgrünem Hemd und braunem Cordsakko. Für Keller sah er aus wie ein typischer Highschool-Nerd, der es inzwischen geschafft hatte, auf eine exzentrische Art distinguiert auszusehen. Er murmelte noch einmal »hm« und legte die Hände aneinander und fragte Keller, was der Traum seiner Meinung nach bedeutete.

»Sie sind der Doktor«, sagte Keller.

»Sie glauben, er bedeutet, dass ich der Doktor bin?«

»Nein, ich glaube, Sie sind derjenige, der sagen kann, was er bedeutet. Vielleicht bedeutet er auch bloß, dass ich vor dem Schlafengehen kein Rocky-Road-Eis essen sollte.«

»Erzählen Sie mir, was Sie glauben, dass der Traum bedeuten könnte.«

»Vielleicht sehe ich mich als Katze.«

»Oder als Kammerjäger?«

Keller sagte nichts.

»Befassen wir uns doch mal auf einer sehr oberflächlichen Ebene mit Ihrem Traum«, fuhr Breen fort. »Sie arbeiten als Troubleshooter eines Unternehmens, bloß dass Sie ein anderes Wort dafür verwendet haben.«

»In der Firma bezeichnen sie uns eher als Disponenten«, sagte Keller. »Aber Troubleshooter ist das, worauf es hinausläuft.«

»Die meiste Zeit haben Sie nichts zu tun. Sie haben viel Freizeit, können sich ein schönes Leben machen. Sie können Tennis spielen und mit den Reichen und Mächtigen speisen. Dann tauchen Mäuse auf, und es wird sofort klar, dass Sie ein Diener sind, der eine Aufgabe zu erledigen hat.«

»Jetzt verstehe ich«, sagte Keller.

»Na dann, umso besser. Erklären Sie es mir.«

»Das liegt doch auf der Hand, oder? Es gibt ein Problem, und ich werde benachrichtigt und muss mit dem, was ich gerade tue, Schluss machen und das Problem lösen. Ich muss auf der Stelle Entscheidungen treffen, und dazu kann gehören, dass ich Leute entlasse und ganze Abteilungen schließe. Ich muss es tun, aber es ist, als würde ich auf Mäuse treten. Und wenn ich wieder am Tisch sitze und mein Essen will – ich vermute mal, damit ist mein Lohn gemeint?«

»Ihre Vergütung, ja.«

»Dann bekomme ich einen Teller Mäuse.« Er verzog das Gesicht. »Anders ausgedrückt, heißt das, meine Vergütung kommt von der Vernichtung der Leute, die ich rauswerfe. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt auf ihre Kosten. Es ist also ein Schuldtraum, oder?«

»Was glauben Sie?«

»Ich glaube, es geht um Schuld. Mein Gewinn erwächst aus dem Pech anderer, aus dem Leid, das ich anderen zufüge. Darauf läuft es doch hinaus, oder?«

»Oberflächlich betrachtet, ja. Wenn wir tiefer gehen, werden wir vielleicht andere Zusammenhänge entdecken. Zuallererst sollten wir uns vielleicht mit der Frage befassen, warum Sie sich für diese Tätigkeit entschieden haben, und dann auch mit verschiedenen Aspekten Ihrer Kindheit.« Er verschränkte seine Finger und ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. »Alles hängt zusammen. Nichts existiert für sich allein, und nichts ist zufällig. Nicht einmal Ihr Name.«

»Mein Name?«

»Peter Stone. Denken Sie doch mal bis zur nächsten Therapiesitzung darüber nach.«

»Ich soll über meinen Namen nachdenken?«

»Ja, über Ihren Namen und wie gut oder schlecht er zu Ihnen passt. Und«, ein nachdenklicher Blick auf seine Armbanduhr, »unsere Stunde ist leider um.«

 
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Jerrold Breens Praxis war in der Central Park West, auf Höhe der Ninety-fourth Street. Keller ging zur Columbus Avenue, fuhr mit dem Bus fünf Straßen weiter, überquerte die Straße und winkte einem Taxi. Er ließ den Fahrer durch den Central Park fahren, und als er in der Fiftieth Street aus dem Taxi stieg, war er ziemlich sicher, dass ihm niemand gefolgt war. Er kaufte sich in einem Deli einen Kaffee und beobachtete aufmerksam seine Umgebung, als er ihn auf dem Gehsteig trank. Dann ging er zu dem Haus, in dem er wohnte, einem Vorkriegsbau in der First Avenue zwischen Forty-eighth und Forty-ninth Street mit einem Art-Deco-Foyer und einem von einem Fahrstuhlführer bedienten Lift. »Ah, Mr. Keller«, sagte der Fahrstuhlführer. »Herrlicher Tag heute, nicht?«

»Wunderschön«, pflichtete ihm Keller bei.

Kellers Zweizimmerwohnung lag im zwanzigsten Stock. Wenn er aus dem Fenster schaute, konnte er das UNO-Hauptquartier, den East River und den Stadtteil Queens sehen. Am ersten Sonntag im November konnte er die Teilnehmer des New York Marathon etwa auf halber Strecke über die Queensboro Bridge strömen sehen.

Dieses Schauspiel versuchte sich Keller möglichst nicht entgehen zu lassen. Er saß dann stundenlang am Fenster, während sie zu Tausenden durch sein Blickfeld liefen, zuerst die Weltklasseläufer, dann das Mittelfeld und schließlich die Langsamsten der Langsamen, einige gehend, andere humpelnd. Der Start war in Staten Island, das Ziel im Central Park, und alles, was er sah, waren ein paar hundert Meter ihrer Strapazen, wenn sie sich über die Brücke nach Manhattan quälten. Irgendwann rührte ihn dieser Anblick immer zu Tränen, obwohl er nicht hätte sagen können, warum.

 
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Vielleicht war das etwas, worüber er mit Breen sprechen sollte.

Es war eine Frau, die ihn auf die Couch des Therapeuten gebracht hatte, eine Aerobic-Lehrerin namens Donna. Keller hatte sie im Fitnessstudio kennengelernt. Sie waren ein paarmal miteinander essen und ein paarmal miteinander ins Bett gegangen, oft genug, um zu merken, dass sie sexuell nicht zueinander passten. Keller ging immer noch zwei-, dreimal die Woche ins selbe Fitnessstudio, um schwere Metallgegenstände auf und ab zu bewegen, und wenn sie sich dort begegneten, gingen sie ganz normal miteinander um.

Als er einmal gerade von einer Reise zurückgekommen war, hatte er sich wohl länger darüber ausgelassen, wie schön die andere Stadt gewesen sei, worauf sie meinte: »Wenn es so was wie einen eingefleischten New York gibt, Keller, dann dich. Das ist dir doch hoffentlich klar.«

»Kann schon sein.«

»Aber du hast immer diesen Traum, dich in Elephant, Montana, niederzulassen. Egal, wo du hinkommst, träumst du gleich davon, dir dort ein schönes Leben zu machen.«

»Was soll daran auszusetzen sein?«

»Auszusetzen gibt es daran überhaupt nichts. Aber bei einer Therapie hättest du deine wahre Freude damit.«

»Glaubst du, ich sollte eine Therapie machen?«

»Ich glaube, eine Therapie würde dir viel bringen«, sagte sie. »Ins Fitnessstudio gehst du doch auch. Du quälst dich am Stair Monster, du schindest dich am Nautilus.«

»Hauptsächlich freie Gewichte.«

»Trotzdem. Du machst das nicht, weil du körperlich ein Wrack bist.«

»Ich mache es, um in Form zu bleiben.«

»Und weil du dich hinterher gut fühlst.«

»Na und?«

»Na ja, ich sehe dich als jemand, der eingeschlossen ist und seiner Enge zu entrinnen versucht«, sagte sie. »Du fährst kreuz und quer durchs ganze Land und lässt dir von Immobilienmaklern Häuser zeigen, die du nie kaufen wirst.«

»Das habe ich erst ein paarmal gemacht. Und was soll daran außerdem so schlimm sein? Damit vertreibe ich mir die Zeit.«

»Du machst solche Dinge und weißt nicht, warum«, sagte sie. »Weißt du, was eine Therapie ist? Es ist ein Abenteuer, eine Entdeckungsreise. Und es ist, wie ins Fitnessstudio zu gehen. Es ist … ach was, vergiss es. Was rede ich hier überhaupt, wenn es dich sowieso nicht interessiert.«

»Vielleicht interessiert es mich ja«, sagte er.

Donna machte, was nicht weiter überraschend war, selbst eine Therapie. Aber sie hatte eine Therapeutin, und sie fanden beide, dass er sich bei einem Mann wohler fühlen würde. Ihr Exmann war sehr zufrieden mit seinem Therapeuten gewesen, einem gewissen Breen. Donna selbst hatte ihn nie kennengelernt, und ihr Verhältnis zu ihrem Ex war nicht gerade das beste, aber …

»Schon gut«, sagte Keller. »Ich rufe ihn selber an.«

Er rief Breen an und berief sich auf Donnas Exmann. »Aber ich glaube nicht, dass er mich auch nur namentlich kennt«, sagte er. »Wir haben uns vor einer Weile auf einer Party unterhalten, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Aber etwas, was er gesagt hat, hat bei mir eine Saite zum Schwingen gebracht, na ja, und da dachte ich mir, vielleicht sollte ich es einfach mal probieren.«

»Die Intuition ist ein guter Ratgeber«, sagte Breen.

Keller vereinbarte einen Termin mit ihm und gab seinen Namen mit Peter Stone an. In der ersten Sitzung erzählte er unter anderem von seiner Tätigkeit für einen großen, aber ungenannten Konzern. »Was Psychotherapie angeht, sind sie dort ein bisschen altmodisch«, erklärte er Breen. »Deshalb gebe ich Ihnen keine Adresse oder Telefonnummer und bezahle jede Stunde bar.«

»Ihr Leben ist voller Geheimnisse«, sagte Breen.

»Tja, das bringt meine Arbeit so mit sich.«

»Aber in der Therapie können sie vollkommen offen und aufrichtig sein. Dabei geht es vor allem darum, die Geheimnisse aufzudecken, die Sie vor sich selbst haben. Hier sind Sie durch die Heiligkeit der Beichte geschützt, auch wenn es nicht meine Aufgabe ist, Ihnen die Absolution zu erteilen. Das können nur Sie selbst tun.«

»Mhm«, sagte Keller.

»Aber bis dahin müssen Sie bestimmte Geheimnisse wahren. Das kann ich so stehen lassen. Ich brauche Ihre Adresse oder Telefonnummer nicht, es sei denn, ich muss einen Termin absagen. Deshalb schlage ich vor, Sie rufen ein, zwei Stunden vor jeder Sitzung an. Andernfalls müssen Sie in Kauf nehmen, dass Sie hin und wieder umsonst herkommen. Wenn Sie einen Termin absagen müssen, geben Sie mir bitte spätestens vierundzwanzig Stunden vorher Bescheid. Sonst muss ich Ihnen den ausgefallenen Termin in Rechnung stellen.«

»Kein Problem«, sagte Keller.

Er ging zweimal die Woche zur Therapie. Montags und donnerstags, um zwei Uhr nachmittags. Ob dabei etwas herauskam, war schwer zu sagen. Manchmal konnte er sich auf der Couch total entspannen und sprach offen und ehrlich über seine Kindheit. Andere Male empfand er die fünfzigminütige Therapiesitzung als Balanceakt. Er fühlte sich hin und her gerissen; einerseits hatte er das Bedürfnis, alles zu erzählen, andererseits fühlte er sich gezwungen, alles für sich zu behalten.

Niemand wusste, dass er eine Therapie machte. Einmal begegnete er zufällig Donna, und als sie wissen wollte, ob er den Therapeuten mal angerufen hätte, zuckte er verlegen mit den Achseln und leugnete es. »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte er, »aber dann hat mir jemand von dieser Masseuse erzählt. Sie macht eine Kombination aus schwedischer Massage und Shiatsu, und ich muss sagen, das bringt mir, glaube ich, mehr als jemand, der in meinem Kopf herumstochert.«

»Oh, Keller«, sagte sie nicht ohne Zuneigung. »Du wirst dich wohl nie ändern.«

 
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Es war an einem Montag, als er den Traum von den Mäusen erzählte. Am Mittwochvormittag klingelte sein Telefon, und es war Dot. »Er will dich sehen«, sagte sie.

»Ich komme gleich raus«, sagte er.

Er zog ein Jackett und eine Krawatte an und nahm ein Taxi zur Grand Central Station und einen Zug nach White Plains. Dort nahm er sich wieder ein Taxi und sagte dem Fahrer, den Washington Boulevard rauszufahren und ihn an der Ecke Norwalk rauszulassen. Nachdem das Taxi weggefahren war, ging er die Norwalk hinauf zum Taunton Place und bog dort links ab. Das zweite Haus auf der rechten Seite war ein alter viktorianischer Bau, der auf allen vier Seiten von einer Veranda umgeben war. Er klingelte, und Dot öffnete ihm.

»Er ist oben«, sagte sie. »Er erwartet dich.«

Er ging nach oben, und vierzig Minuten später kam er wieder nach unten. Ein junger Mann namens Louis fuhr ihn zum Bahnhof zurück, und während der Fahrt unterhielten sie sich über einen Boxkampf, den beide auf ESPN gesehen hatten. »Was ich gern hätte«, sagte Louis, »ist ein Knopf auf der Fernbedienung, mit dem sich die Kommentatoren stummschalten lassen, aber das Publikum und die Treffer soll man schon noch hören können. Dann hätte man nicht ständig dieses blöde Gelabere im Ohr.« Keller überlegte, ob das technisch möglich wäre. »Ich sehe eigentlich keinen Grund, warum es nicht gehen sollte«, meinte Louis. »Sonst können sie doch auch alles. Wenn man einen Mann auf den Mond befördern kann, sollte man doch auch dafür sorgen können, dass Al Bernstein die Klappe hält.«

Keller nahm den Zug zurück nach New York und ging in seine Wohnung. Er telefonierte ein bisschen herum und packte eine Reisetasche. Um 15.30 Uhr fuhr er nach unten, ging ein Stück die Straße hinunter und winkte einem Taxi, von dem er sich zum JFK bringen ließ, wo er sich seine Bordkarte für den 18:10-Flug nach Tucson abholte.

In der Abflughalle fiel ihm sein Termin bei Breen ein. Er rief an und sagte den Donnerstagstermin ab. Da die 24-Stunden-Frist bereits überschritten war, sagte Breen, er müsse ihm die Sitzung in Rechnung stellen, wenn er niemanden fände, der für ihn einsprang.

»Machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken«, sagte Keller. »Ich hoffe, zu meinem Montagstermin wieder zurück zu sein, aber im Voraus lässt sich immer schwer sagen, wie lange es dauert. Wenn ich es nicht schaffe, müsste ich Ihnen zumindest früher als vierundzwanzig Stunden vorher Bescheid geben können.«

In Dallas hatte er einen Anschlussflug und kam kurz vor Mitternacht in Tucson an. Außer seinem Handgepäck hatte er nichts dabei, aber er ging trotzdem zur Gepäckausgabe. Dort stand ein zaundürrer Mann mit einem breitkrempigen Strohhut, der ein Schild hielt, auf das von Hand NOSCAASI geschrieben war. Keller beobachtete den Mann ein paar Minuten und stellte fest, dass sonst niemand ihn beobachtete. Er ging auf ihn zu und sagte: »Ich habe mir den ganzen Flug nach Dallas den Kopf zerbrochen, und irgendwann habe ich es gemerkt: Es ist Isaacson rückwärts geschrieben.«

»Ganz genau«, sagte der Mann. Er schien beeindruckt, als ob Keller den Geheimcode der japanischen Flotte geknackt hätte. »Sie haben kein Gepäck aufgegeben, oder? Hätte mich auch gewundert. Zum Auto geht’s hier lang.«

Im Auto zeigte ihm der Mann drei Fotos, alle vom selben Mann, einem dunklen korpulenten Kerl mit glänzendem schwarzem Haar und einem gierigen Schweinegesicht. Buschiger Schnurrbart, buschige Augenbrauen. Große Poren auf der Nase.

»Das ist Rollie Vasquez«, sagte der Mann. »Einen Schönheitswettbewerb würde dieser Sack wohl nicht gewinnen, eh?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Dann kommen Sie«, sagte der Mann. »Ich zeige Ihnen, wo er wohnt, wo er essen geht, wo er seine anderen fleischlichen Gelüste befriedigt. Rollie Vasquez, das ist Ihr Leben.«

Zwei Stunden später ließ ihn der Mann vor dem Ramada Inn raus und gab ihm einen Zimmerschlüssel und einen Autoschlüssel. »Eingecheckt sind Sie bereits«, sagte er. »Der Wagen steht an der Treppe, die Ihrem Zimmer am nächsten ist. Ein Mitsubishi Eclipse, ganz passable Karre. Die Farbe soll silberblau sein, aber in den Papieren steht grau. Kfz-Schein ist im Handschuhfach.«

»Da sollte noch was anderes sein.«

»Das ist auch im Handschuhfach. Es ist natürlich abgeschlossen, aber der Schlüssel ist für Zündschloss und Handschuhfach. Und für Türen und Kofferraum auch. Und wenn man den Schlüssel verkehrt rum reinsteckt, passt er auch, weil es kein Oben und Unten gibt. Diese Japse haben’s echt drauf.«

»Was werden sie sich wohl als Nächstes einfallen lassen?«

»Es mag vielleicht nicht viel sein«, sagte der Mann, »aber man vertut ständig seine Zeit damit, sich zu überlegen, ob man auch den richtigen Schlüssel hat, und dann ist man am Überlegen, ob man ihn mit der richtigen Seite nach oben reinsteckt.«

»Da kommt einiges zusammen.«

»Allerdings«, sagte der Mann. »Außerdem ist er vollgetankt. Er braucht Normalbenzin, aber eine Tankladung reicht für über vierhundert Meilen.«

»Und die Reifen? Nein, nur ein Witz.«

»Und ein guter noch dazu«, sagte der Mann. »›Und die Reifen?‹ Echt witzig.«

 
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Der Wagen stand, wo er sein sollte, und im Handschuhfach waren der Kfz-Schein und eine halbautomatische Pistole, eine 22er Horstmann Sun Dog, geladen, mit einem Ersatzladestreifen daneben. Keller steckte die Halbautomatik und den Ladestreifen in seine Reisetasche, schloss den Wagen ab und ging auf sein Zimmer, ohne an der Rezeption vorbeizuschauen.

Nachdem er geduscht hatte, setzte er sich und legte die Füße auf den Couchtisch. Es war alles vorbereitet, das machte die Sache einfacher. Manchmal war es ihm aber lieber, wenn er nur einen Namen und eine Adresse hatte und nicht alles auf dem silbernen Tablett serviert bekam. So war es zwar einfacher, aber wer konnte schon sagen, welche Spuren dabei hinterlassen wurden? Wer wusste, welche Vorgeschichte die Pistole hatte oder was die Bohnenstange mit dem NOSCAASI -Schild alles erzählen würde, wenn ihn die Polizei aufgriff und ausquetschte?

Umso mehr Grund, es schnell durchzuziehen. Er sah sich genug von einem alten Film im Kabelfernsehen an, um bettreif zu sein, und schlief bis zum Morgen durch. Als er zum Auto ging, hatte er seine Reisetasche dabei. Er rechnete zwar damit, in sein Zimmer zurückzukehren, aber wenn nicht, ließe er nichts zurück, nicht einmal einen Fingerabdruck.

Er frühstückte in einem Denny’s. Zu Mittag aß er gegen eins in einem mexikanischen Lokal in der Figueroa. Am späten Nachmittag fuhr er in die Berge im Norden der Stadt, und dort war er auch noch, als die Sonne unterging. Dann fuhr er ins Ramada zurück.

Das war am Donnerstag. Als er sich am Freitagmorgen rasierte, klingelte das Telefon. Er ließ es läuten. Gerade als er gehen wollte, läutete es noch einmal. Er ging auch diesmal nicht dran, wischte aber mit einem Handtuch ein zweites Mal alle Oberflächen ab. Dann ging er zum Auto.

Um zwei Uhr nachmittags folgte er Rolando Vasquez in die Herrentoilette der Saguaro-Lanes-Bowlingbahn und schoss ihm dreimal in den Kopf. Die kleine Pistole machte nicht viel Lärm, nicht einmal in der Enge der gefliesten Toilette. Zuvor hatte er sich einen provisorischen Schalldämpfer gebaut, indem er den Lauf mit einem Hightech-Isoliermaterial umwickelte, das viel vom Krachen des Schusses absorbierte, ohne die Pistole viel schwerer zu machen. Wenn das ging, dachte er, musste es auch möglich sein, Al Bernsteins Stimme auszublenden.

Er ließ Vasquez in einem Toilettenabteil liegen, entsorgte die Pistole eine halbe Meile weiter in einem Gully, stellte den Wagen auf dem Langzeitparkplatz am Flughafen ab.

Auf dem Heimflug fragte er sich, warum sie ihn überhaupt gebraucht hatten. Sie hatten das Auto und die Waffe und den Mann besorgt, der ihm die Zielperson zeigte. Warum machten sie es dann nicht gleich selbst? Mussten Sie ihn wirklich aus New York kommen lassen, damit er auf die Maus trat?

 
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»Sie haben gesagt, ich sollte mal über meinen Namen nachdenken«, erzählte er Breen. »Über seine Bedeutung. Mir leuchtet allerdings nicht ein, weshalb er irgendeine Bedeutung haben sollte. Es ist ja nicht so, dass ich ihn mir selbst ausgesucht habe.«

»Dann will ich Ihnen mal einen Vorschlag machen«, sagte Breen. »Es gibt ein metaphysisches Prinzip, demzufolge wir über alles in unserem Leben selbst entscheiden, dass wir uns sogar die Eltern aussuchen, denen wir geboren werden, dass alles, was in unserem Leben passiert, eine Manifestation unseres Willens ist. Demzufolge gibt es keine Zufälle, keine Fügungen des Schicksals.«

»Na, ich weiß nicht.«

»Sie müssen es ja auch nicht glauben. Aber lassen Sie uns einfach mal davon ausgehen, dass es so ist. Angenommen, Sie haben sich den Namen Peter Stone selbst ausgesucht. Was sagt uns diese Wahl?«

Keller, der ausgestreckt auf der Couch lag, gefiel das gar nicht. »Na ja, peter ist ein anderes Wort für Penis«, sagte er widerstrebend. »Ein steinerner Peter wäre dann eine Erektion, oder?«

»Wäre er das?«

»Dann hätte also jemand, der beschließt, sich Peter Stone zu nennen, etwas zu beweisen. Er hätte Zweifel an seiner Potenz. Ist das, was ich sagen soll?«

»Ich will nicht, dass Sie irgendetwas Bestimmtes sagen. Aber haben Sie denn Zweifel an Ihrer Potenz?«

»Bisher hatte ich eigentlich nie welche«, sagte Keller. »Natürlich lässt sich schwer sagen, wie viel Zweifel ich vor meiner Geburt hatte, zu der Zeit, als ich mir meine Eltern ausgesucht und entschieden habe, welchen Namen sie mir geben sollen. In diesem Alter hatte ich wahrscheinlich gewisse Probleme, eine Erektion zu bekommen, deshalb könnte ich damals durchaus gewisse Zweifel gehabt haben.«

»Und jetzt?«

»Ich habe keine Potenzprobleme, wenn das die Frage ist. Ich bin zwar kein Teenager mehr und kann nicht mehr drei-, viermal die Nacht, aber wer würde sich danach ernsthaft zurücksehnen? In der Regel kriege ich es hin.«

»Sie kriegen es hin.«

»Ja.«

»Sie funktionieren.«

»Ist daran was auszusetzen?«

»Was glauben Sie?«

»Lassen Sie das«, sagte Keller. »Beantworten Sie eine Frage nicht mit einer Frage. Wenn ich eine Frage stelle und Sie sie nicht beantworten wollen, dann tun Sie es einfach nicht. Aber geben Sie sie nicht an mich zurück. Das nervt.«

»Sie funktionieren, Sie kriegen es hin«, sagte Breen. »Aber was empfinden Sie dabei, Mr. Peter Stone?«

»Was ich dabei empfinde?«

»Es ist unzweifelhaft richtig, dass peter ein geläufiger Ausdruck für den Penis ist, aber das Wort hat auch eine ältere Bedeutung. Erinnern Sie sich an Jesu Worte an den ersten Peter? ›Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.‹ Peter bedeutet nämlich Fels. Unser Herr hat ein Wortspiel gemacht. Ihr Vorname bedeutet also Fels und Ihr Nachname ist Stone. Was haben wir hier also? Fels und Stein. Hart, unnachgiebig, verstockt. Unsensibel. Gefühllos.«

»Stop!«, sagte Keller.

»In Ihrem Traum, was empfinden Sie, wenn Sie die Mäuse töten?«

»Nichts. Ich will nur den Auftrag erfüllen.«

»Spüren Sie ihren Schmerz? Empfinden Sie Stolz auf Ihre Leistung, Genugtuung über die erledigte Aufgabe? Verschafft Ihnen ihr Tod einen Kick, sexuelle Lust?«

»Nichts«, sagte Keller. »Ich empfinde nichts. Könnten wir kurz unterbrechen?«

»Was empfinden Sie jetzt gerade?«

»Nur so ein komisches Gefühl im Bauch, mehr nicht.«

»Möchten Sie auf die Toilette gehen? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«

»Nein, nein, schon gut. Aber ich sollte mich besser aufsetzen. Es geht gleich vorbei. Es geht schon vorbei.«

 
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Als Keller am Fenster saß und keine Marathonläufer, sondern Autos betrachtete, die über die Queensboro Bridge strömten, dachte er über Namen nach. Besonders ärgerlich fand er, dass man kein zertifizierter Metaphysiker sein musste, um sich der Bedeutung des Namens Peter Stone bewusst zu werden. Er hatte ihn nur zu offensichtlich selbst gewählt und nicht in Gestalt einer Seele, die entscheiden konnte, welchen Eltern sie geboren würde und welchen Namen sie ihr geben sollten. Er hatte sich den Namen selbst ausgedacht, als er bei Jerrold Breen anrief, um einen ersten Termin zu vereinbaren. Name ? hatte Breen gefragt. Stone , hatte er geantwortet. Peter Stone .

Die Sache war nur, dass er nicht dumm war. Kalt, unnachgiebig, unsensibel, aber nicht dumm. Wenn man sich schon auf das Namensspiel kaprizieren wollte, musste man sich nicht auf den Decknamen beschränken, den er sich selbst ausgesucht hatte. Man kam auch bei dem Namen, den er sein ganzes Leben lang getragen hatte, voll auf seine Kosten.

Sein vollständiger Name war John Paul Keller, aber niemand nannte ihn anders als Keller, und die wenigsten Leute wussten seine Vornamen. In seinem Mietvertrag und auf den meisten Kreditkarten in seiner Brieftasche war sein Name mit J.P. Keller angegeben. Die Leute, Männer wie Frauen, nannten ihn einfach nur Keller. (»Er ist oben, Keller. Er erwartet dich.« »Ach, Keller, du wirst dich wohl nie ändern.« »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, Keller, aber ich komme in dieser Beziehung einfach nicht auf meine Kosten.«)

Keller. Für Deutsche, Österreicher oder Schweizer war natürlich klar, was es bedeutete. Aber man brauchte nicht zu wissen, was Keller in anderen Sprachen bedeutete. Man brauchte nur einen Vokal auszutauschen. Keller = Killer.

Wenn das nicht eindeutig war.

 
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Auf der Couch, seine Augen waren geschlossen, sagte Keller: »Ich glaube, die Therapie wirkt.«

»Warum sagen Sie das?«

»Gestern Abend habe ich eine Frau kennengelernt. Ich habe ihr ein paar Drinks spendiert und bin dann mit ihr nach Hause gegangen. Wir sind ins Bett gegangen, aber ich konnte nichts tun.«

»Sie konnten nichts tun?«

»Also, eigentlich hätte es schon Verschiedenes gegeben, was ich hätte tun können. Ich hätte einen Brief schreiben, eine Pizza bestellen oder ›Melancholy Baby‹ singen können. Aber ich konnte nicht tun, was wir beide gehofft hatten, dass ich tun würde, nämlich mit ihr schlafen.«

»Sie waren impotent.«

»Sie sind wirklich clever. Ihnen entgeht aber auch gar nichts.«

»Sie machen Ihre Impotenz mir zum Vorwurf«, sagte Breen.

»Tue ich das? Also ich weiß nicht. Ich bin nicht mal sicher, ob ich sie mir selbst zum Vorwurf mache. Ehrlich gestanden, hat mich das Ganze eher amüsiert als belastet. Und ihr hat es auch nicht groß was ausgemacht, vielleicht vor lauter Erleichterung, dass es mir nichts ausgemacht hat. Aber nur damit so was nicht noch mal vorkommt, habe ich beschlossen, meinen Namen in Dick Hardin zu ändern.«

»Wie hat Ihr Vater geheißen?«

»Mein Vater? Was soll das jetzt für eine Frage sein? Wie kommen Sie denn darauf?«

Breen sagte nichts.

Mehrere Minuten lang tat das auch Keller nicht. Dann sagte er, mit geschlossenen Augen: »Ich habe meinen Vater nicht gekannt. Er war Soldat. Er ist vor meiner Geburt gefallen. Vielleicht ist er auch schon nach Vietnam gekommen, bevor ich geboren war, und erst gefallen, als ich ein paar Monate alt war. Vielleicht war er auch zu Hause, als ich geboren wurde, oder er ist auf Urlaub nach Hause gekommen, als ich ganz klein war, und hat mich in seinem Schoß sitzen lassen und mir gesagt, wie toll er mich findet.«

»Haben Sie eine solche Erinnerung?«

»Ich habe keine Erinnerung«, sagte Keller. »Die einzige Erinnerung, die ich habe, ist die, dass mir meine Mutter von ihm erzählt hat, und das ist der Grund für das ganze Kuddelmuddel, weil sie mir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Dinge erzählt hat. Entweder ist er vor meiner Geburt oder kurz danach gefallen, und entweder ist er gestorben, ohne mich gesehen zu haben, oder er hat mich einmal gesehen und in seinem Schoß sitzen lassen. Meine Mutter war schwer in Ordnung, aber sie war in vieler Hinsicht etwas unklar. Nur in einem Punkt war sie immer vollkommen klar: dass er Soldat war und dass er in Vietnam gefallen ist.«

»Und sein Name …«

War Keller, dachte er. »War derselbe wie meiner«, sagte er. »Aber lassen wir mal den Namen, da ist etwas, das wesentlich wichtiger ist als der Name. Das würde ich Ihnen gern erzählen. Sie hatte ein Bild von ihm, eine Porträtaufnahme, ein gut aussehender junger Soldat in Uniform und mit einer Mütze, eins von diesen Schiffchen, die sich flach zusammenlegen lassen, wenn man sie abnimmt. Als ich ein kleiner Junge war, stand dieses Foto in einem Goldrahmen auf ihrer Kommode, und sie erzählte mir ständig, dass der Mann darauf mein Vater war.

»Und dann war das Bild eines Tages nicht mehr da. ›Es ist weg‹, sagte sie. Und das war alles, was sie zu diesem Thema sagte. Damals war ich schon größer, sieben, acht Jahre vielleicht.

»Ein paar Jahre später bekam ich einen Hund. Ich nannte ihn Soldier. Nach meinem Vater, dem Soldaten. Jahre später wurden mir zwei Dinge bewusst. Zum einen, dass Soldier ein komischer Name für einen Hund ist. Zum anderen, wer hat schon mal von jemand gehört, der seinen Hund nach seinem Vater nennt? Aber damals kam mir das völlig normal vor.«

»Was ist aus dem Hund geworden?«

»Er wurde impotent. Jetzt lassen Sie mich gefälligst zu Ende reden, ja? Worauf ich hinauswill, ist wesentlich wichtiger als der Hund. Mit vierzehn, fünfzehn fing ich an, nachmittags nach der Schule einem Mann zu helfen, der alle möglichen Arbeiten erledigte, die im Viertel so anfielen. Keller und Dachböden entrümpeln und alles entsorgen, solche Dinge. Und dann hat die Kurzwarenhandlung dichtgemacht, wahrscheinlich ist der Inhaber gestorben, und wir haben für den neuen Pächter den Keller leergeräumt. Unmengen von Schachteln voller Gerümpel, und wir haben alles durchgesehen, denn dieser Typ hat das Zeug, das er entsorgen sollte, auch nach Dingen durchsucht, die sich noch verkaufen ließen. Aber zu gründlich durfte man diesen ganzen Schrott auch nicht durchsehen, das wäre Zeitverschwendung gewesen.

»Jedenfalls habe ich eine dieser Schachteln durchgesehen, und was sehe ich dort? Ein gerahmtes Bild von meinem Vater. Dasselbe Foto, das auf der Kommode meiner Mutter gestanden hat, er in Uniform und mit seinem Käppi. Das Bild, das verschwunden ist, sogar der Rahmen war derselbe, bloß, wie ist es in diese Schachtel gekommen?«

Von Breen kein Wort.

»Ich kann mich jetzt noch genau erinnern, wie ich mich damals gefühlt habe. Völlig von den Socken, wie in Twilight Zone . Und dann fasse ich noch mal in die Schachtel und nehme das Erste heraus, was meine Finger berühren, und es ist das gleiche Foto, im gleichen Rahmen.

»Die ganze Schachtel ist voller gerahmter Fotos. Auf etwa der Hälfte davon war der Soldat, und auf den anderen war eine hübsche blonde junge Frau mit einem Pony und einem strahlenden Lächeln. Es war also eine Schachtel mit Rahmen. So verpackte man damals billige Bilderrahmen, mit einem Foto drinnen. Soviel ich weiß, ist das immer noch so. Was meine Mutter also gemacht haben muss, sie muss sich in irgendeinem Ramschladen einen Bilderrahmen gekauft haben und mir gesagt haben, der Mann auf dem Foto wäre mein Vater. Und als ich älter geworden bin, hat sie es verschwinden lassen.

»Ich habe eins der gerahmten Fotos nach Hause mitgenommen. Ich habe ihr nichts davon erzählt. Ich habe es ihr auch nicht gezeigt, aber ich habe es eine Weile behalten. Ich habe herausgefunden, dass das Foto aus dem Zweiten Weltkrieg stammte. Anders ausgedrückt, es konnte gar kein Foto meines Vaters sein, weil er eine andere Uniform hätte tragen müssen.

»Zu diesem Zeitpunkt wusste ich, glaube ich, schon, dass das, was sie mir über meinen Vater erzählt hatte, reine Erfindung war. Ich glaube nicht, dass sie wusste, wer mein Vater war. Ich vermute, sie war betrunken und ist mit jemand mitgegangen, oder vielleicht hatte sie auch mehrere Männer gleichzeitig. Aber spielt das wirklich eine Rolle? Sie ist in eine andere Stadt gezogen und hat den Leuten erzählt, sie wäre verheiratet, ihr Mann wäre beim Militär oder tot, keine Ahnung, was sie ihnen erzählt hat.«

»Wie geht es Ihnen damit?«

»Wie es mir damit geht?« Keller schüttelte den Kopf. »Wenn ich mir die Hand in einer Taxitür eingeklemmt hätte, würden Sie mich dann auch fragen, wie es mir damit geht?«

»Und Sie wären um eine Antwort verlegen«, sagte Breen. »Hier kommt eine andere Frage. Wer war Ihr Vater?«

»Ich habe Ihnen doch gerade erzählt …«

»Aber jemand muss Sie gezeugt haben. Ob Sie ihn nun gekannt haben oder nicht, ob Ihre Mutter wusste oder nicht wusste, wer er war, gab es einen bestimmten Mann, der den Samen gesetzt hat, aus dem Sie hervorgegangen sind. Außer Sie halten sich für die Wiederkunft Christi.«

»Nein«, sagte Keller. »Das ist eine Illusion, die mir erspart geblieben ist.«

»Dann erzählen Sie mir doch, wer er war, der Mann, der Sie gezeugt hat. Nicht auf Grundlage dessen, was man Ihnen erzählt hat oder was Sie sich selbst zusammenzureimen geschafft haben. Ich stelle diese Frage nicht dem Teil von Ihnen, der rational denkt und abwägt. Ich frage den Teil, der es einfach weiß. Wer war Ihr Vater? Was war Ihr Vater?«

»Er war ein Soldat«, sagte Keller.

 
• • •
 

Als Keller in der Second Avenue in Richtung Uptown ging, blieb er vor einer Tierhandlung stehen und beobachtete zwei kleine Hunde, die im Schaufenster herumtollten.

Er ging in den Laden. Eine ganze Wand war voller gestapelter Käfige mit kleinen Hunden und Katzen. Kellers Stimmung sank abrupt in den Keller, als er in die Käfige schaute. Ihm schlugen Wogen von Traurigkeit entgegen.

Er wandte sich ab und sah sich die anderen Tiere an. Vögel in Käfigen, Wüstenmäuse und Schlangen in Terrarien, tropische Fische in Aquarien. Mit ihnen hatte er keine Probleme. Es waren die kleinen Hunde, die er nicht ansehen konnte.

Er verließ das Geschäft. Am nächsten Tag suchte er ein Tierheim auf und ging an Käfigen voller Hunde vorbei, die darauf warteten, adoptiert zu werden. Diesmal war die Traurigkeit überwältigend, und er spürte sie als körperlichen Druck auf seiner Brust. Es musste ihm anzusehen gewesen sein, weil ihn die junge Angestellte fragte, ob ihm etwas fehlte.

»Nur ein kleiner Schwindelanfall«, sagte er.

Im Büro sagte sie ihm, dass sie ihm wahrscheinlich helfen könnten, wenn er an einer bestimmten Rasse interessiert wäre. Sie könnten ihn in ihre Kartei aufnehmen, und wenn ein Hund dieser speziellen Rasse hereinkäme …

»Ich glaube, ich kann kein Haustier halten«, sagte er. »Ich reise zu viel. Das wäre mir zu viel Verantwortung.« Die Frau sagte nichts, und Kellers Worte hallten in ihrem Schweigen nach. »Aber ich würde gern was spenden«, fuhr er fort. »Ich möchte Ihre Organisation unterstützen.«

Er holte seine Geldbörse heraus, nahm ein paar Scheine heraus und händigte sie der Frau aus, ohne sie zu zählen. »Eine anonyme Spende«, sagte er. »Ich brauche keine Quittung. Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe. Es tut mir leid, dass ich keinen Hund adoptieren kann. Danke. Vielen Dank.«

Sie sagte etwas, aber er hörte nicht hin. Er eilte nach draußen.

 
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»›Ich möchte Ihre Organisation unterstützen.‹ Das ist, was ich zu ihr gesagt habe, und dann bin ich nach draußen gestürzt, weil ich nicht wollte, dass sie sich bei mir bedankt. Oder mir Fragen stellt.«

»Was hätte sie Sie denn fragen sollen?«

»Keine Ahnung«, sagte Keller. Er drehte sich auf der Couch von Breen weg, sodass er an die Wand blickte. »›Ich möchte Ihre Organisation unterstützen.‹ Dabei weiß ich gar nicht, was diese Organisation genau macht. Für manche Tiere finden sie ein neues Zuhause, aber was machen sie mit den anderen? Einschläfern?«

»Vielleicht.«

»Was will ich unterstützen? Die Unterbringung oder das Einschläfern?«

»Das müssen schon Sie mir sagen.«

»Ich erzählen Ihnen schon viel zu viel«, sagte Keller.

»Oder nicht genügend.«

Keller sagte nichts.

»Warum hat es Sie so traurig gemacht, die Hunde in ihren Käfigen zu sehen?«

»Ich habe ihre Traurigkeit gespürt.«

»Man spürt nur seine eigene Traurigkeit. Warum macht es Sie traurig, ein Hund in einem Käfig? Sind Sie in einem Käfig?«

»Nein.«

»Ihr Hund. Soldier. Erzählen Sie mir von ihm.«

»Na schön«, sagte Keller. »Das müsste eigentlich gehen.«

 
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Eine oder zwei Sitzungen später sagte Breen: »Sie haben nie geheiratet.«

»Nein.«

»Ich war verheiratet.«

»Aha?«

»Acht Jahre. Sie war meine Sprechstundenhilfe. Sie hat die Termine gemacht, die Patienten ins Wartezimmer geführt. Jetzt habe ich keine Sprechstundenhilfe mehr. Das Telefon übernimmt der Anrufbeantworter. Ich höre ihn zwischen den Stunden ab und beantworte die Anrufe. Wenn ich von Anfang an einen Anrufbeantworter gehabt hätte, hätte ich mir viel Kummer erspart.«

»War es keine glückliche Ehe?«

Breen schien die Frage nicht gehört zu haben. »Ich wollte Kinder. Sie hatte in acht Jahren drei Abtreibungen und hat mir nie etwas davon erzählt. Nicht ein Wort. Und dann hat sie es mir eines Tages an den Kopf geworfen. Ich war bei einem Spezialisten gewesen, ich hatte mich untersuchen lassen, und alles deutete darauf hin, dass ich alles andere als unfruchtbar war, mit einer hohen Spermienanzahl und extrem motilen Spermien. Deshalb wollte ich, dass sie sich untersuchen ließ. ›Ich habe schon drei oder vier deiner Babys abgetrieben, du Idiot, lass mich doch in Frieden.‹ Ich sagte ihr, dass ich mich scheiden lassen wollte, worauf sie nur meinte, das würde mich einiges kosten.«

»Und?«

»Wir waren acht Jahre verheiratet. Inzwischen sind wir neun Jahre geschieden. Ich zahle ihr jeden Monat Unterhalt. Wenn es nach mir ginge, würde ich das Geld lieber verbrennen.«

Breen verstummte. Nach einer Weile sagte Keller: »Warum erzählen Sie mir das alles?«

»Einfach so.«

»Soll das etwas mit meiner Psyche zu tun haben? Soll ich einen Zusammenhang herstellen, mir mit der Hand an die Stirn klatschen und sagen: ›Aber klar, natürlich! Dass ich das nicht gleich gemerkt habe!‹«

»Sie vertrauen mir etwas an«, sagte Breen. »Warum sollte ich da nicht auch Ihnen etwas anvertrauen?«

 
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Ein paar Tage später rief Dot an. Keller nahm den Zug nach White Plains hinaus, wo ihn Louis am Bahnhof abholte und zu dem Haus am Taunton Place fuhr. Später brachte ihn Louis zum Bahnhof zurück, und Keller fuhr wieder in die Stadt. Er timte den Anruf bei Breen so, dass er den Anrufbeantworter dran bekam. »Hier Peter Stone«, sagte er. »Ich muss geschäftlich nach San Diego fliegen. Deshalb kann ich meinen nächsten Termin nicht wahrnehmen und möglicherweise auch den danach nicht. Ich werde versuchen, Ihnen Bescheid zu geben.«

Gab es sonst noch etwas, was er Breen sagen sollte? Ihm fiel nichts ein. Er legte auf, packte eine Reisetasche und fuhr mit Amtrak nach Philadelphia.

Niemand holte ihn vom Bahnhof ab. Der Mann in White Plains hatte ihm ein Foto gezeigt und einen Zettel mit einem Namen und einer Adresse darauf gegeben. Der fragliche Mann war Geschäftsführer eines Sex-Shops nicht weit von der Independence Hall. Auf der anderen Seite war eine Kneipe, ein perfekter Beobachtungsposten, aber ein Blick in ihr Inneres ließ keinen Zweifel daran, dass Keller dort einige Aufmerksamkeit erregen würde, wenn er sich nicht gerade seiner Krawatte und seines Sakkos entledigte und zwanzig Minuten lang im Rinnstein wälzte.

Ein Stück weiter fand Keller einen Diner, und wenn er sich an einen der hinteren Tische setzte, konnte er die verspiegelten Schaufenster des Sex-Shops im Auge behalten. Er trank eine Tasse Kaffee, bevor er über die Straße und in den Sex-Shop ging, in dem zwei Männer Dienst hatten. Einer war ein dunkelhäutiger Jugendlicher mit traurigen Augen, der wahrscheinlich aus Indien oder Pakistan kam, der andere war der hängebackige Typ mit den leicht hervortretenden Augen, von dem ihm der Mann in White Plains ein Foto gezeigt hatte.

Keller ging an einer ganzen Wand mit Videokassetten entlang und blätterte in verschiedenen Magazinen. Er war etwa fünfzehn Minuten in dem Laden, als der Junge sagte, er ginge was essen. Der ältere Mann sagte: »Oh, so spät ist es schon? Okay, aber sieh zu, dass du ausnahmsweise mal bis sieben zurück bist, ja?«

Keller sah auf die Uhr. Es war sechs. Die einzigen anderen Kunden waren in den Videokabinen im hinteren Teil. Trotzdem, der Junge hatte ihn zu sehen bekommen, aber er hatte keine Eile.

Er nahm aufs Geratewohl ein paar Hefte und bezahlte sie. Der hängebackige Mann steckte sie in eine Tüte und verschloss die Tüte mit einem Stück Klebstreifen. Keller verstaute seine Erwerbungen in seiner Reisetasche und machte sich auf die Suche nach einem Hotelzimmer.

 
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Am nächsten Tag ging er in ein Museum und ins Kino und traf zehn nach sechs im Sex-Shop ein. Der junge Angestellte war weg, vermutlich aß er irgendwo einen Teller Curry. Hinter dem Ladentisch war der hängebackige Mann, außerdem waren drei Kunden im Laden. Zwei interessierten sich für die Videokassetten, einer für die Magazine.

Keller sah sich ebenfalls das Angebot an und hoffte, die drei würden bald gehen. Irgendwann stand er vor einer ganzen Wand mit Videokassetten, und sie verwandelte sich in eine Wand aus eingesperrten kleinen Hunden. Es war nur ein kurzer Moment, und er hätte nicht sagen können, ob es eine echte Halluzination war oder nur eine Art mentaler Flashback. Aber egal, was es war, es gab ihm zu denken.

Ein Kunde ging, aber die anderen zwei blieben, und dann kam jemand Neues von draußen herein. In einer halben Stunde käme der junge Inder zurück, und wer garantierte ihm, dass er eine ganze Stunde wegblieb?

Keller ging an den Ladentisch und versuchte, etwas nervöser auszusehen, als er war. Unsteter, verstohlener Blick, gesenkte Stimme: »Könnte ich Sie kurz allein sprechen?«

»Weswegen?«

Mit gesenktem Blick, die Schultern hochgezogen, sagte Keller: »Wegen was Speziellem.«

»Nichts für ungut, aber wenn es was mit Kindern ist«, sagte der Mann, »über so was weiß ich nichts und will ich auch nichts wissen.«

»Nein, nichts in der Richtung«, sagte Keller.

Sie gingen in ein Hinterzimmer. Der hängebackige Mann schloss die Tür, und als er sich umdrehte, versetzte ihm Keller mit der Handkante einen Schlag gegen die Übergangsstelle zwischen Hals und Schulter. Der Mann ging in die Knie, und im selben Moment hatte ihm Keller bereits eine Drahtschlinge um den Hals gelegt. Eine Minute später war er zur Tür hinaus, und bevor eine Stunde vergangen war, saß er im Metroliner nach Norden.

Als er nach Hause kam, merkte er, dass er die Magazine noch in seiner Reisetasche hatte. Das war Schlamperei, er hätte sie am Abend zuvor entsorgen sollen, aber er hatte sie völlig vergessen und nicht einmal den Klebstreifen von der Tüte entfernt.

Auch jetzt sah er keinen Grund, ihn zu entfernen. Er ging den Flur hinunter und warf die Tüte in den Müllschlucker. Zurück in seiner Wohnung, machte er sich einen schwachen Scotch mit Wasser und sah sich auf dem Discovery Channel eine Doku an. Über die Zerstörung des Regenwalds. Noch was, weswegen man sich Gedanken machen musste.

 
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»Ödipus.« Jerrold Breen hielt die Hände mit aneinandergelegten Fingerspitzen vor seiner Brust. »Ich nehme an, Sie kennen die Geschichte. Er hat unwissentlich seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet.«

»Zwei Fallstricke, denen ich bisher zu entgehen geschafft habe.«

»Allerdings«, sagte Breen. »Aber haben Sie das wirklich? Wenn Sie in Ihrer offiziellen Funktion als Disponent irgendwohin fliegen, wenn Sie sozusagen den Ausputzer spielen, was machen Sie dann genau? Sie entlassen Leute, streichen ganze Abteilungen, schließen Fabriken, ordnen das Leben anderer Menschen neu. Ist das eine zutreffende Beschreibung Ihrer Tätigkeit?«

»Ich denke schon.«

»Es geht also um implizite Gewalt. Einen Mann zu feuern, seine Karriere zu beenden ist im übertragenen Sinn das Äquivalent dazu, ihn zu töten. Und er ist ein Fremder, und ich darf wohl davon ausgehen, dass die wichtigeren dieser Männer häufig älter sind als Sie, oder liege ich da falsch?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wenn Sie tun, was Sie tun, ist es praktisch so, als würden Sie Ihren unbekannten Vater suchen und töten.«

»Na, ich weiß nicht«, sagte Keller. »Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«

»Und Ihre Beziehungen zu Frauen«, fuhr Breen fort, »weisen eine ausgeprägte ödipale Komponente auf. Ihre Mutter war eine schwer zu fassende, wenig zielgerichtete Frau, die selbst ihrem eigenen Leben keine rechte Richtung verleihen konnte und nicht wirklich in der Lage war, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Ihre eigenen Beziehungen zu Frauen sind ähnlich vage und unverbindlich. Ihre Potenzprobleme …«

»Einmal!«

»… sind eine natürliche Folge dieser mangelnden Zielgerichtetheit. Ihre Mutter lebt nicht mehr, oder?«

»Nein.«

»Und Ihr Vater ist unauffindbar und mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls verstorben. Was hier nötig ist, Peter, ist ein Akt, der ausdrücklich dem Zweck dient, dieses Schema auf einer symbolischen Ebene umzukehren.«

»Da kann ich Ihnen leider nicht folgen.«

»Das ist auch nicht ganz einfach zu erklären«, gab Breen zu. Er schlug die Beine übereinander, stützte einen Ellbogen auf das obere Knie, spreizte den Daumen ab und legte sein knochiges Kinn darauf. Keller dachte, nicht zum ersten Mal, dass Breen in einem früheren Leben ein Storch gewesen sein musste. »Angenommen, es gibt eine Männerfigur in Ihrem Leben«, fuhr Breen fort, »vorzugsweise jemand, der mindestens ein paar Jahre älter ist als Sie, jemand, der eine Art Vaterrolle für Sie spielt, jemand, an den Sie sich wenden können, wenn Sie Rat suchen.«

Keller dachte an den Mann in White Plains.

»Statt diesen Mann zu töten«, sagte Breen, »nur im übertragenen Sinn natürlich, muss ich wohl nicht eigens hinzufügen – ich spreche schon die ganze Zeit im übertragenen Sinn – anstatt also diesen Mann zu töten, wie Sie das mit Vaterfiguren bisher getan haben, finde ich, dass Sie etwas tun sollten, um diesen Mann zu nähren.«

Den Mann in White Plains bekochen? Ihm einen Hamburger kaufen? Einen Salat anrichten?

»Vielleicht fällt Ihnen einen Möglichkeit ein, Ihre besonderen Talente zum Vorteil dieses Mannes einzusetzen statt zu seinem Schaden«, fuhr Breen fort. Er zog ein Taschentuch aus seiner Brusttasche und fuhr damit über seine Stirn. »Vielleicht gibt es eine Frau in seinem Leben – im übertragenen Sinn also Ihre Mutter –, und vielleicht bereitet sie Ihrem Vater großen Kummer. Statt also, wie Ödipus, mit ihr zu schlafen und Ihren Vater zu erschlagen, könnten Sie vielleicht das Ganze auf den Kopf stellen, indem Sie, äh, ihm Ihre Liebe zeigen und, äh, sie erschlagen.«

»Oh«, sagte Keller.

»Im übertragenen Sinn natürlich.«

»Im übertragenen Sinn«, sagte Keller.

 
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Eine Woche später gab ihm Breen ein Foto. »Das ist der sogenannte Thematische Auffassungstest«, erklärte er ihm dazu. »Sie sehen sich das Foto an und denken sich eine Geschichte dazu aus.«

»Was für eine Geschichte?«

»Irgendeine«, sagte Breen. »Das ist eine Übung, mit der Sie Ihre Vorstellungskraft trainieren können. Sie sehen sich die auf dem Foto abgebildete Frau an und stellen sich vor, was für ein Mensch sie ist und was sie macht.«

Es war ein Farbfoto und zeigte eine elegant gekleidete Brünette in maßgeschneiderter Kleidung. Sie hatte einen Hund an der Leine. Der Hund war mittelgroß und kräftig gebaut und hatte einen wachen Blick. Sein Fell war, was Hundeliebhaber blau nennen, aber für alle anderen war es grau.

»Es ist eine Frau mit einem Hund«, sagte Keller.

»Sehr gut.«

Keller holte tief Luft. »Der Hund kann reden, aber im Beisein anderer Leute will er das nicht tun. Einmal hat sich die Frau zum Narren gemacht, als sie mit ihm angeben wollte. Deshalb versucht sie das inzwischen nicht mehr. Wenn sie allein sind, quasselt er ohne Punkt und Komma, das blöde Vieh hat zu allem eine Meinung. Er erzählt ihr alles, vom wahren Auslöser des Dreißigjährigen Krieges bis zum besten Lasagne-Rezept.«

»Das ist aber ein Hund«, sagte Breen.

»Ja, und inzwischen will die Frau nicht mehr, dass andere Leute mitbekommen, dass er reden kann, weil sie Angst hat, dass man ihn ihr vielleicht wegnimmt. Auf dem Foto sind sie in einem Park. Es könnte der Central Park sein.«

»Vielleicht auch der Washington Square.«

»Es könnte auch der Washington Square sein«, gab ihm Keller recht. »Die Frau ist verrückt nach dem Hund. Wie der Hund zu der Frau steht, ist eine andere Sache.«

»Was halten Sie von der Frau?«

»Sie ist attraktiv«, sagte Keller.

»Oberflächlich betrachtet«, sagte Breen. »Glauben Sie mir, wie es in ihrem Innern aussieht, ist eine andere Geschichte. Wo, glauben Sie, dass Sie lebt?«

Keller dachte eine Weile nach. »In Cleveland«, sagte er schließlich.

»In Cleveland? Warum ausgerechnet in Cleveland?«

»Jeder muss irgendwo sein.«

»Wenn ich diesen Test machen würde«, sagte Breen, »würde ich vermutlich annehmen, dass die Frau in der Fifth Avenue wohnt, am Washington Square. Ich würde Sie wahrscheinlich im Haus Nummer eins in der Fifth Avenue wohnen lassen, weil ich dieses spezielle Haus gut kenne. Dort habe nämlich ich mal gewohnt.«

»Ja?«

»In einer großen Wohnung in einem der oberen Stockwerke. Und einmal im Monat schreibe ich einen Scheck über einen hohen Betrag aus und schicke ihn an diese Adresse, die einmal meine war. Deshalb ist es ganz normal, dass ich an dieses spezielle Haus denke, vor allem wenn ich dieses spezielle Foto sehe.« Sein Blick traf sich mit dem Kellers. »Sie haben eine Frage, oder? Nur zu, stellen Sie sie.«

»Was für eine Rasse ist der Hund?«

»Der Hund?«

»Ja, nur so eine Frage«, sagte Keller.

»Es ist ein Australian Cattle Dog. Sieht aber wie eine Promenadenmischung aus, nicht? Aber Sie können mir glauben, er kann nicht reden. Aber bleiben wir doch weiter bei dem Foto.«

»Okay.«

»Sie machen wirklich Fortschritte in der Therapie«, sagte Breen. »Ich muss Sie loben für das, was Sie tun. Und ich bin ganz sicher, dass Sie das Richtige tun werden.«

 
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Ein paar Tage später saß Keller auf einer Parkbank im Washington Square. Er faltete seine Zeitung zusammen und ging auf eine dunkelhaarige Frau in einem Blazer und mit einer Baskenmütze zu. »Entschuldigung«, sagte er, »aber ist das nicht ein Australian Cattle Dog?«

»Ja, ist er«, sagte sie.

»Ein schönes Tier«, sagte er. »Aber ziemlich selten.«

»Die meisten Leute halten ihn für eine Promenadenmischung. Eine seltene Rasse. Haben Sie selbst einen?«

»Ich hatte mal einen. Das Sorgerecht hat jetzt allerdings meine Frau.«

»Das ist aber bedauerlich.«

»Noch bedauerlicher ist es für den Hund. Er hieß Soldier. Er heißt Soldier, falls Sie ihm keinen anderen Namen gegeben hat.«

»Dieser wackere Bursche hier heißt Nelson. So rufe ich ihn zumindest. Der Name, der in seinen Papieren steht, ist natürlich endlos lang.«

»Bringen Sie ihm was bei?«

»Er hat schon alles gesehen«, sagte sie. »Dem kann man nichts mehr beibringen.«

 
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»Letzte Woche war ich im Village«, sagte Keller, »und da ist etwas total Verrücktes passiert. Ich habe im Park eine Frau kennengelernt.«

»Und das ist total verrückt?«

»Also, für mich schon. Ich lerne Frauen in Bars und auf Partys kennen, oder jemand macht uns miteinander bekannt. Aber wir sind ins Reden gekommen, und dann bin ich ihr ganz zufällig am nächsten Morgen wieder über den Weg gelaufen, und ich habe sie auf einen Cappuccino eingeladen.«

»Sie sind ihr ganz zufällig an zwei aufeinanderfolgenden Tagen über den Weg gelaufen?«

»Ja.«

»Im Village.«

»Dort wohne ich.«

Breen runzelte die Stirn. »Es wäre doch sicher besser, wenn Sie nicht mit ihr gesehen würden.«

»Wieso?«

»Finden Sie nicht, das ist gefährlich?«

»Alles, was es mich bisher gekostet hat«, sagte Keller, »ist der Preis eines Cappuccino.«

»Ich dachte, wir hätten eine stillschweigende Übereinkunft.«

»Eine stillschweigende Übereinkunft?«

»Sie leben nicht im Village«, sagte Breen. »Ich weiß, wo Sie wohnen. Jetzt tun Sie nicht so erstaunt. Als Sie das erste Mal von hier weggegangen sind, habe ich Sie von meinem Fenster beobachtet. Sie haben sich wie jemand verhalten, der vermeiden will, dass er beschattet wird. Deshalb habe ich mir Zeit gelassen. Und als Sie schließlich aufgehört haben, auf der Hut zu sein, bin ich Ihnen gefolgt. Es war nicht sonderlich schwer.«

»Warum sind Sie mir gefolgt?«

»Weil ich wissen wollte, wer Sie sind. Sie heißen Keller und wohnen in der First Avenue 865. Was Sie sind, wusste ich bereits. Um das zu merken, musste man sich nur Ihre Träume anhören. Und dann, dass Sie immer bar bezahlt haben, und diese kurzfristigen Geschäftsreisen. Ich weiß immer noch nicht, für wen Sie arbeiten, ob für irgendwelche Unterweltbosse oder für den Staat, aber das spielt letztlich auch keine Rolle. Waren Sie mit meiner Frau im Bett?«

»Ihrer Exfrau.«

»Beantworten Sie meine Frage.«

»Ja, war ich.«

»Tatsächlich? Und hat es funktioniert?«

»Ja.«

»Warum grinsen Sie?«

»Ich musste nur gerade dran denken«, sagte Keller, »wie gut es funktioniert hat.«

Breen blieb lange still, sein Blick war auf eine Stelle rechts über Kellers Schulter geheftet. Schließlich sagte er: »Das ist sehr, sehr enttäuschend. Ich hatte gehofft, Sie würden die Kraft aufbringen, den Ödipusmythos umzukehren, statt nur nachzuspielen. Sie haben also Ihren Spaß gehabt. Was waren Sie bloß für ein unartiger Junge! Was für ein Triumph, den Sie da über Ihren symbolischen Vater errungen haben! Sie sind mit seiner Frau ins Bett gegangen. Zweifellos träumen Sie davon, sie zu schwängern, damit sie Ihnen gibt, was sie ihm so grausam verweigert hat. Ist es nicht so?«

»Dieser Gedanke ist mir nie gekommen.«

»Wäre er aber, früher oder später.« In Breens Miene spiegelte sich Besorgnis, als er sich vorbeugte. »Ich sage es nur äußerst ungern, aber Sie sabotieren damit Ihren eigenen therapeutischen Prozess. Dabei waren Sie auf so einem guten Weg.«

 
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Aus dem Schlafzimmerfenster konnte man auf den Washington Square Park hinabblicken. Im Moment waren dort viele Hunde, aber ein Australian Cattle Dog war nicht darunter.

»Toller Blick«, sagte Keller. »Tolle Wohnung.«

»Glaub mir«, sagte sie, »ich habe sie mir sauer verdient. Du ziehst dich an? Musst du wohin?«

»Ich brauche ein bisschen Bewegung. Okay, wenn ich Nelson mitnehme?«

»Du verwöhnst ihn«, sagte sie. »Du verwöhnst uns beide.«

 
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An einem Mittwochmorgen nahm Keller ein Taxi zum La Guardia und einen Flieger nach St. Louis. Er trank mit einem Geschäftspartner des Mannes in White Plains eine Tasse Kaffee und erwischte noch die Abendmaschine zurück nach New York. Er nahm sich wieder ein Taxi und fuhr direkt zu dem Haus in der Fifth Avenue.

»Ich bin Peter Stone«, sagte er dem Türsteher. »Ich glaube, Mrs. Breen erwartet mich.«

Der Türsteher sah ihn nur an.

»Mrs. Breen«, sagte Keller. »In Siebzehn J.«

»O Gott.«

»Wieso? Was ist?«

»Sie haben es wohl noch nicht mitbekommen«, sagte der Türsteher. »Dass ausgerechnet ich es Ihnen beibringen muss.«

 
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»Sie haben sie umgebracht«, sagte er.

»Das ist doch lächerlich«, sagte Breen. »Sie hat sich selbst umgebracht. Sie ist aus dem Fenster gesprungen. Wenn Sie meine professionelle Einschätzung wissen wollen, hat sie an Depressionen gelitten.«

»Wenn Sie meine professionelle Einschätzung wissen wollen«, sagte Keller, »hat da jemand nachgeholfen.«

»Auf dieses Argument würde ich mich an Ihrer Stelle lieber nicht versteifen«, sagte Breen. »Wenn die Polizei nach einem Mörder suchen sollte, könnte sie sehr lange und scharf einen Mr. Stone-Bindestrich-Keller ins Auge fassen, den eiskalten Killer. Und ich müsste ihnen dann sagen, dass der übliche Übertragungsprozess aus dem Ruder gelaufen ist, dass Sie ein obsessives Interesse an mir und meinem Privatleben entwickelt haben, dass ich Sie nicht von dem aberwitzigen Plan abbringen konnte, den Ödipuskomplex auf den Kopf zu stellen. Und dann könnten sie Sie fragen, warum Sie Decknamen verwenden und womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen und … begreifen Sie allmählich, warum es besser sein könnte, schlafende Hunde nicht zu wecken?«

Wie auf ein Stichwort kam der Hund hinter dem Schreibtisch hervor. Als er Keller sah, begann er mit dem Schwanz zu wedeln.

»Sitz«, sagte Breen. »Sehen Sie? Er ist gut abgerichtet. Vielleicht setzen ja auch Sie sich.«

»Ich bleibe stehen. Sie haben sie umgebracht, und dann sind Sie mit dem Hund weggegangen und …«

Breen seufzte. »Die Polizei hat den Hund in der Wohnung gefunden. Er hat winselnd vor dem offenen Fenster gesessen. Nachdem ich hingefahren bin und die Leiche identifiziert und ihnen von ihren früheren Selbstmordversuchen erzählt habe, habe ich mich bereit erklärt, den Hund zu mir zu nehmen. Es gibt sonst niemand, der sich um ihn kümmern würde.«

»Ich hätte ihn genommen«, sagte Keller.

»Aber das ist jetzt nicht mehr nötig. Niemand verlangt von Ihnen, meinen Hund auszuführen oder mit meiner Frau ins Bett zu gehen oder sich in meiner Wohnung häuslich einzurichten. Ihre Dienste sind nicht mehr erforderlich.« Breen schien angesichts der Schroffheit seiner Worte zusammenzuzucken. Seine Miene wurde freundlicher. »Sie können sich wieder der wesentlich wichtigeren Aufgabe Ihrer Therapie zuwenden. Legen Sie sich doch am besten gleich mal hin.« Breen deutete auf die Couch.

»Gar keine so schlechte Idee. Aber könnten Sie erst noch den Hund ins andere Zimmer bringen?«

»Sie fürchten doch nicht etwa, er könnte Sie unterbrechen? Nein, nur ein kleiner Scherz. Er kann im Vorzimmer auf uns warten. Raus mit dir, Nelson. Braver Hund … Aber nicht doch. Wie können Sie es wagen, eine Pistole mitzubringen? Legen Sie sie auf der Stelle weg.«

»Das werde ich nicht tun.«

»Aber wieso wollen Sie mich umbringen? Ich bin nicht Ihr Vater. Ich bin Ihr Therapeut. Es ist vollkommen sinnlos, mich umzubringen. Sie haben nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren. Es ist total irrational. Nein, schlimmer noch, es ist neurotisch und selbstzerstörerisch.«

»Wahrscheinlich bin ich noch nicht geheilt.«

»Was soll das sein, Galgenhumor? Nur ist es zufällig richtig. Sie sind weit davon entfernt, geheilt zu sein, mein Bester. Eher würde ich sogar sagen, Sie steuern auf eine psychotherapeutische Krise zu. Wie wollen Sie die überstehen, wenn Sie mich erschießen?«

Keller ging ans Fenster und riss es auf. »Ich werde Sie nicht erschießen.«

»Ich hatte noch nie Selbstmordgedanken.« Breen drückte sich mit dem Rücken gegen ein Bücherregal. »Noch nie.«

»Der Tod Ihrer Exfrau hat sie tief getroffen.«

»Das ist ja so was von krank. Und wer soll das glauben?«

»Das wird sich zeigen«, sagte Keller. »Und was die therapeutische Krise angeht, also, auch das wird sich zeigen. Ich werde mir schon was einfallen lassen.«

 
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Die Frau im Tierasyl sagte: »So ein Zufall aber auch. Als Sie das letzte Mal hier waren, haben Sie sich auf die Warteliste für einen Australian Cattle Dog setzen lassen. Sie wissen ja, diese Rasse ist hierzulande äußerst selten.«

»Es gibt nicht allzu viele.«

»Und was haben wir heute Vormittag reinbekommen? Einen ganz entzückenden Australian Cattle Dog. Ich kann es kaum fassen. Ein echtes Prachtexemplar.«

»Allerdings.«

»Er hat nicht aufgehört zu winseln, seit er hier ist. Eine traurige Geschichte, sein Herrchen ist gestorben, und es gibt niemand, der ihn haben will. Aber was sage ich denn, er ist gleich auf Sie zugesteuert. Ich glaube, er mag Sie.«

»Ich würde sagen, wir sind wie füreinander geschaffen.«

»Das könnte man wirklich meinen. Er heißt Nelson, aber Sie können ihn natürlich anders nennen.«

»Nelson«, sagte Keller, und der Hund spitzte die Ohren. Keller kraulte ihn am Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass ich ihm einen neuen Namen geben muss. War übrigens Nelson nicht irgendein englischer Kriegsheld? Ein berühmter General oder so was?«

»Ein Admiral, glaube ich. Der Kommandeur der britischen Flotte, wenn ich mich recht erinnere. Wissen Sie nicht mehr, die Schlacht von Trafalgar Square.«

»Ich kann mich vage erinnern«, sagte Keller. »Kein Soldat, sondern ein Seemann. Ist ja mehr oder weniger das Gleiche, oder nicht? Aber wahrscheinlich muss ich eine Bearbeitungsgebühr zahlen und alle möglichen Formulare ausfüllen.«

Als das erledigt war, sagte sie: »Ich fasse es immer noch nicht. Was für ein Zufall.«

»Ich habe mal einen Mann gekannt«, sagte Keller, »der steif und fest behauptet hat, es gäbe keine Zufälle.«

»Dann wüsste ich mal gern, wie er das erklären würde.«

»Würde mich auch interessieren, wie er das macht«, sagte Keller. »Komm, Nelson, gehen wir. Braver Junge.«