Auf Keller ist immer Verlass


Keller, mit einem Drink in der Hand, stimmte der Frau in dem rosa Kleid zu, dass es ein wunderschöner Abend war. Er bahnte sich seinen Weg durch eine Schar Jungverheirateter auf die, wie man so was vermutlich nannte, Terrasse. Eine Bedienung ging mit einem Tablett mit Drinks in Stielgläsern herum, und er tauschte seines gegen ein neues aus. Er trank daraus, während er weiterschlenderte und fragte sich, was er da eigentlich trank. Irgendwas wie Vodka Sour, vermutete er und entschied gleichzeitig, dass er es nicht noch weiter einengen musste. Er dachte, dass er diesen und dann noch einen trinken würde, obwohl er noch zehn hätte trinken können, weil er an diesem Abend nicht arbeitete. Er hatte keinerlei Verpflichtungen und konnte es ganz entspannt angehen und einen draufmachen.

Das heißt, fast. Er konnte es nicht ganz entspannt angehen, weil er zwar nicht beruflich hier war, aber auch nicht nur zum Vergnügen. Die Gartenparty war eine willkommene Gelegenheit, das Terrain zu erkunden und sich einen ersten Eindruck von seiner Beute zu verschaffen. Er hatte im Arbeitszimmer des alten Mannes in White Plains ein Foto bekommen, das er nach Dallas mitgenommen hatte, aber selbst das beste Foto war nichts gegen einen Blick auf die Zielperson in Fleisch und Blut und in ihrer natürlichen Umgebung.

Und was für ein prächtige Umgebung es war. Im Haus war Keller noch nicht gewesen, aber es war eindeutig riesig, ein weitläufiger, mehrstöckiger Bau mit vielen großen Räumen. Auch das Grundstück war riesig, mindestens fünf- bis zehntausend Quadratmeter groß, mit genügend Pflanzen und Sträuchern, um eine Baumschule aufzumachen. Keller kannte sich mit Pflanzen nicht aus, aber wenn er sich fünf Minuten in einem Garten wie diesem aufhielt, fing er an zu denken, dass er mehr über dieses Thema wissen sollte. Vielleicht hatten sie am Hunter College oder an der NYU Abendkurse, vielleicht machten sie Exkursionen in die Brooklyn Botanical Gardens. Vielleicht würde sein Leben erfüllter, wenn er die Namen der Blumen kannte und wusste, ob sie ein- oder mehrjährig waren und was sonst noch wissenswert war. Welche Böden sie brauchten, zum Beispiel, und welches Insektenvernichtungsmittel man auf ihre Blätter sprühen oder welchen Dünger man auf ihre Wurzeln streuen musste.

Er ging einen gepflasterten Weg entlang, lächelte da einen Fremden an, nickte da einem anderen zu und blieb schließlich am Swimmingpool stehen. Dort saßen etwa zwölf bis fünfzehn Leute, die sich unterhielten und tranken und deren Lautstärkepegel mit fortschreitendem Alkoholkonsum immer weiter anstieg. In dem riesigen Pool schwamm ein Junge auf und ab, auf und ab.

Keller empfand eine seltsame Seelenverwandtschaft mit dem Jungen. Er stand zwar nur da, statt zu schwimmen, aber er fühlte sich genauso weit von den ganzen anderen Leuten entfernt wie der Junge. Es waren zwei Partys im Gange, fand er. Da war das muntere gesellige Treiben der anderen, und da war die Einsamkeit, die er inmitten all des Trubels empfand, die gleiche Einsamkeit wie die des schwimmenden Jungen.

Ein riesiger Pool. Der Junge durchschwamm ihn zwar von Seite zu Seite, aber die Strecke war dennoch größer als die Länge eines gängigen Gartenpools. Keller war nicht sicher, ob er vielleicht Wettbewerbsmaße hatte, aber er wusste nicht, wie groß er dann hätte sein müssen. Jedenfalls fand er, dass man ihn als riesig bezeichnen und es dabei belassen konnte.

Vor langer Zeit hatte er einmal von einem Schuljungenstreich gehört, bei dem sie einen Swimmingpool mit Götterspeise gefüllt hatten, und er hatte sich gefragt, wie viele Packungen von dem Gelatinedessert dafür nötig gewesen waren und wie sich die Schuljungen das hatten leisten können. Diesen Pool mit Götterspeise zu füllen, dachte er, würde ein Vermögen kosten – aber wenn man sich so einen Pool leisten konnte, war die Götterspeise vermutlich das geringste Problem.

Auf allen Tischen waren Schnittblumen, und die Blüten sahen aus wie einige, die Keller im Garten gesehen hatte. Das lag nahe. Wenn man so viele Blumen selbst anpflanzte, musste man sie nicht im Blumengeschäft kaufen. Man konnte sie im eigenen Garten schneiden.

Was brächte es einem, fragte er sich, wenn man die Namen der ganzen Sträucher und Blumen kannte? Würde das nicht bloß den Wunsch in einem wecken, in der Erde zu graben und sie anzupflanzen? Und darauf wollte er sich auf keinen Fall einlassen, bloß nicht. Er hatte noch nicht einmal versucht, einen Avocadokern einzupflanzen, und hatte das auch nicht vor. Er war das einzige Lebewesen in seiner Wohnung, und so sollte es auch bleiben. An dem Tag, an dem sich das änderte, würde er den Kammerjäger rufen.

Also sollte er sich die Abendkurse am Hunter und die Exkursionen nach Brooklyn lieber aus dem Kopf schlagen. Wenn er Sehnsucht nach etwas Natur verspürte, konnte er im Central Park spazieren gehen, und wenn er die Namen der Blumen nicht kannte, würde er einfach darauf verzichten, sich ihnen vorzustellen. Und wenn … wo war der Junge auf einmal?

Der Junge im Pool, der Schwimmer. Kellers Seelenverwandter in Sachen Einsamkeit. Wo war er?

Der Pool war leer, seine Oberfläche glatt. Nur am anderen Ende kräuselte sich das Wasser leicht, und Luftblasen stiegen an die Oberfläche.

Er reagierte nicht, ohne zu überlegen. So wurden solche Situationen zwar immer beschrieben, aber so war es nicht, denn die Gedanken waren da, laut und deutlich. Er ist da unten. Er steckt in Schwierigkeiten. Er ertrinkt. Und gleichzeitig hallte eine verärgerte Stimme, die die von Dot hätte sein können, durch seinen Kopf: Herrgott noch mal, Keller, tu was!

Er stellte sein Glas auf einen Tisch, schlüpfte aus seinem Jackett, streifte die Schuhe ab, stieg aus seiner Hose. Vor ewigen Zeiten hatte er beim Roten Kreuz einen Rettungsschwimmerschein gemacht, und das Erste, was sie einem damals beigebracht hatten, war, sich auszuziehen, bevor man ins Wasser sprang. Die sechs oder sieben Sekunden, die man mit dem Ausziehen verlor, bekäme man in Form eines Vielfachen an Schnelligkeit und Beweglichkeit zurück.

Der Striptease blieb jedoch nicht unbemerkt. Jeder am Beckenrand musste einen Kommentar dazu abgeben, einer witziger als der andere. Er hörte sie kaum. In kürzester Zeit war er bis auf die Unterhose ausgezogen, und dann war er außer Reichweite der Klugscheißerei, hechtete mit einem flachen Kopfsprung ins Wasser und kraulte zu der Stelle, wo er die Luftblasen hatte aufsteigen sehen. Er tauchte mit weit geöffneten Augen und spürte kaum das Brennen des Chlors.

Er hielt nach dem Jungen Ausschau, tastete, suchte, fand ihn endlich, packte ihn. Und stieß sich mit brennenden Lungen vom Boden ab, schoss an die Oberfläche.

 
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Die Leute redeten auf Keller ein, dankten ihm, gratulierten ihm, aber es drang nicht wirklich zu ihm durch. Ein Mann klopfte ihm auf den Rücken, eine Frau reichte ihm ein Glas Brandy. Er hörte das Wort »Held« und merkte, dass es die Leute um ihn herum sagten und auf ihn bezogen.

Er und ein Held …

Keller trank von dem Brandy. Er bekam Sodbrennen davon, ein Zeichen, dass er gut war; von gutem Cognac bekam er immer Sodbrennen. Er drehte sich zu dem Jungen um. Er war ein kleiner Pimpf, zwölf oder dreizehn Jahre alt, sein Haar von der Sommersonne gebleicht, seine Haut leicht gebräunt. Inzwischen saß er aufrecht da und machte nach seiner Nahtoderfahrung schon wieder einen recht munteren Eindruck, fand Keller.

»Timothy«, sagte eine Frau, »das ist der Mann, der dir das Leben gerettet hat. Willst du ihm was sagen?«

»Danke«, sagte der Junge vorhersehbarerweise.

»Ist das alles, was du zu sagen hast, junger Mann?«

»Es ist genug«, sagte Keller und lächelte. Zu dem Jungen sagte er: »Da ist etwas, was mich interessieren würde. Ist tatsächlich dein ganzes Leben an dir vorbeigezogen?«

Timothy schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Krampf bekommen. Es war, als würde sich mein ganzer Körper verknoten, und ich konnte nichts tun, um den Knoten wieder zu lösen. Und ich habe gar nicht daran gedacht, dass ich ertrinken könnte. Ich habe nur gegen den Krampf angekämpft, weil er ganz schön wehgetan hat, und dann weiß ich nur noch, dass ich hustend und spotzend am Beckenrand gelegen habe.« Er schnitt ein Gesicht. »Ich muss den halben Pool geschluckt haben. Wenn ich nur daran denke, habe ich sofort den Geschmack von Kotze und Chlor im Mund.«

»Timothy«, sagte die Frau und verdrehte die Augen.

»Das nennt man kein Blatt vor den Mund nehmen«, sagte ein älterer Mann. Er hatte eine dichte weiße Mähne und buschige weiße Augenbrauen, und seine Augen waren von einem leuchtenden Blau. In einer Hand hielt er ein Glas Brandy, in der anderen eine Flasche, und daraus schenkte er Kellers Glas bis zum Rand voll. »›Rotwein für Jungen, Port für Männer‹«, sagte er. »›Aber wer ein Held werden will, muss Brandy trinken.‹ Das ist von Samuel Johnson. Könnte allerdings sein, dass ich ein Wort falsch zitiert habe.«

Eine junge Frau tätschelte ihm die Hand. »Wenn dem wirklich so sein sollte, Daddy, hast du Mr. Johnsons Wortwahl bestimmt verbessert.«

»Dr. Johnson«, korrigierte er sie. »Allerdings dürfte das ziemlich schwer sein. Die Wortwahl des guten Mannes zu verbessern, meine ich. ›Auf einem Schiff zu sein ist, wie in einem Gefängnis zu sein, bloß mit der Chance zu ertrinken.‹ Auch das ist von ihm, und ich bezweifle, dass jemand diese Erfahrung treffender beschreiben – oder besser formulieren – könnte.« Er strahlte Keller an. »Ich schulde Ihnen mehr als ein Glas Brandy und ein wohlgesetztes Johnson-Zitat. Dieser Lauser, dem Sie gerade das Leben gerettet haben, ist mein Enkel und Augapfel. Und wir stehen herum und lachen und trinken, während er um ein Haar ertrinkt. Aber Sie waren aufmerksam und sind eingeschritten, und das kann ich Ihnen nicht genug vergelten.«

Was erwiderte man auf so etwas?, fragte sich Keller. Ist doch nicht der Rede wert. War doch selbstverständlich? Bestimmt gab es dafür einen passenden Spruch, und Samuel Johnson wäre vielleicht einer eingefallen, aber ihm nicht. Deshalb sagte er nichts und versuchte bloß, ernst zu schauen.

»Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen«, fuhr der weißhaarige Mann fort. »Das hat zwar nichts zu besagen. Ich kenne bestimmt die Hälfte der Anwesenden nicht und kann zugegebenermaßen gut mit meiner Unwissenheit leben. Aber für Ihren Namen sollte ich mich eigentlich schon interessieren, finden Sie nicht auch?«

Keller hätte sich aus dem Stegreif einen Namen einfallen lassen können, aber derjenige, der ihm spontan in den Sinn kam, war Boswell, aber den konnte er bei jemand, der Samuel Johnson zitierte, nicht verwenden. Deshalb griff er auf den Namen zurück, unter dem er gereist war, mit dem er beim Einchecken im Hotel unterschrieben hatte und der auf dem Führerschein und den Kreditkarten in seiner Geldbörse stand.

»Michael Soderholm«, stellte er sich vor, »und ich kann Ihnen nicht mal den Namen des Mannes sagen, der mich hierher mitgenommen hat. Wir sind an der Hotelbar ins Gespräch gekommen, und er hat gesagt, er ginge auf eine Party, und es wäre völlig okay, wenn ich mitkäme. Mir war nicht ganz wohl bei der Sache, aber …«

»Ich bitte Sie«, sagte der Weißhaarige. »Sie werden sich doch wohl nicht für Ihre Anwesenheit hier entschuldigen. Sie hat meinen Enkel vor einem feuchten, wenn auch gechlorten Grab bewahrt. Und wie ich Ihnen gerade versichert habe, kenne ich die Hälfte meiner Gäste nicht, was sie mir jedoch nicht weniger willkommen macht.« Er nahm einen kräftigen Schluck von seinem Glas und füllte beide Gläser nach. »Michael Soderholm«, sagte er. »Schwedisch?«

»Eine Mischung aus allem Möglichem«, improvisierte Keller. »Mein Urgroßvater Soderholm kam aus Schweden, aber meine anderen Vorfahren stammen aus verschiedenen Teilen Europas, und zu einem Sechzehntel bin ich indianischen Ursprungs.«

»Was Sie nicht sagen? Welcher Stamm?«

»Cherokee«, sagte Keller bei dem Gedanken an die Jazznummer.

»Ich bin zu einem Achtel Comanche«, sagte der Weißhaarige. »Deshalb sind wir leider keine Blutsbrüder. Der Rest kommt von den Britischen Inseln, eine Mischung aus Schotten, Iren und Engländern. Ein Texaner von echtem Schrot und Korn eben. Aber Sie selbst sind kein Texaner.«

»Nein.«

»Da kann man eben nichts machen, wie es so schön heißt. Außer Sie entschließen sich, hierher zu ziehen, und wer kann schon sagen, dass Sie das nicht eines Tages tun werden? Es ist ein guter Platz zum Leben.«

»Daddy findet, jeder sollte von Texas so begeistert sein wie er«, sagte die Frau.

»Das sollte auch jeder«, sagte ihr Vater. »Das Einzige, was man uns Texanern vorwerfen kann, ist, dass wir nicht gerade von der schnellen Truppe sind. Sehen Sie nur, wie lange ich brauche, um mich vorzustellen! Mr. Soderholm, Mr. Michael Soderholm, ich bin Garrity, Wallace Penrose Garrity, und ich bin heute Abend Ihr dankbarer Gastgeber.«

Jetzt aber echt, dachte Keller.

 
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Die Party, inklusive Rettungsaktion und allem, hatte am Samstagabend stattgefunden. Am nächsten Tag saß Keller in seinem Hotelzimmer und sah zu, wie die Cowboys die Vikings in den letzten drei Minuten der Double Overtime mit einem Field Goal schlugen. Das Spiel hatte sich ständig gedreht, mit Interceptions und Runbacks, und die Sprecher kriegten sich gar nicht mehr ein, was für ein tolles Spiel es war.

Keller fand, dass sie recht hatten. Als Zuschauer konnte man sich wirklich nicht beklagen, und es war nicht die Schuld der Spieler, dass ihn das Spiel völlig kalt ließ. Er sah zwar gern Sport und tat es auch oft, ging aber so gut wie nie darin auf. Manchmal hatte er sich gefragt, ob das etwas mit seiner Arbeit zu tun hatte. Wenn man einen Job hatte, bei dem es ständig um Leben und Tod ging, wie sollte man sich da groß aufregen, wenn ein überbezahlter, mit Steroiden vollgepumpter Runningback seinen Touchdown Run zurückgepfiffen bekam? Außerdem fielen einem dann alle möglichen unorthodoxen Lösungsmöglichkeiten für die Probleme eines Teams auf dem Spielfeld ein. Als zum Beispiel Emmitt Smith die Reihen von Minnesota durchbrach, fragte er sich ganz automatisch, warum sie nicht jemand damit beauftragten, dem Dreckskerl direkt unter seinem sternebedeckten Helm einen Nackenschuss zu verpassen.

Trotzdem war es besser, als zum Beispiel Golf zu schauen, was wiederum spannender sein musste, als Golf zu spielen. Aber er konnte ja nicht einfach losgehen und arbeiten, denn es gab nichts für ihn zu tun. Die Erkundungsmission am Abend zuvor war sowohl besser als schlechter verlaufen, als er hatte hoffen können, und was sollte er jetzt tun, mit seinem Leihwagen gegenüber der Garrity-Villa parken und das Kommen und Gehen dort beobachten?

Das konnte er sich alles sparen. Alles, was er jetzt noch tun musste, war, rechtzeitig zum sonntäglichen Abendessen aufzukreuzen.

 
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»Noch ein paar Kartoffeln, Mr. Soderholm?«

»Sie sind ganz hervorragend«, sagte Keller. »Aber danke, ich bin voll. Wirklich.«

»Und wir können Sie unmöglich noch länger Mr. Soderholm nennen«, sagte Garrity. »Ich habe damit nur deshalb so lange gewartet, weil ich nicht wusste, ob Ihnen Mike lieber ist oder Michael.«

»Mike ist völlig in Ordnung«, sagte Keller.

»Dann also Mike. Und ich bin Wally, Mike, oder W.P., obwohl es auch einige gibt, die mich ›das Walross‹ nennen.« Timmy lachte und hielt sich beide Hände an den Mund.

»Allerdings nie in seinem Beisein«, sagte die Frau, die Keller die Kartoffeln angeboten hatte. Sie war Ellen Garrity, Timmys Tante und Garritys Schwiegertochter, die Keller von jetzt an Ellie nennen sollte. Ihr Mann, ein breitschultriger Bursche, der tapfer seinen fortschreitenden Haarausfall wegzulächeln versuchte, war Garritys Sohn Hank.

Keller konnte sich an Timothys Mutter vom Vorabend erinnern, hatte damals aber ihren Namen oder ihr Verwandtschaftsverhältnis zu Garrity nicht mitbekommen. Wie sich herausstellte, war sie Rhonda Sue Butler, und bis auf ihren Mann, der sie Ronnie nannte, nannten sie alle Rhonda Sue. Er hieß Doak Butler und sah aus wie eine College-Sportskanone, die zu leicht gewesen war, um Profi zu werden, aber dieses Manko inzwischen auszugleichen schien.

Hank und Ellie, Doak und Rhonda Sue. Und am anderen Tischende saß Vanessa, die mit Wally verheiratet war, aber eindeutig nicht die Mutter von Hank oder Rhonda Sue oder sonst jemand war. Keller nahm an, man hätte sie als Wallys Vorzeigefrau bezeichnen können, eine Trophäe seines Erfolgs. Sie war jung, nicht älter als Wallys Kinder, und wirkte elegant und kultiviert und verfügte sogar über genügend Anstand, um sich die Langeweile, die sie, glaubte Keller, empfinden musste, nicht anmerken zu lassen.

Das war also die Tischgesellschaft. Wally und Vanessa, Hank und Ellen, Doak und Rhonda Sue. Und Timothy, der, wie man Keller versicherte, am Nachmittag bereits wieder schwimmen gewesen war, gewissermaßen das wassersportliche Äquivalent dazu, sofort wieder aufs Pferd zu steigen, wenn man abgeworfen wurde. Diesmal hatte er keine Krämpfe bekommen, aber er hatte die ganze Zeit unter scharfer Beobachtung gestanden.

Sieben also. Und Keller … auch als Mike bekannt.

 
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»Sie sind also geschäftlich hier«, sagte Wally. »Und müssen übers Wochenende bleiben, was ja, für mich zumindest, immer das Schlimmste bei einer Geschäftsreise ist. Wäre wohl zu viel Aufwand, nach Chicago zurückzufliegen?«

Die zwei waren in Wallys Arbeitszimmer, das mit astreichem, mit rotem Leder eingefasstem Pecanholz vertäfelt war. An den Wänden hingen Westernparaphernalien – hier ein Brandeisen, dort ein Longhornschädel. Einen Brandy hatte Keller akzeptiert, eine Zigarre abgelehnt, aber der Duft von Wallys Havanna ließ ihn seine Entscheidung überdenken. Keller rauchte nicht, aber dem Geruch nach zu schließen, ging es bei der Zigarre nicht bloß ums Rauchen. Es hatte fast etwas von einem religiösen Ritual.

»Irgendwie schon«, sagte Keller. Er hatte als Michael Soderholms Standort Chicago angegeben, obwohl ihn dessen Führerschein in Südkalifornien ansiedelte. »Bis ich da lange hin- und herfliege …«

»Würden Sie Ihr Wochenende im Flugzeug verbringen. Wir können jedenfalls von Glück reden, dass Sie geblieben sind. Und jetzt überlege ich mir natürlich eine Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass es auch für Sie ein Glück war.«

»Das haben Sie doch längst«, versicherte ihm Keller. »Ich durfte gestern Abend an einer tollen Party teilnehmen und mich ein paar Minuten wie ein Held fühlen. Und heute Abend sitze ich mit netten Leuten bei einem köstlichen Abendessen und kröne es mit einem ganz vorzüglichen Brandy.«

Das Sodbrennen verriet ihm, wie vorzüglich er war.

»Mir ist da eine Idee gekommen«, sagte Wally. »Wie fänden Sie es, für mich zu arbeiten?«

Wen sollte er für ihn umbringen? Fast wäre Keller mit dieser Frage herausgeplatzt, doch zum Glück fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dass Garrity nicht wusste, womit er sein Geld verdiente.

»Sie wollen mir nicht sagen, für wen Sie arbeiten«, fuhr Garrity fort.

»Das darf ich nicht.«

»Weil Ihr Job streng geheim ist. Das respektiere ich selbstverständlich. Aus dem, was Sie haben durchblicken lassen, schließe ich, dass Sie vermutlich hier sind, um in Zusammenhang mit irgendwelchen Firmenfusionen oder Übernahmen die Lage zu sondieren.«

»Das trifft es in etwa.«

»Eine solche Tätigkeit ist sicher gut bezahlt. Und bestimmt macht Ihnen Ihre Arbeit auch Spaß, sonst blieben Sie nicht dabei. Was müsste ich also tun, um Sie dazu zu bewegen, die Pferde zu wechseln und für mich zu arbeiten? Und lassen Sie mich Ihnen dazu schon mal Folgendes sagen: Chicago ist bestimmt eine großartige Stadt, aber niemand, der von dort nach Dallas gezogen ist, hat diesen Schritt hinterher bereut. Ich kenne Sie natürlich noch nicht so gut, aber was ich jetzt schon sagen kann, ist, dass Sie sich hier wohl fühlen würden und Dallas ganz nach Ihrem Geschmack wäre. Und wenn ich auch nicht weiß, wie viel Ihnen Ihr jetziger Arbeitgeber zahlt, wage ich zu behaupten, dass ich da auf jeden Fall mithalten könnte, und darüber hinaus würde ich Ihnen einen Anteil an einer aufstrebenden Firma mit höchst attraktiven Aussichten bieten.«

Keller hörte sich alles an, nickte nachdenklich, nahm einen kleinen Schluck Brandy. Schon erstaunlich, dachte er, was einem alles in den Schoß fiel, wenn man nicht damit rechnete. Es war wie in einem Groschenroman von Horatio Alger – Ragged Dick bändigt ein durchgehendes Pferd und rettet die Tochter des Industriemagnaten, und ehe er sich’s versieht, ist er Vorstandschef von IBM und hat eine glänzende Karriere vor sich.

»Vielleicht sollte ich mir doch eine Zigarre genehmigen«, sagte er.

 
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»Jetzt hör aber mal, Keller«, sagte Dot. »Du kennst doch die Regeln. Das darf ich dir nicht sagen.«

»Es ist aber wichtig«, sagte er.

»Eins der Dinge, die der Kunde kauft«, sagte sie, »ist strengste Geheimhaltung. Das ist, was er will, und das ist, was wir garantieren. Selbst wenn der Agent vor Ort …«

»Der Agent vor Ort?«

»Das bist du. Du bist der Agent, und Dallas ist der Ort. Selbst wenn du auf frischer Tat ertappt wirst, tut das der Anonymität des Kunden keinen Abbruch. Und weißt du, warum?«

»Weil der Agent vor Ort dichthält.«

»Ganz genau. Und selbst wenn außer Frage steht, dass du der eher schweigsame Typ bist, kannst du keinen Schaden anrichten, wenn sich deine Zunge doch mal lösen sollte.«

Darüber dachte Keller kurz nach, bevor er sagte: »Das ist mir zu hoch.«

»Ich weiß, es war ein bisschen kompliziert ausgedrückt. Aber was ich damit sagen will, ist: Was du nicht weißt, Keller, kannst du niemandem verraten, und deshalb erfährt der Agent nie den Namen des Kunden.«

»Dot«, sagte er und versuchte, gekränkt zu klingen. »Wie lang kennst du mich jetzt schon, Dot?«

»Eine Ewigkeit, Keller. Mehrere Leben lang.«

»Mehrere Leben?«

»Wir waren zusammen in Atlantis. Schau, ich weiß, dass dich niemand auf frischer Tat ertappen wird, und ich weiß auch, dass du nicht singen würdest, wenn doch. Aber ich kann nicht sagen, was ich nicht weiß.«

»Ach so.«

»Verstehst du jetzt? Ich glaube, Spione nennen so was eine Doppelsicherung. Der Kunde hat jemandem, den wir kennen, einen Auftrag erteilt, und dieser Jemand hat uns angerufen. Aber er hat uns den Namen des Kunden nicht genannt. Warum auch? Weil wir gerade bei diesem Thema sind, Keller, warum willst du ihn überhaupt wissen?«

Er hatte sich schon eine Antwort zurechtgelegt. »Möglicherweise ist es kein Einzelauftrag.«

»Oh.«

»Die Zielperson hat immer Leute um sich«, sagte er. »Und am besten ließe es sich möglicherweise mit einer Art Gruppenlösung durchziehen, wenn du weißt, was ich meine.«

»Zwei für den Preis von einem.«

»Oder auch drei oder vier. Wenn sich nun allerdings herausstellen würde, dass einer dieser Kollateralschäden der Kunde ist, wäre das eher suboptimal.«

»Zumindest könnten wir dann Probleme mit der Restzahlung bekommen.«

»Wenn wir zum Beispiel wüssten, dass der Kunde Forellen fischen in Montana ist, müssten wir uns deswegen keine Gedanken machen. Wenn er dagegen hier in Dallas ist …«

»Wäre es hilfreich, seinen Namen zu wissen.« Sie seufzte. »Okay, ruf mich in ein, zwei Stunden noch mal an.«

 
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Wenn er wusste, wer der Kunde war, konnte der Kunde einen Unfall haben.

Es müsste natürlich ein überzeugender Unfall sein. Er musste nicht nur für die Polizei wie ein solcher aussehen, sondern auch für jeden, der die Absichten des Kunden kannte. Es war davon auszugehen, dass der örtliche Vermittler, der hilfreiche Mittelsmann, der den Kontakt zwischen dem Kunden und dem alten Mann in White Plains, und somit auch mit Keller, hergestellt hatte, ein scharfes Auge auf einen verdächtigen Todesfall werfen würde. Es müsste also ein verdammt glaubwürdiger Unfall werden, aber von der Sorte hatte Keller schon einige fabriziert. Natürlich erforderte das einige Planung, aber es war auch kein Ding der Unmöglichkeit. Man ließ sich etwas einfallen und probierte es einfach.

Das konnte ziemlich kompliziert werden. Wenn der Kunde, wie er hoffte, ein Konkurrent aus Houston oder Denver oder San Diego war, musste er sich dorthin absetzen, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Und sobald er dort auf die Schnelle einen tödlichen Unfall inszeniert hatte, musste er nach Dallas zurückfliegen und dort so lange warten, bis jemand den Auftrag stornierte. Er brauchte für Houston, Denver oder San Diego unbedingt andere Ausweispapiere – er durfte Michael Soderholm auf keinen Fall überbeanspruchen –, und er musste sein Vorgehen vor allen Beteiligten geheim halten, vor Garrity, vor seinem kompromisslosen Konkurrenten und, was vielleicht am wichtigsten war, vor Dot und dem alten Mann.

Alles in allem war es erheblich komplizierter, wenn auch leichter zu verdauen als die Alternative.

Die darin bestand, den Auftrag professionell durchzuführen und Wallace Penrose Garrity bei der ersten sich bietenden Gelegenheiten zu töten.

Und das wollte er nun wirklich nicht. Er hatte am Tisch des Mannes gegessen, er hatte seinen Brandy getrunken, er hatte seine Zigarren geraucht. Er hatte nicht nur einen Job von ihm angeboten bekommen, sondern auch eine aussichtsreiche Führungsposition, und im weiteren Verlauf des Abends, vom Alkohol und vom Nikotin ein bisschen leichtsinnig geworden, hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, Wally alles zu erzählen.

Warum auch nicht? Er konnte zeit seines Lebens Michael Soderholm bleiben und die nicht näher beschriebenen Aufgaben erledigen, für die Garrity ihn anstellte. Wahrscheinlich verfügte er nicht über die nötige Erfahrung, aber wie schwer konnte es schon sein, sich die dafür erforderlichen Kenntnisse anzueignen? Egal, was er dann tun musste, war es einfacher, als von Stadt zu Stadt zu fliegen und Leute umzubringen. Wofür gab es schließlich Learning by Doing? Das bekäme er schon hin.

Diese Fantasie hatte etwa so viel Substanz wie ein Traum, und wie ein Traum war sie auch verflogen, als er am nächsten Morgen aufwachte. Niemand würde ihn anstellen, ohne vorher Erkundigungen über ihn einzuziehen, und damit fingen die Probleme schon an. Michael Soderholm hatte nicht mehr Substanz als der gefälschte Ausweis in seiner Geldbörse.

Selbst wenn er sich irgendwie durch eine Überprüfung seiner Vergangenheit mogeln konnte, selbst wenn ihn der alte Mann in White Plains ziehen ließ, damit er ein neues Leben beginnen konnte, wusste er, dass es nicht klappen würde. Er hatte bereits ein Leben. So verkorkst es auch sein mochte, war es doch passgenau auf ihn zugeschnitten.

Andere Leben lösten verlockende Fantasien aus. Eine Druckerei in Roseburg, Oregon, zu führen, in einem schnuckeligen Häuschen mit einem Mansardenzimmer zu leben – das war etwas, womit man sich bei Laune halten konnte, während man weiter die Person blieb, die man zwangsläufig sein musste. Seine jüngste Fantasie war nur eine weitere Variante dieses Schemas.

Er ging auf ein Sandwich und eine Tasse Kaffee. Anschließend fuhr er eine Weile in seinem Leihwagen herum. Dann suchte er sich eine Telefonzelle und rief in White Plains an.

»Belass es bei einem«, sagte Dot.

»Wieso?«

»Keine Extras, keine Dividenden. Tu einfach, wofür sie dich angeheuert haben.«

»Weil der Kunde in Dallas ist«, sagte er. »Das ließe sich umgehen, wenn ich seinen Namen wüsste. Dann könnte ich dafür sorgen, dass ihm nichts zustößt.«

»Vergiss es«, sagte Dot. »Der Kunde will, dass alle bis auf die Zielperson glücklich bis an ihr Lebensende bleiben. Vielleicht sind die der ZP nahestehenden Personen dem Kunden lieb und teuer. Das ist zwar nur eine Vermutung, aber das Einzige, was wirklich zählt, ist, dass sonst niemand zu Schaden kommt. Capisce?«

»Capisce?«

»Das ist Italienisch, es bedeutet …«

»Ich weiß, was es bedeutet. Es hat sich nur aus deinem Mund etwas komisch angehört. Aber egal, ja, ich habe verstanden.« Er holte tief Luft. »Es könnte aber eine Weile dauern.«

»Dann habe ich auch gute Nachrichten für dich«, sagte sie. »Die Zeit spielt keine Rolle. Wie lang es dauert, ist ihnen egal. Nur, dass du es gescheit machst.«

 
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»Wenn ich das recht verstanden habe, hat Ihnen W.P. eine Stelle angeboten«, sagte Vanessa. »Und er hofft, Sie nehmen sie an.«

»Ich glaube, er wollte bloß entgegenkommend sein«, sagte Keller. »Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und er möchte sich gern erkenntlich zeigen, aber ich glaube nicht, dass er ernsthaft damit rechnet, dass ich für ihn arbeiten werde.«

»Er fände es bestimmt gut«, sagte sie, »sonst hätte er es Ihnen nicht angeboten. Er hätte Ihnen nur Geld oder ein Auto gegeben oder sonst etwas in der Art. Und was die Frage angeht, was er erwartet, kann ich dazu nur sagen, dass W.P. in der Regel erwartet, dass er bekommt, was er will. Das ist bei ihm immer so.«

Hatte sie vielleicht brav ihre Spardose gefüttert, dass es in diesem Fall einmal anders lief? Da fragte man sich natürlich schon. Stand sie tatsächlich so sehr unter Garritys Bann, war sie wirklich so beeindruckt von seiner Macht, wie sie den Anschein erweckte? Oder ging es ihr nur ums Geld, und schwang in ihren bewundernden Bemerkungen beißende Ironie mit?

Schwer zu sagen. Auch was die anderen anging. War Hank der treu ergebene Sohn, der er zu sein schien, zufrieden damit, im Schatten seines alten Herrn zu leben und die Brosamen aufzupicken, die er hingeworfen bekam? Oder war er insgeheim verbittert und von Ehrgeiz zerfressen?

Und der Schwiegersohn, Doak? Oberflächlich betrachtet, schien er begeistert über den Verlauf seiner Collegefootball-Karriere – seine Tätigkeit für seinen Schwiegervater bestand vor allem darin, mit Geschäftspartnern Golf zu spielen und anschließend einen mit ihnen zu heben. Arbeitete es in Wirklichkeit vielleicht in ihm, fühlte er sich zu Größerem berufen?

Und Hanks Frau, Ellie? Sie erschien Keller nicht gerade wie eine moderne Lady Macbeth. Keller konnte sich zwar Szenarien vorstellen, in denen sie und Rhonda Sue einen Grund hatten, Wally den Tod zu wünschen, aber auf solche Ideen kam man höchstens, wenn man Wiederholungen von Dallas schaute und zu raten versuchte, wer J.R. erschossen hatte. Vielleicht kriselte es in der Ehe von einer der beiden. Vielleicht hatte sich Garrity an seine Schwiegertochter herangemacht, oder es hatte ihn nach ein paar Gläsern Brandy zu viel mal ins Schlafzimmer seiner Tochter verschlagen. Vielleicht füßelte Doak oder Hank mit Vanessa. Vielleicht …

Es brachte nichts, lange Spekulationen anzustellen, fand er. Man konnte sich endlos den Kopf über solche Fragen zerbrechen, ohne dass es zu etwas führte. Selbst wenn es ihm gelang herauszufinden, wer von ihnen der Kunde war, was dann? Nachdem er dem kleinen Timothy das Leben gerettet hatte und sich deshalb verpflichtet fühlte, seinen Großvater zu verschonen, was sollte er schon groß tun? Den Vater des Jungen töten? Oder Mutter, Tante, Onkel?

Er konnte auch einfach nach Hause fliegen. Er könnte es sogar dem alten Mann erklären. Natürlich wäre er nicht begeistert, wenn er sich aus persönlichen Gründen von einem Auftrag zurückzog, aber es war auch nichts, was er ihm ausreden konnte. Wenn so etwas zur Gewohnheit wurde, war das natürlich eine andere Sache, aber das stand bei Keller nicht zu befürchten. Er war durch und durch Profi. Vielleicht ein bisschen eigenartig, wenn nicht sogar verschroben, aber trotzdem durch und durch Profi. Man sagte ihm, was er tun sollte, und das tat er dann.

Und wenn er mal aus persönlichen Gründen einen Auftrag nicht ausführen wollte, respektierte man das. Man ließ ihn nach Hause kommen und auf der Veranda sitzen und mit Dot Eistee trinken.

Und man griff zum Telefon und schickte jemand anders nach Dallas.

Denn so oder so, der Auftrag wurde erledigt. Wenn es sich ein Killer anders überlegte, wurde er kurzerhand ersetzt. Wenn Keller nicht abdrückte, tat es jemand anders.

Sein Fehler war gewesen, dachte Keller, dass er überhaupt in diesen blöden Pool gesprungen war. Er hätte nichts anderes zu tun gebraucht, als in die andere Richtung zu schauen und den kleinen Hosenscheißer ertrinken zu lassen. Dann hätte er ein paar Tage später Garrity erledigen, es möglicherweise wie Selbstmord aussehen lassen können, eine natürliche Folge seiner Niedergeschlagenheit angesichts des tragischen Unfalltods seines Enkels.

Aber nein, dachte er und starrte sich im Spiegel an. Nein, du musstest ja hergehen und dich da hineinziehen lassen. Du musstest den Helden spielen. Du musstest dich unbedingt bis auf die Unterhose ausziehen und den Beweis erbringen, dass du deinen Freischwimmerschein zu Recht trägst.

Er überlegte, was aus dem Wisch wohl geworden war.

Er war natürlich weg, wie alles, das er in seiner Kindheit und Jugend besessen hatte. Genauso verschwunden wie seine Schulzeugnisse, seine Verdienstabzeichenschärpe von den Pfadfindern, seine Briefmarkensammlung, der Beutel mit seinen Murmeln und seine Baseballkarten. Es machte ihm nichts aus, dass diese Dinge weg waren, und er vergeudete auch keine Zeit damit, sie sich zusammen mit all den Jahren von damals zurückzuwünschen.

Aber er hätte gern gewusst, was ganz konkret aus ihnen geworden war. Aus dem Freischwimmerschein zum Beispiel. Seine Baseballkarten könnte jemand weggeworfen, seine Briefmarkensammlung an einen Händler verkauft haben. Aber eine Urkunde war weder etwas, was man wegwarf, noch war sie etwas, was jemand anders haben wollte.

Vielleicht vergammelte der Schein in einer Mülldeponie oder im Hinterzimmer eines Secondhand-Ladens. Vielleicht hatte ihn irgendein Sammelwütiger gerettet, und jetzt war er Teil einer umfangreichen Sammlung von Freischwimmerscheinen, als lebendiges Geschichtszeugnis in einem Album aufbewahrt, der ganze Stolz eines Sammlers, der zehnmal eigenartiger und verschrobener war, als es sich Keller auch nur erträumen konnte.

Er überlegte, was er davon halten sollte. Sein Freischwimmerschein, dieser unbedeutende Leistungsnachweis, lebte in der Sammlung eines Exzentrikers fort. Einerseits war das durchaus eine Form von Unsterblichkeit, oder etwa nicht? Andererseits stellte sich die Frage, wem gehörte die Bescheinigung überhaupt? Er war derjenige, der sie erworben hatte, indem er den Würgegriff des Ausbilders löste, ihn herumdrehte und ihm von hinten beide Arme um den Brustkorb schlang und dann den Prügel von einem Mann an den Beckenrand schleppte. Er hatte sich den Schein verdient, und es stand sein Name darauf. Hieß das nicht, dass er an seine Zimmerwand gehörte und nirgendwohin sonst?

Alles in allem konnte er nicht sagen, in welche Richtung er stärker tendierte. Letztlich war die Urkunde nur ein Blatt Papier. Das Einzige, was zählte, war die darauf bescheinigte Fähigkeit, und das Erstaunlichste war, dass sie ihm nicht abhandengekommen war.

Ihretwegen war Timothy Butler noch am Leben – was für den Jungen ein Glücksfall war und für Keller ein Riesenproblem.

 
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Später, bei einer Tasse Kaffee, dachte Keller weiter über Wallace Penrose Garrity nach, einen Mann, der nicht einen Feind auf der ganzen Welt zu haben schien.

Angenommen, Keller hätte den Jungen ertrinken lassen. Angenommen, er hätte sein Verschwinden unter der Wasseroberfläche ebenso wenig bemerkt wie alle anderen auch. Garrity wäre untröstlich gewesen. Es war seine Party, sein Pool, sein Versäumnis, den Jungen beaufsichtigen zu lassen. Wahrscheinlich hätte er die Schuld am Tod des Jungen bei sich gesucht.

Keller hätte ihm keinen größeren Gefallen tun können, als er seinen Enkel rettete.

Er fing den Blick des Kellners auf und signalisierte ihm, Kaffee nachzuschenken. Ihm war gerade eine Idee gekommen, über die er nachdenken musste.

 
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»Mike«, sagte Garrity und kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich habe gerade mit jemand telefoniert, der unbedingt ein zwei Hektar großes Grundstück am Stadtrand von mir kaufen will. Die Sache ist nur, dass ich es ihm nicht verkaufen will.«

»Mhm.«

»Andererseits habe ich vier Hektar auf der anderen Seite der Stadt, die ich ihm liebend gern verkaufen würde. Aber er wird sie nur haben wollen, wenn er von sich aus auf diese Idee kommt. Deshalb habe ich mich länger am Telefon festhalten lassen, als mir lieb war. Aber jetzt, was halten Sie von einem Glas Brandy?«

»Ein kleines vielleicht.«

Garrity führte ihn in sein Arbeitszimmer und schenkte zwei Gläser ein. »Sie hätten früher kommen sollen«, sagte er. »Zum Abendessen. Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass Sie dafür keine Einladung brauchen. Für Sie ist immer Platz an unserem Tisch.«

»Vielen Dank«, sagte Keller.

»Ich weiß, Sie dürfen nicht darüber sprechen«, sagte Garrity, »aber ich hoffe, bei Ihrem Projekt läuft alles nach Wunsch.«

»Die Verhandlungen gestalten sich zwar ein wenig zäh, aber grundsätzlich bin ich zuversichtlich.«

»Manche Dinge sollte man nicht überstürzen.« Garrity nahm einen Schluck von seinem Brandy und verzog das Gesicht. Hätte Keller nicht danach Ausschau gehalten, wäre ihm der Schatten entgangen, der über das Gesicht seines Gastgebers huschte.

»Sind die Schmerzen sehr schlimm, Wally?«, fragte er behutsam.

»Wie kommen Sie denn darauf, Mike?«

Keller stellte sein Glas auf den Tisch. »Ich habe mit Dr. Jacklin gesprochen. Ich weiß, was Sie durchmachen.«

»Dieser Mistkerl«, schimpfte Garrity. »Er sollte eigentlich den Mund halten.«

»Na ja, er dachte, es wäre okay, mit mir zu reden«, sagte Keller. »Er dachte, ich wäre Dr. Edward Fishman von der Mayo Clinic.«

»Der seinen ärztlichen Rat einholen wollte.«

»Etwas in der Art.«

»Ich war in der Mayo Clinic«, sagte Garrity, »aber sie hätten Harold Jacklin nicht anzurufen gebraucht, um ihre Untersuchungsergebnisse zu vergleichen. Sie haben nur seine Diagnose bestätigt und mir geraten, keine Langspielplatten mehr zu kaufen.« Er schaute zur Seite. »Sie meinten, sie könnten mir nicht sagen, wie lange ich noch zu leben habe. Vorerst hätten sie die Schmerzen noch im Griff. Aber irgendwann nicht mehr.«

»Mhm.«

»Und vorerst bin ich noch im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte«, fügte er hinzu. »Aber irgendwann ist auch damit Schluss.«

Keller sagte nichts.

»Mein Gott, was rede ich hier lange rum«, sagte Garrity. »Ein Mann will den Stier bei den Hörnern packen. Deshalb habe ich überlegt, ob ich einen kleinen Spaziergang machen soll und meine Flinte mitnehme und einen kleinen Jagdunfall habe. Oder ich säubere an meinem Schreibtisch eine Pistole, aus der sich dann versehentlich ein Schuss löst. Aber wie ich feststellen musste, war mir die Vorstellung, mich selbst umzubringen, unerträglich. Keine Ahnung warum, ich kann es nicht erklären, aber so scheine ich nun mal gestrickt zu sein.«

Er griff nach seinem Glas und betrachtete die Flüssigkeit darin. »Komisch, wie wir am Leben hängen«, fuhr er fort. »Noch so ein Spruch von Sam Johnson. Er hat gesagt, es gäbe keine Woche in seinem Leben, die er freiwillig noch einmal durchleben wollte. Ich hatte mehr gute Zeiten als schlechte, Mike, und selbst die schlechten waren nicht so schlimm, aber ich glaube zu wissen, worauf er hinauswollte. Ich möchte nichts davon wiederholen, aber das heißt nicht, dass es eine Minute gibt, die ich missen möchte. Ich will auch nicht missen, was als Nächstes kommt, und ich glaube, dass es Dr. Johnson genauso ging. Das hält uns doch am Laufen, oder? Wir wollen herausfinden, was um die nächste Ecke auf einen wartet.«

»Wahrscheinlich.«

»Ich dachte, so könnte man sich leichter mit dem Ende abfinden. Wenn man nicht weiß, wann es eintritt oder wie oder wo. Und mir fiel wieder ein, dass mir vor Jahren mal jemand gesagt hat, dass ich mich an ihn wenden sollte, wenn ich mal jemand umgebracht haben wollte. ›Sag mir einfach Bescheid‹, hat er gesagt, und ich habe gelacht, und damit war dieses Thema erledigt. Vor etwa einem Monat habe ich seine Nummer nachgesehen und ihn angerufen, und er hat mir eine andere Nummer gegeben, die ich anrufen sollte.«

»Und Sie haben einen Kontrakt erteilt.«

»Nennt man das so? Jedenfalls war das, was ich getan habe.«

»Ein Kontraktselbstmord sozusagen.«

»Und ich nehme an, diesen Auftrag sollen Sie ausführen.« Garrity nahm einen Schluck von seinem Brandy. »Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber dieser Gedanke ist mir schon am ersten Abend gekommen, als Sie meinen Enkel aus dem Pool gezogen haben. Irgendwie hatte ich so eine Ahnung, aber ich habe mir gesagt, mach dich doch nicht lächerlich. Ein Auftragskiller kommt nicht vorbei und rettet jemand das Leben.«

»Das würde man eigentlich nicht erwarten«, pflichtete ihm Keller bei.

»Außerdem, wieso hätten Sie überhaupt zu meiner Party kommen sollen? Sie hätten sich von mir ferngehalten und gewartet, bis Sie mich allein angetroffen hätten.«

»Normalerweise schon«, sagte Keller. »Aber ich dachte mir, es könnte nicht schaden, schon mal das Terrain zu sondieren. Und dieser Witzbold von der Hotelbar hat mir versichert, ich bräuchte mir keine Gedanken zu machen. ›Heute Abend ist die halbe Stadt bei Wally‹, hat er gesagt.«

»Die halbe Stadt war auch tatsächlich da. Sie hätten es doch nicht an diesem Abend versucht, oder?«

»Auf gar keinen Fall.«

»Ich weiß noch, dass ich dachte, hoffentlich ist er nicht hier. Hoffentlich ist es nicht heute Abend. Ich fand das Fest nämlich sehr schön und wollte nichts davon verpassen. Aber Sie waren da, und das war gut so, oder etwa nicht?«

»Ja.«

»Sie haben den Jungen vor dem Ertrinken gerettet. Die Chinesen glauben, wenn man jemandem das Leben rettet, ist man den Rest seines eigenen Lebens für ihn verantwortlich. Weil man in die natürliche Ordnung der Dinge eingegriffen hat. Leuchtet Ihnen das ein?«

»Eigentlich nicht.«

»Mir auch nicht. Sie sind weiß Gott unschlagbar, wenn es darum geht, ein tolles Essen zu zaubern oder ein Hemd zu waschen, aber zu anderen Themen haben sie reichlich eigenartige Vorstellungen. Natürlich würden sie das Gleiche über meine Ideen sagen.«

»Wahrscheinlich.«

Garrity betrachtete sein Glas. »Sie haben meinen Arzt angerufen. Sie wollten sich wohl einen Verdacht bestätigen lassen, den Sie bereits hatten. Wie sind Sie darauf gekommen? Zeigt es sich in meinem Gesicht oder an der Art, wie ich mich bewege?«

Keller schüttelte den Kopf. »Ich konnte niemand finden, der ein Motiv hat oder einen Groll gegen Sie hegt. Am Schluss sind Sie als Einziger übriggeblieben. Und dann ist mir eingefallen, dass ich ein paarmal gesehen habe, wie Sie das Gesicht verzogen und es zu überspielen versucht haben. Zuerst habe ich mir nichts weiter dabei gedacht, aber dann hat es mich doch auf eine Idee gebracht.«

»Ich dachte, das wäre einfacher, als es selbst zu tun«, sagte Garrity. »Ich dachte, ich lasse mich einfach von einem Profi überrumpeln. Wie ein alter Elchbulle auf einer Lichtung, der nicht damit rechnet, dass ihn eine Kugel aus dem Leben reißen wird.«

»Irgendwie verständlich.«

»Nein, ist es nicht. Weil der Elch nicht veranlasst hat, dass der Jäger kommt. Der Elch glaubt, er ist allein auf der Lichtung. Er fragt sich nicht jeden Tag, ob heute dieser verhängnisvolle Tag ist. Er wappnet sich nicht, er versucht nicht zu spüren, ob sich das Fadenkreuz auf seine Schulter legt.«

»So habe ich es nie gesehen.«

»Ich auch nicht«, sagte Garrity. »Sonst hätte ich diesen Mann auch nicht angerufen. Mike, was wollen Sie eigentlich heute Abend hier? Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie sind vorbeigekommen, um mich umzubringen.«

»Nein, ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich es nicht kann.«

»Weil wir uns näher kennengelernt haben?«

Keller nickte.

»Ich bin auf einer Farm großgeworden«, sagte Garrity. »Einer dieser nicht überlebensfähigen Familienbetriebe, von denen man immer wieder hört, und unsere ist natürlich auch eingegangen, und ich muss sagen, es war nicht schade drum. Aber wir hatten unser eigenes Rind- und Schweinefleisch, und wir hielten eine Milchkuh und Hühner. Und wir haben den Tieren, die wir irgendwann essen würden, keine Namen gegeben. Die Milchkuh hatte einen Namen, aber nicht das Stierkalb, das sie geboren hat. Die Zuchtsau hieß Elsie, aber den Ferkeln haben wir nie Namen gegeben.«

»Kann ich gut nachvollziehen«, sagte Keller.

»Ich glaube, man braucht keinen Chinesen, um zu begreifen, warum Sie mich nicht umbringen können, nachdem Sie Timmy gerettet haben. Und schon gar nicht, nachdem Sie mit uns am Tisch gesessen und meine Zigarren geraucht haben. Da fällt mir ein, hätten Sie Lust auf eine Zigarre?«

»Nein, danke.«

»Tja, und wie soll es jetzt weitergehen, Mike? Ich muss gestehen, ich bin erleichtert. Ich habe das Gefühl, als hätte ich mich schon seit Wochen auf eine Kugel in den Rücken gefasst gemacht. Und plötzlich bekomme ich eine Vertragsverlängerung für mein Leben. Ich würde sagen, darauf müssten wir einen trinken, wenn wir es nicht sowieso schon täten. Und Sie haben Ihr Glas noch kaum angerührt.«

»Da ist nur eine Sache«, sagte Keller.

 
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Er verließ das Arbeitszimmer, als Garrity das Telefonat führte. Timothy war im Wohnzimmer und brütete über einem Schachbrett. Keller spielte eine Partie mit ihm. Er hatte keine Chance. »Man kann nicht immer gewinnen«, sagte er und stieß seinen König um.

»Nur noch ein paar Züge, und ich hätte Sie matt gesetzt«, sagte der Junge.

»Ich habe es bereits kommen sehen«, sagte Keller.

Er ging wieder ins Arbeitszimmer. Garrity suchte in seinem Humidor eine Zigarre aus. »Setzen Sie sich doch«, forderte er Keller auf. »Ich mache nur noch schnell eine Zigarre fertig. Wenn Sie es nicht schaffen, mich umzubringen, dann vielleicht eins von diesen Dingern.«

»Man kann nie wissen.«

»Ich habe angerufen, Mike, und es ist alles geregelt. Wird zwar eine Weile dauern, bis es zu den zuständigen Stellen durchdringt, aber früher oder später werden Sie einen Anruf bekommen, dass es sich der Kunde anders überlegt hat. Er hat den vollen Betrag gezahlt und den Auftrag storniert.«

Sie unterhielten sich ein wenig, dann saßen sie eine Weile schweigend da. Schließlich sagte Keller, er müsste jetzt los. »Für den Fall, dass sie anrufen, sollte ich lieber in meinem Hotel sein.«

»Wird ein paar Tage dauern, oder?«

»Wahrscheinlich«, sagte er. »Aber man kann nie wissen. Wenn jeder Beteiligte sofort zum Telefon greift, könnte ich schon in ein paar Stunden Bescheid bekommen.«

»Das Ganze wird abgeblasen, und Sie werden zurückbeordert. Sie sind bestimmt froh, nach Hause zu kommen.«

»Egal, wo es ist, gibt es angeblich keinen besseren Ort auf der ganzen Welt.«

Garrity ließ sich in seinen Sessel zurücksinken, dann gestattete er sich, wegen der plötzlich einsetzenden Schmerzen das Gesicht zu verziehen. »Wenn es nicht stärker schmerzen würde als jetzt«, sagte er, »wäre es auszuhalten. Aber es wird natürlich schlimmer werden. Und ich werde beschließen, dass ich auch das aushalte, und dann wird es noch mal schlimmer werden.«

Dazu gab es nichts zu sagen.

»Ich schätze, ich werde wissen, wann es Zeit wird, etwas zu unternehmen«, sagte Garrity. »Und wer weiß? Vielleicht lässt mich aus heiterem Himmel mein Herz im Stich. Oder ich werde von einem Bus überfahren oder sonst irgendwas. Vom Blitz getroffen?«

»Könnte durchaus passieren.«

»Alles kann passieren.« Garrity nickte und stand auf. »Mike, wir werden uns vermutlich nicht mehr sehen, und ich muss gestehen, dass ich das ein wenig bedaure. Ich habe die Zeit mit Ihnen wirklich genossen.«

»Ich auch, Wally.«

»Ich habe mich gefragt, wie er wohl wäre, der Mann, den Sie für so einen Auftrag schicken würden. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber jemand wie Sie sicher nicht.«

Er streckte die Hand aus, und Keller ergriff sie. »Passen Sie gut auf sich auf, Mike«, sagte Garrity. »Alles Gute.«

 
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Zurück in seinem Hotel, nahm Keller ein heißes Bad und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen ging er frühstücken, und als er zurückkam, hatten sie an der Rezeption eine Nachricht für ihn. Mr. Soderholm – bitte rufen Sie Ihr Büro an.

Obwohl es nicht nötig war, rief er von einem Münzapparat an und achtete darauf, nicht überzureagieren, als ihm Dot mitteilte, der Auftrag sei storniert, er solle nach Hause kommen.

»Du hast gesagt, ich soll mir ruhig Zeit lassen«, sagte er. »Hätte ich gewusst, dass es dieser Typ so eilig hat …«

»Nein, Keller«, sagte sie. »Es ist gut, dass du gewartet hast. Der Kunde hat es sich anders überlegt.«

»Er hat es sich anders überlegt?«

»Das war bisher Frauen vorbehalten«, sagte sie. »Aber im Zug der fortschreitenden Gleichberechtigung kann es inzwischen jeder tun. Uns kann es nur recht sein, weil wir den vollen Betrag erhalten. Wisch dir also den Staub von Texas von den Stiefeln und komm nach Hause.«

»Mache ich. Aber es könnte sein, dass ich noch ein paar Tage hier bleibe.«

»Ach?«

»Vielleicht sogar eine ganze Woche. Ist echt eine schöne Stadt.«

»Sag bloß, du überlegst dir, nach Dallas zu ziehen, Keller. Das hatten wir schon zur Genüge.«

»Nein, nein, nicht, was du denkst. Aber ich habe da ein Mädchen kennengelernt.«

»Ohoh, Keller.«

»Sie ist wirklich nett, und nachdem das Ganze abgeblasen ist, spricht nichts dagegen, ein paarmal mit ihr auszugehen, oder?«

»Solange du nicht bei ihr einziehst.«

»So nett ist sie auch wieder nicht.«

Dot lachte und sagte, er solle sich bloß nicht ändern.

Er legte auf und fuhr eine Weile herum und fand einen Film, den er sich ansehen wollte. Am nächsten Morgen packte er und checkte aus.

Er fuhr durch die Stadt und nahm sich ein Zimmer in einer Straße mit mehreren Hotels. Er zahlte für vier Nächte im Voraus bar und trug sich als J.D. Smith aus Los Angeles ein.

Es gab kein Mädchen, das er kennengelernt hatte, kein Mädchen, das er kennenlernen wollte. Aber es war noch nicht Zeit, nach Hause zu fliegen.

Er musste noch etwas erledigen, und vier Tage mussten reichen, um es zu tun. Genügend Zeit für Wallace Garrity, um sich daran zu gewöhnen, kein imaginäres Fadenkreuz mehr zwischen seinen Schulterblättern zu spüren.

Aber nicht genügend Zeit für die Schmerzen, um so stark zu werden, dass sie nicht mehr auszuhalten waren.

Und irgendwann im Verlauf dieser vier Tage würde ihm Keller ein Geschenk machen. Wenn möglich, würde er es wie eine natürliche Todesursache aussehen lassen – ein Herzinfarkt zum Beispiel oder ein Unfall. Jedenfalls würde es schnell gehen und ohne Vorwarnung, und es würde so schmerzlos sein wie nur irgend möglich.

Und es käme unerwartet. Garrity würde es nicht kommen sehen.

Stirnrunzelnd überlegte Keller, wie er es am besten hinbekäme. Es wäre um Einiges schwieriger als die Aufgabe, derentwegen er ursprünglich nach Dallas gekommen war, aber das hatte er sich selbst zuzuschreiben. Weil er sich eingemischt, weil er den Jungen aus dem Pool gezogen hatte. Er hatte in die natürliche Ordnung der Dinge eingegriffen. Das brachte eine Verpflichtung mit sich.

Es war das Mindeste, was er tun konnte.