Amos oder Amus

Ermittlungszeitraum: November 1977–Dezember 1978

Der Raum misst genau 32 Quadratmeter, die Wände sind weiß gestrichen. Gegenüber der Eingangstür steht ein grüner Metallschrank, halb geöffnet, gefüllt mit Oszillografen, Frequenzzählern, Generatoren und Messgeräten. An den Schrank schließt eine Arbeitsplatte an, auf der Messgeräte mit Monitoren stehen, aus denen teilweise Drähte oder Kabel herausragen. Darüber hängen technische Zeichnungen, Baupläne und – gut sichtbar  – ein Kalender, der für den Monat November eine nackte Frau zeigt, die sich bei strahlendem Sonnenschein unter Palmen verführerisch im Sand räkelt.

Immer wenn Jakob Hauser gegen 7.30 Uhr die Elektrowerkstatt seines Arbeitgebers betritt, bietet sich ihm dieser Anblick. Doch heute ist alles anders. Als er die Werkstatt aufschließen will, bemerkt er, dass sie gar nicht verschlossen ist. Komisch. Die »Jemand zu Hause?«-Rufe bleiben unbeantwortet. Unheilvolle Stille. Er wird trotzdem das Gefühl nicht los, als sei jemand da bzw. da gewesen. Plötzlich ist ein Geräusch zu hören, leise, als würde jemand gurgeln oder röcheln. Vielleicht ein Stöhnen? Der junge Mann will der Sache auf den Grund gehen und schaltet das Licht ein. Als er zur Arbeitsplatte herübersieht, bestätigt sich sein Verdacht – davor sitzt ein Mann auf einem Drehstuhl, irgendwie leblos, zusammengesackt, den Kopf nach vorn gebeugt. Schnell erkennt Jakob Hauser, dass dieser Mann sein Chef, Jaša Reiter, ist, der wohl eingeschlafen sein muss. Erst als Jakob Hauser dem Elektromeister auf die Schulter tippt, sieht er die rötliche Flüssigkeit auf dem grauen T-Shirt, an den Händen, auf dem Tisch, auf dem Boden.

»Geh schnell, hol die Polizei«, flüstert Jaša Reiter angestrengt. »Ich bin eben angeschossen worden.« Der Schwerverletzte spricht kaum hörbar und macht zwischen den Sätzen längere Pausen. »Dieses verdammte Dreckschwein!« Jakob Hauser hat genug gehört, hastet zum Telefon und wählt den Notruf.

Wenige Minuten später treffen nahezu zeitgleich ein Streifenwagen und der Notarzt ein. Bei der ersten Untersuchung wird auf der linken Brusthälfte des Opfers eine durchbohrende Verletzung entdeckt, fast mittig, so groß wie ein 5-Mark-Stück. Damit korrespondiert offenbar in gleicher Höhe ein kleiner Hautdefekt am Rücken. Der Arzt ruft zur Eile auf, durch die Schussverletzung könnten lebenswichtige Organe verletzt worden sein.

Jaša Reiter muss wenig später im Kreiskrankenhaus notoperiert werden. Das Geschoss hat beide Lungenlappen durchdrungen und den Herzbeutel eröffnet. Es besteht akute Lebensgefahr. Das berichten die behandelnden Ärzte auch der Mordkommission, die mittlerweile ihre Arbeit aufgenommen hat. Da bisher keine verwertbaren Spuren am Tatort gefunden werden konnten, kommt der Aussage des Opfers besonders hohe Bedeutung zu. Wer hat geschossen? Womit? Warum? Der überaus kritische Zustand des Patienten erlaubt allerdings keine Befragung durch die Kripo. Deshalb wird vereinbart, dass die Ärzte mit dem Opfer sprechen, sofern sich noch die Gelegenheit ergibt.

Jaša Reiter kommt einige Stunden nach der Operation wieder zu Bewusstsein. Allerdings ist er so geschwächt, dass er nicht sprechen kann. Daher muss eine andere Form der Kommunikation gefunden werden. Die Ärzte schlagen vor, der Patient solle kurz nicken, wenn ihm der richtige Buchstabe aus dem Alphabet genannt werde. So können ganze Wörter oder Sätze entstehen. Während der behandelnde Arzt immer wieder das Alphabet aufsagt und Jaša Reiter irgendwann nickt, notiert eine Krankenschwester den entsprechenden Buchstaben. Auf diese Weise gelangt die Kripo an die so dringend benötigten Angaben des Opfers:

»E-i-n  a-n-d-e-r-e-r  M-a-n-n  h-a-t  a-u-f  m-i-c-h  g-e-s-c-h-o-s-s-e-n.«

»D-e-r M-a-n-n h-e-i-ß-t A-m-o-s o-d-e-r A-m-u-s.«

»D-e-r i-s-t  A-r-m-e-n-i-e-r u-n-d  w-o-h-n-t  i-n M-ü-n-c-h-e-n.«

»D-e-r f-ä-h-r-t e-i-n-e-n M-e-r-c-e-d-e-s 2-8-0.«

Bald müssen die Ermittler jedoch feststellen, dass in den amtlichen Datenbanken keine Person verzeichnet ist, auf die alle Merkmale zutreffen. Es existieren zwar drei Männer mit dem Vornamen »Amos«, auf die auch ein Mercedes zugelassen ist, nur kommen sie aus zwingenden Gründen nicht als Täter in Betracht. Hat sich das Opfer geirrt? Lebt der Täter inkognito in München? Oder hat der Täter das Opfer über seine Identität getäuscht? Als sich die Ermittler wieder an die Ärzte wenden, um eine abermalige Befragung des Patienten anzuregen, erfahren sie, dass Jaša Reiter gestorben ist. Außerdem wird ihnen berichtet, dass während des letzten Eingriffs im Brustraum des Patienten ein sieben Zentimeter langes, röhrenartiges Metallteil gefunden worden sei, das durchaus als abgerissener Schalldämpfer interpretiert werden könne.

Weitere Erkenntnisse gewinnen die Fahnder durch das Ergebnis der Obduktion. Im Zuge der Untersuchung ist am Rücken des Opfers eine kraterförmige Ausschussöffnung freigelegt worden. Außerdem ist der Nachweis zahlreicher Pulvereinsprengungen gelungen, nämlich an der linken Brust, am linken Oberarm und im Gesicht. Demnach hat der Mörder von vorn und aus nächster Nähe auf Jaša Reiter geschossen. Aufschlussreich ist für die Ermittler auch der Fund einer dreieinhalb Zentimeter langen, messingfarbenen und erkennbar verkürzten Geschosshülse, die im linksseitigen Nieren-Milzlager gesteckt hat. Daraus folgt: Das bei der Operation entfernte Metallteil dürfte nicht als Schalldämpfer, sondern als eine Art Rohr gedient haben. Zu diesem Metallteil passt nämlich ein Projektil, Kaliber 7,62 Millimeter, das unterdessen am Tatort in einer Türfüllung hinter dem Schreibtischstuhl gefunden worden ist, auf dem das Opfer letztmals gesessen hat. Das Projektil weist keine Züge und Felder auf, also charakteristische Kratzspurenmuster, die in der Regel dann entstehen, wenn beispielsweise eine Pistolenkugel durch den Lauf einer Waffe getrieben wird. Es lässt aber Oberflächenspuren erkennen, die auf ein Durchschießen des rohrförmigen Metallteils mit etwa gleichkalibriger Bohrung hinweisen. Aus alldem schlussfolgern die Ermittler, dass Jaša Reiter nicht mit einer handelsüblichen Schusswaffe, sondern mit einem eher unkonventionellen Schussapparat tödlich verletzt worden ist – der am Tatort bisher jedoch nicht gefunden werden konnte. Während der Tatablauf allmählich Konturen bekommt, bleibt das Motiv weiter im Dunkeln.

Da Jaša Reiter seinen Mörder offenbar gekannt hat, sollen seine Vita und die aktuellen Lebensverhältnisse genauestens unter die Lupe genommen werden, um im persönlichen oder beruflichen Umfeld auf jenen Mann zu stoßen, den es zu überführen gilt. Nach intensiven Ermittlungen gelingt es der Mordkommission schließlich, den Werdegang des Opfers nachzuzeichnen: Jaša Reiter stammt aus Jugoslawien und wächst bei seinen Eltern auf, die deutscher Herkunft sind. Der Vater ist Angehöriger des Geheimdienstes und fällt als SS-Offizier in Stalingrad. Gegen Kriegsende flüchten Jaša und seine Mutter in Richtung Österreich, allerdings dürfen sie die Grenze nicht passieren und werden zurück in ihre Heimat geschickt. Daraufhin ziehen sie für einige Monate in langen Flüchtlingstrecks quer durch Jugoslawien. Jaša wird dabei immer wieder Zeuge grausamer Misshandlungen und sieht, wie Heimatsuchende, auch Kinder, von jugoslawischen Partisanen aus nichtigen Anlässen getötet werden. Schließlich kommen sie auf dem Landgut der Großeltern unter.

Jašas Beziehung zu seiner streng gläubigen Mutter ist innig; es werden eiserne moralische Maßstäbe gesetzt, auf deren Einhaltung unnachgiebig geachtet wird, notfalls setzt es Schläge. Selbst als erwachsener Mann muss er sich Ohrfeigen gefallen lassen, wenn er Regeln bricht oder sich falsch verhält. Nach seiner Schulentlassung macht Jaša Reiter eine Lehre zum Elektromechaniker. 1959 reist er in die Bundesrepublik ein und bekommt einen Job bei Siemens. In seiner Freizeit liest er viele Fachbücher und bildet sich fort. Schließlich macht er sich als Elektromeister selbstständig. Allerdings muss er sich hoch verschulden, um sein Geschäft finanzieren zu können. Trotz zäher Bemühungen gelingt es Jaša Reiter in der Folgezeit nicht, seine finanziellen Verbindlichkeiten abzubauen.

Bis hierhin ein unauffälliger Lebenslauf, lässt man die Kriegserlebnisse außer Acht. Allerdings gilt Jaša Reiter nicht als durchweg rechtstreuer Bürger. Es gibt da nämlich ein Gerichtsurteil, das 13 Monate zuvor verkündet worden ist und besagt: »Der Angeklagte beauftragte den Mitangeklagten damit, einen Einbruch in seine Elektrowerkstatt vorzutäuschen. Mit den dann erhofften Zahlungen der Versicherung wollte er seine Schulden begleichen. Anfang April übergab der Angeklagte dem Mitangeklagten den Schlüssel für die Werkstatt mit dem Hinweis, er werde am nächsten Tag seine Mutter besuchen. Tags darauf betrat der Mitangeklagte die Werkstatt, schlug eine Scheibe ein, um einen Einbruch vorzutäuschen. Gegenüber einem Kriminalbeamten und später der Versicherung erklärte der Angeklagte, ihm seien elektronische Bauteile im Wert von 50.000 Mark gestohlen worden. Aufgrund des objektiven Tatortbefundes, verbunden mit dem fehlenden Nachweis über den Einkauf der Beute, ist bewiesen, dass der Einbruch lediglich fingiert worden ist.«

Hellhörig werden die Kriminalisten, als sie von Kollegen aus dem Einbruchsdezernat erfahren, dass Jaša Reiter ursprünglich behauptet hat, die Bauteile bei einem gewissen »Arthur Amos« in München gekauft zu haben. Dabei kann es sich wohl nur um jenen »Amos oder Amus« handeln, den das Opfer beschuldigt hat, den tödlichen Schuss abgefeuert zu haben. Nur bestehen jetzt begründete Zweifel, ob dieser mysteriöse Armenier überhaupt existiert, da dem Namen »Arthur Amos« auch schon im damaligen Fall keine Person zugeordnet werden konnte.

Die Ermittler lassen fortan die Mordversion ruhen und versuchen nun zu beweisen, dass Jaša Reiter allein hinter den Vorkommnissen in seiner Werkstatt steckt – vermutlich, um durch den vermeintlichen Mordversuch ein Wiederaufnahmeverfahren und so doch noch die Auszahlung der Versicherungssumme zu erzwingen. Allerdings fehlt der Kripo ein wesentliches Beweisstück, die Apparatur, mit der das Projektil verschossen worden ist. Daraufhin wird die Werkstatt noch mehrmals akribisch unter die Lupe genommen, doch der erhoffte Erfolg bleibt aus. Erschwert werden die Ermittlungen dadurch, dass die Fahnder keine rechte Vorstellung davon haben, was genau sie eigentlich suchen und wie so eine Abschussvorrichtung aussehen könnte. Und dann ist da noch ein anderes Problem. Wenn es keinen Täter gegeben hat, dann muss Jaša Reiter den verschwundenen Schussapparat selbst beiseitegeschafft haben – angesichts der Schwere seiner Verletzung scheint das kaum vorstellbar. Ist ein Mensch zu so etwas fähig? Kann jemand, der eine tödliche Schussverletzung erlitten hat, noch so gezielt und kontrolliert handeln?

Ein erfahrener Rechtsmediziner wird mit dieser Fragestellung konfrontiert und gibt zu bedenken, dass eine schussbedingte Handlungsunfähigkeit in aller Regel nur über eine Funktionsstörung des Zentralnervensystems verursacht werden könne, die im vorliegenden Fall jedoch nicht anzunehmen sei. Vielmehr komme eine verzögerte Handlungsunfähigkeit in Betracht, da in vergleichbaren Fällen gelegentlich eine beträchtliche Latenzzeit bei den Getroffenen beobachtet worden sei; mitunter seien die Verletzten mehrere Minuten lang durchaus in der Lage gewesen, zielgerichtet zu handeln. Also auch Jaša Reiter?

Nach einigen Tagen wird ein Dreher ermittelt, der zwei Wochen vor der Tat für Jaša Reiter zwei Metallteile hergestellt und ausgeliefert hat. Rasch stellt sich heraus, dass das im Körper des Toten gefundene Metallstück von diesem Dreher gefertigt worden ist. Es fehlt jedoch nach wie vor jenes Metallteil, mit dem das Projektil verfeuert wurde. Für den sicheren Nachweis, dass kein Mord stattgefunden hat, muss der komplette Schussapparat vorhanden sein. Also wieder zurück zum Tatort.

Dort stoßen die Spezialisten erst nach tagelanger Suche endlich auf eine winzige Blutspur, die zu einer Lautsprecherbox führt und bisher übersehen worden ist. Die Rückwand der Box ist zwar sorgfältig verschraubt, doch dahinter liegt das noch fehlende Metallteil, ordentlich eingewickelt in Watte und Papier. Immer noch etwas ungläubig, dass Jaša Reiter trotz seiner schweren Verletzung zu dieser Energieleistung imstande gewesen sein soll, veranlassen die Ermittler weitere Untersuchungen. Und dabei gelingt an dem gefundenen Metallstück der Nachweis einer Fingerspur, die zweifelsfrei vom Opfer stammt. Der Fall ist gelöst.

Und so muss es passiert sein: Kurz vor Arbeitsbeginn spannt Jaša Reiter den Schussapparat in einen Schraubstock. Die mit dem Projektil geladene Abschussvorrichtung hält er sich vor die linke Brust. Mit einem Hammerschlag auf den eingesetzten Metallstift zündet der Mann das Projektil. Das Vorhaben, sich nicht lebensgefährlich zu verletzen, wäre fast geglückt, wenn die Verbindung der beiden Metallteile dem Explosionsdruck standgehalten hätte. Die Verbindung ist jedoch so schwach, dass der Lauf der Apparatur abreißt und zusammen mit der Hülse in den Körper eindringt – mit verheerenden Folgen.