Vorwort

»Kriminalistisches Wissen kann man sich aneignen, kriminalistische Erfahrung aber kann man nicht erlernen, man muss sie machen, muss sie selbst erfahren.

Als erstes nämlich wird der erfahrene polizeiliche Sachbearbeiter am Tatort erkennen, dass unendlich viele Fehlermöglichkeiten wie unsichtbare Fallen auf ihn lauern. Erst der wirklich Erfahrene, der ebenso an eigenen wie an fremden Fehlern gewachsen ist, wird Fehler vermeiden können.«

Armin Mätzler, Es war kein Mord

Ich bin seit mittlerweile 27 Jahren im Polizeidienst, überwiegend bei der Kripo, und auch ich habe mich viele Male geirrt und Fehler gemacht, vermeidbare und unvermeidbare, gravierende und weniger gravierende. Eine dieser unangenehmen Begebenheiten werde ich niemals vergessen, weil sie – eigentlich – gar nicht hätte passieren dürfen. Ich war damals als junger Kommissar fest davon überzeugt, dass so ein Irrtum nur in schlechten Romanen oder Filmen vorkommt, nicht aber in der Realität, nicht in Düsseldorf, nicht in meinem Revier. Nicht mit mir! Und trotzdem passierte es. Die Sache lief so ab:

Ich parkte unseren Wagen gegen 10.30 Uhr vor dem Mehrfamilienhaus in der Goethestraße 71 in Düsseldorf. Die Sonne schien, der Himmel war wolkenlos, es herrschten angenehme Temperaturen. Gemeinsam mit einem älteren Kollegen hoffte ich, in Kürze einen gewissen Markus Berlinger festzunehmen. Ein Zeuge hatte uns nämlich etwa eine Stunde zuvor berichtet, der 32-jährige gesuchte Berufsverbrecher sei an diesem Vormittag unter der genannten Anschrift zu erwarten. Er wolle dort Kontakt zu einem Bekannten aufnehmen, um seine Flucht ins benachbarte Ausland vorzubereiten. Wir kannten diesen notorischen Kriminellen, der sich seit geraumer Zeit an verschiedenen Orten versteckt hielt, von Polizeifotos und verfügten über eine aktuelle Personenbeschreibung: 1,85 Meter groß; schlank; wasserstoffblonde, kurze Haare; fährt einen geliehenen blauen BMW der 3er-Reihe mit Düsseldorfer Kennzeichen.

Wir warteten nicht länger als eine halbe Stunde, da bremste vor dem Haus ein blauer BMW der 3er-Reihe mit Düsseldorfer Kennzeichen. »Guck mal, das könnte er sein«, sagte ich zu meinem Kollegen, der den Wagen noch gar nicht bemerkt hatte. Gespannt beobachteten wir aus unserem zivilen Streifenwagen die Szenerie. Kurz darauf stieg aus dem blauen BMW ein Mann aus: etwa 1,85 Meter groß, zirka 30 Jahre alt, wasserstoffblonde, kurze Haare, schlank. »Das ist er!«, sagten wir fast gleichzeitig und verließen den Wagen.

Der Mann wollte gerade das Haus Nummer 71 betreten, als ich ihn ansprach:

»Harbort, Kripo Düsseldorf. Herr Berlinger, bleiben Sie stehen und nehmen Sie die Hände hoch!«

Der Mann drehte sich zu uns um und gab sich erstaunt: »Kripo? Was wollen Sie denn von mir?«

»Herr Berlinger, lassen Sie doch die Faxen«, sagte ich. Wir gingen auf den Mann zu, der die Hände entgegen meiner Aufforderung immer noch nicht hochgenommen hatte. Eine blöde, manchmal auch gefahrenträchtige Situation, auf die ich unmittelbar reagieren musste: »Ich sage es nicht noch einmal: Hände hoch!«

»Berlinger? Sagten Sie Berlinger?«

Ich nickte nur kurz und ließ den Mann nicht aus den Augen. Mein Kollege, der mich sicherte, hatte die Hand bereits an der Waffe. Jede falsche Bewegung des Verdächtigen konnte zu einer folgenschweren Reaktion meines Partners führen. Diese Gefahr war dem Mann wohl gar nicht bewusst, denn er kam jetzt auf mich zu.

»Ich heiße nicht Berlinger, mein Name ist Thomas Dahlmann. Was soll das denn hier? Was wollen Sie überhaupt von mir?«

»Bleiben Sie stehen«, forderte ich den Mann auf, »und geben Sie mir Ihren Personalausweis – schön langsam!«

»Können Sie haben.« Der Mann fingerte in seiner Jeansjacke herum und übergab mir seinen Ausweis.

Darin waren folgende Personalien vermerkt: Dahlmann, Thomas, 23.05.1967, Düsseldorf, deutsch. Das kann nur eine Fälschung sein, dachte ich und zeigte den Ausweis meinem Kollegen. »Der will uns verarschen«, sagte mein Partner zu mir, nachdem er sich den Pass und das Bild darin angesehen hatte.

»Wem gehört der BMW?«, wollte ich wissen.

»Mir.«

»Geben Sie mir die Fahrzeugpapiere und Ihren Führerschein.«

Der Mann übergab mir die Dokumente, die ebenfalls auf einen Thomas Dahlmann ausgestellt waren. Erstmals begann ich zu zweifeln, denn auf den Gesuchten war kein Fahrzeug zugelassen, das wussten wir. Waren wir vielleicht doch an den Falschen geraten, einen Doppelgänger mit einem Doppelgängerauto, der einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort aufgetaucht war? Ich hielt dies für unmöglich, die Übereinstimmungen zwischen dem Mann auf dem Fahndungsfoto und dem Verdächtigen waren einfach zu deutlich – einen solchen Zufall konnte es doch gar nicht geben. Irrtum ausgeschlossen.

»Wen wollen Sie denn besuchen?«, fragte ich den Mann.

»Ich wohne hier!«

»Das trifft sich ja prima, dann zeigen Sie uns mal Ihre Wohnung!«

Wir begleiteten den Verdächtigen ins Haus, und in der zweiten Etage schloss der Mann eine Wohnungstür auf. Nachdem er uns Familienfotos, Zeugnisse und andere Dinge gezeigt hatte, die seine Identität zweifelsfrei bewiesen, dämmerte uns, dass jetzt eine Entschuldigung fällig war. Wir erklärten Thomas Dahlmann, dass es einen Doppelgänger geben müsse und er Opfer einer ärgerlichen Verwechslung geworden sei. Der Mann bedachte uns mit einem Blick, der zwischen Ungläubigkeit und Unverständnis hin und her pendelte, sagte darauf jedoch nichts mehr, und wir verließen peinlich berührt die Wohnung.

Was meinem Kollegen und mir passiert ist, nenne ich einen Kriminalirrtum. Diesen Begriff kennt der Duden nicht (kein Eintrag), Google auch nicht (kein Treffer). Es handelt sich also um eine Wortneuschöpfung und bedarf einer Definition bzw. einer Erklärung. Unter Kriminalirrtümern verstehe ich Ermittlungsfehler (zu denen auch Fehlgutachten zählen), die ausschließlich im sogenannten Ermittlungsverfahren passieren, jedoch rechtzeitig erkannt werden, sodass es nicht zu jener fatalen Folge kommt, die allgemein bekannt ist als Justizirrtum – das kriminalistische und sozialpsychologische Versagen im Bereich der Rechtsprechung.

Diese Begriffsbestimmung führt uns zur nächsten Frage: Was genau sind eigentlich Ermittlungen? Hier liegen die Dinge einfacher. Das in Fachkreisen anerkannte Kriminalistik-Lexikon beispielsweise versteht hierunter alle »Untersuchungshandlungen zur Aufklärung von strafbaren Handlungen. Die Ermittlungen dienen insbesondere der Feststellung einer Straftat, eines noch unbekannten Tatverdächtigen, von Umständen, die für oder gegen eine Täterschaft sprechen, des Tatbeitrages des einzelnen am Gesamttatgeschehen, von Ursachen und begünstigenden Bedingungen der Straftat (Antriebe, Hemmnisse, Motive) und des Aufenthaltsortes des Verdächtigen.«

Das vorliegende Buch fokussiert nahezu ausschließlich Kriminalirrtümer im Todesermittlungsverfahren, also wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass ein unnatürlicher Tod vorliegt, oder die Leiche eines Unbekannten gefunden wird und die Ermittlungsbehörden daraufhin tätig werden müssen. Die Kriminalirrtümer, um die es im Folgenden geht, sind auf häufig zu beobachtende Fehlerquellen zurückzuführen. Dabei steht also weniger die Popularität eines Kriminalfalls im Vordergrund als vielmehr seine spezifische Ausprägung.

Ich habe mich bei der Auswahl der Kriminalirrtümer geografisch auf Deutschland und inhaltlich auf acht wesentliche Teilbereiche beschränkt (Kapitel 1–8), die alle besonders von einem Aspekt geprägt sind: dem (nicht) natürlichen Tod eines Menschen in all seinen Erscheinungsformen, die bzw. deren Begleitumstände von Fall zu Fall übersehen, missverstanden, fehlinterpretiert, unterschätzt, unzutreffend begutachtet, falsch eingeordnet oder einfach ignoriert werden.

Die Ursachen für solche Fehlleistungen sind vielfältig und unübersehbar: Leichenerscheinungen werden falsch beurteilt, der Tatortbefund wird fehlerhaft gedeutet, Tatspuren werden nicht erkannt oder unzutreffend gewürdigt, die Todesursache wird falsch ausgelegt oder es fehlt den Ermittlern einfach die notwendige Erfahrung, um komplexe Situationen sachgerecht einzuschätzen und die geeigneten Maßnahmen abzuleiten. Neben den Ermittlungsbeamten irren aber auch Verdächtige, wenn sie ein Geständnis ablegen wollen, Zeugen, wenn sie über Erlebtes berichten sollen, sogar Ärzte und Gutachter unterliegen bisweilen Irrtümern, wenn sie Untersuchungen anstellen und zu falschen Ergebnissen kommen.

Selbst erfahrene Wissenschaftler bekennen sich mitunter zu ihrer eigenen Fehlbarkeit, sofern sie professionell vorgehen, unvoreingenommen bleiben und dabei alle möglichen Umstände gelten lassen, die ergebnisrelevant sein könnten. »Widerstreitende Gutachten der Sachverständigen belegen die begrenzten Möglichkeiten einer zweifelsfreien medizinischen Aussage«, beschrieb einmal ein Wissenschaftler das Dilemma des Gutachterwesens. »Der menschliche Körper ist verhältnismäßig ausdrucksarm, er beantwortet oft recht unterschiedliche Schädigungen mit dem gleichen Symptom. Der Sachverständige ist bemüht, in Todesursachen-Ermittlungsverfahren aus dem körperlichen Befund die Vorgeschichte abzuleiten. Die gestellte Diagnose ist oft nicht mehr als eine Arbeitshypothese, der Versuch einer Deutung. Es bleibt nicht aus, dass dabei je nach beruflicher Prägung und Erfahrung sowie wissenschaftlicher Konzeption der gleiche Sachverhalt unterschiedlich beurteilt werden kann. Die Gewissheit des Ja und Nein hat der medizinische Sachverständige leider nur selten anzubieten. Dazwischen spannt sich das weite Feld der Möglichkeiten und abgestuften Wahrscheinlichkeiten.«

Dem Kriminalisten stellt sich dasselbe Problem: Er muss – grob gesagt – bei der Beurteilung eines Sachverhalts, der viele vor allem täter- und tatbezogene Leerstellen aufweist, zwangsläufig Hypothesen bilden, von denen naturgemäß nur eine zutreffend sein kann, wenn überhaupt. Mit anderen Worten: Diese Form von Kriminalirrtümern ist elementarer Bestandteil eines jeden Ermittlungsverfahrens. Goethe hat einmal in seinen Maximen und Reflexionen geschrieben: »Das Wahre fördert; aus dem Irrtum entwickelt sich nichts, er verwickelt uns nur.« Nicht so beim Kriminalirrtum. Häufig gelingt die Lösung des Falls eben nur über den Umweg des Irrtums, der, sobald seine Existenz erkannt wird, den Blick auf die Wahrheit freigibt oder in die richtige Richtung weist. Die Krux dabei ist nur: Es existiert kein Naturgesetz, dass dem Fehlurteil zwangsläufig die Erkenntnis zu folgen hat. Vielfach reiht sich zunächst Irrtum an Irrtum. Das macht es so schwierig, aber auch so reizvoll. Aber lesen Sie und irren Sie sich doch bitte selbst …

Stephan Harbort
Düsseldorf, im Sommer 2011