Ermittlungszeitraum: August 1987
»Gemeinschaftspraxis Heuer und Marquardt, mein Name ist Cordula Franke. Was kann ich für Sie tun?«
Keine Antwort.
»Hallo?«
»Ja, Brümmer hier. Sagen Sie bitte Dr. Heuer Bescheid.« Der Anrufer spricht mit brüchiger Stimme. »Er soll sofort zu uns nach Hause kommen!«
»Sagen Sie mir bitte, worum es geht?«
Wieder Schweigen.
»Herr Brümmer?«
»Er soll schnell kommen. Unser Sohn ist tot.«
15 Minuten später parkt Dr. Joachim Heuer vor dem Haus der Familie Brümmer. Der 64-jährige Internist kennt die Familie seit vielen Jahren, es hat sich im Laufe der Zeit ein besonderes Vertrauensverhältnis entwickelt. Dass der 25-jährige Sohn Michael gestorben sein soll, kommt überraschend. Dr. Heuer kennt ihn als zwar extrem übergewichtigen und asthmakranken, aber davon abgesehen doch als gesunden jungen Mann.
Der Arzt wird von Manfred Brümmer bereits erwartet, der ihm auf halbem Wege entgegenkommt. Nach einer kurzen Begrüßung bittet der Hausherr den Arzt herein. »Kommen Sie, er liegt in seinem Zimmer.« Auf dem Weg dorthin begrüßt Dr. Heuer die Ehefrau. Margarete Brümmer sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa und nickt nur kurz. Sie starrt teilnahmslos an die Wand, ihr Gesicht ist verweint.
Nachdem der Hausarzt allein im Zimmer des Sohnes gewesen ist, kommt er zurück zu den Eltern. »Sie haben recht. Mein herzliches Beileid.« Dr. Heuer stellt noch im Haus der Brümmers den Leichenschauschein aus:
Personalien des Verstorbenen | Michael Brümmer, 17.08.1961 Mauerstraße 27 a 5000 Köln 13 |
Zeitpunkt des Todes | 10.07.1987, 9.00 Uhr |
Todesursache | Herzstillstand |
Welches Leiden hat den Tod unmittelbar herbeigeführt? | Akutes Herzversagen |
Welche Krankheiten oder äußeren Ursachen sind dem Leiden ursächlich vorausgegangen? | Asthmakrank – seit 20 Jahren |
Andere wesentliche Krankheitszustände, die z. Z. des Todes bstanden haben | ––– |
Bei Unfall, Krankheit, Vergiftung oder Gewalteinwirkung (Selbstmord) a) Zustandekommen (äußere Ursache) des Schadens b) Medizinische Diagnose des Schadens u. seiner Komplikationen c) Unfallkategorie (Dienst- od. Arbeitsunfall, Unfall im Berbau, Verkehr, Sport, Haushalt usw.) |
––– ––– ––– |
Dr. Heuer führt mit den konsternierten Eltern noch ein kurzes Gespräch, gibt Verhaltenshinweise und bietet Medikamente an, die beruhigend und schlaffördernd wirken. Doch Manfred und Margarete Brümmer lehnen dankend ab. Man kommt überein, die Polizei nicht zu verständigen.
Drei Wochen später.
Ein Oberstaatsanwalt telefoniert mit dem Leiter des 1. Kriminalkommissariats und teilt mit, dass eine Ärztin des Gesundheitsamtes bei einer obligatorischen Leichenbesichtigung auf dem Hauptfriedhof an einem männlichen Toten eine höchst verdächtige Verletzung am Kopf festgestellt habe, die einen natürlichen Sterbefall fraglich erscheinen lasse. Er fordere die Aufnahme von Ermittlungen an.
Zwei Kriminalbeamte machen sich auf den Weg und stellen Folgendes fest: Im Krematorium steht vor dem Verbrennungsofen eine Reihe von Särgen mit Leichen, deren Einäscherung unmittelbar bevorsteht. Die erneute Leichenschau wurde durchgeführt, weil sie bei Feuerbestattungen gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Amtsärztin deutet auf einen der Särge, der daraufhin von einem Friedhofsarbeiter geöffnet wird.
Im Sarg liegt rücklings eine männliche Leiche, bis zum oberen Brustbein bedeckt mit einem weißen Tuch. An der rechten Schläfe können die Beamten eine Verletzung erkennen, die von einem Projektil verursacht worden sein muss. Der Durchmesser des Einschussloches beträgt 0,6 Zentimeter. Die Wundränder weisen Schmauchspuren auf, und man sieht die Rundung eines Waffenlaufes. Im Fachjargon spricht man in solchen Fällen von einer »Stanzmarke«. Das Spurenbild deutet daraufhin, dass der Mann aus nächster Nähe erschossen wurde.
Eine lagegerechte Blutabrinnspur verläuft vom Einschussloch senkrecht oberhalb des rechten Ohrs zum Nackenbereich, und eine nicht lagegerechte Blutabrinnspur erstreckt sich vom Einschussloch waagerecht über die Stirn bis zum linken Ohr der Leiche. Daneben existiert eine dritte Abrinnspur, etwa zwei Zentimeter lang, die senkrecht nach unten verläuft, dann abknickt und am Ansatz der rechten Augenbraue endet. Aus beiden Nasenlöchern ist Blut ausgetreten. Schmauchspuren an den Händen des Toten können mit bloßem Auge nicht erkannt werden.
Der Tote, der – glaubt man dem Leichenschauschein – an akutem Herzversagen gestorben sein soll, ist Michael Brümmer. Die Ermittler suchen die Eltern auf und bringen die Angelegenheit gleich auf den Punkt. Es wird kein Verdacht geäußert, sehr wohl aber auf die widersprüchlichen Umstände hingewiesen. Manfred Brümmer empört sich und verweist auf den Totenschein, ein amtliches Dokument, ausgestellt von einem anerkannten und erfahrenen Arzt. »Was wollen Sie denn noch?!« Die Ermittler werden deutlicher und sagen den Eltern, dass Michael von einer Schusswaffe am Kopf tödlich verletzt worden sei, es bestehe Klärungsbedarf. Während Margarete Brümmer nichts sagt und auch sonst keine Regung zeigt, verliert ihr Mann vollends die Fassung, schnauzt die Beamten an und fordert sie auf, das Haus zu verlassen. Sofort!
Die Ermittler bleiben und befragen die Eltern erneut, diesmal jedoch getrennt voneinander. Nach etwa 30 Minuten kommen die Beamten wieder zusammen und tauschen sich aus. Vater und Mutter wollen von einer Schussverletzung nichts wissen. Eine Waffe habe man niemals besessen und auch bei Michael nicht gesehen. Nein, am Tag seines Todes ebenfalls nicht. Merkwürdig ist, dass die Couch, auf der Michael Brümmer gefunden wurde, kurz darauf von seinem Vater auf einer Müllkippe entsorgt wurde – angeblich hätte das Blut so stark gestunken. Die Möglichkeit, dass Michael sich das Leben genommen haben könnte, wird von beiden Eheleuten vehement ausgeschlossen. Vielmehr verweisen sie auf den Leichenschauschein, der einen natürlichen Tod infolge der langjährigen Asthmaerkrankung des Sohnes bescheinige. Etwas anderes sei nicht vorstellbar.
Die Kripo ist jedoch anderer Meinung und befragt Dr. Heuer. Der will zunächst gar nicht glauben, dass Michael Brümmer erschossen wurde. Unerklärlich. Er räumt aber ein, den Leichnam nur angesehen und nicht genauer untersucht zu haben. Dabei habe er lediglich eine Platzwunde am Kopf erkennen können, die sich der Verstorbene – so habe er geschlussfolgert – nach einem asthmabedingten Schwächeanfall bei einem Sturz an der Türklinke zugezogen haben könnte. Michael Brümmer müsse sich also den Kopf gestoßen, auf die Couch gekippt und dort verstorben sein. Auf die Frage, ob von ihm eventuell auf Bitten der Eltern eine andere Todesursache als die tatsächliche im Leichenschauschein angegeben worden ist, antwortet Dr. Heuer unmissverständlich: »Nein.«
Drei Zeugen, die den Leichnam gesehen haben, schließen kategorisch aus, dass Michael Brümmer erschossen wurde – obwohl die Spuren an seinem Leichnam keine andere Schlussfolgerung zulassen. Ein Komplott? Vielleicht sogar Mord? Hat der Vater oder die Mutter den Sohn erschossen, und hat der Hausarzt geholfen, die Sache zu vertuschen?
Wieder sprechen die Ermittler mit den Eltern, mal einfühlsam, mal eindringlich. Doch Manfred und Margarete Brümmer bleiben dabei: keine Waffe, natürlicher Tod. Daraufhin wird dem Ehepaar gesagt, es sei vorläufig festgenommen, da der dringende Verdacht bestehe, sie hätten ihren Sohn aus noch unbekanntem Grund getötet. Auch dieser letzte Versuch, die Beschuldigten unter dem Eindruck der drohenden Freiheitsentziehung zu einer wahrheitsgemäßen Aussage zu bewegen, scheitert.
Die Ermittler vermuten, dass das Motiv für die Tötung nur in der Eltern-Kind-Beziehung zu finden sein kann. Bevor die Vernehmungen der Beschuldigten erfolgen, werden Nachforschungen über den 25-Jährigen angestellt. Dabei kommt heraus: Michael Brümmer begann nach seinem Abitur in Gießen ein Medizinstudium, brach es aber zweieinhalb Jahre später ab. Es folgte eine Banklehre, die der junge Mann auch nicht abschloss. Seit anderthalb Jahren scheint Michael Brümmer sich nicht mehr um eine Arbeitsstelle bemüht zu haben. Offenbar wurde er von seinen Eltern, bei denen er auch zuletzt wohnte, finanziell unterstützt. Insbesondere der Vater, ein angesehener und erfolgreicher Architekt, dürfte mit dem Verhalten seines Sohnes nicht einverstanden gewesen sein.
Hat dieses Konfliktpotenzial ausgereicht, um Manfred Brümmer zum Täter werden zu lassen, der seinen Sohn nach einer heftigen verbalen und später auch körperlichen Auseinandersetzung erschießt? Oder hat sich der junge Mann das Leben genommen, weil er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat? Von der Waffe und einem Abschiedsbrief fehlt jedoch jede Spur. Zudem soll Michael Brümmer zu keiner Zeit Selbstmordabsichten geäußert haben.
Bei einem erneuten Gespräch mit Dr. Heuer kommt heraus, dass es zwei weitere Personen gibt, die den Leichnam gesehen haben dürften – die Tochter der Brümmers und der Schwiegersohn; beide seien dem Hausarzt entgegengekommen, als dieser nach der Bescheinigung von Michaels Tod das Haus der Brümmers verlassen habe. Claudia und Lars Thiel werden ins Präsidium geholt und vernommen.
Die 29-jährige Schwester des Toten bestätigt die Angaben der Eltern. Sie selbst habe sich den Bruder nur kurz angesehen und sich nicht getraut, näher an den Leichnam heranzutreten. Von einer Waffe wisse sie nichts, und auch von einem Abschiedsbrief sei zu keinem Zeitpunkt die Rede gewesen. Die Ermittler glauben der Frau nicht, sie haben aber aus juristischen Gründen kein Druckmittel und brechen die Vernehmung ab.
Anders liegt der Fall bei Lars Thiel, einem 31-jährigen Verwaltungsbeamten, der von den Ermittlern sehr genau und ausführlich darüber aufgeklärt wird, welche disziplinarischen und beamtenrechtlichen Folgen sich aus einer Falschaussage für ihn zwangsläufig ergeben würden. Und diese Hinweise zeigen Wirkung. Lars Thiel erzählt, dass er an dem besagten Morgen im Haus des Schwiegervaters gewesen sei, der ihn schließlich gebeten habe, den Leichnam mit ihm zusammen in Rückenlage auf die Couch zu legen – Michael Brümmer wog etwa 150 Kilogramm. Hier habe er plötzlich unter dem Körper des Toten eine Pistole entdeckt und sie sofort dem Schwiegervater übergeben, der sie in die Hosentasche gesteckt und ihn aufgefordert habe, der Schwiegermutter nichts davon zu erzählen. Sie dürfe vom Freitod ihres Sohnes nichts wissen, im Übrigen sei sie nach dem Tod ihrer Mutter vor nur sechs Wochen seelisch noch zu angegriffen.
Lars Thiel gibt außerdem an, später seiner Frau von der Waffe und der Absprache zwischen ihm und dem Schwiegervater erzählt zu haben. Sie habe daraufhin erwähnt, dass sie im Zimmer des Bruders einen Abschiedsbrief mit testamentarischen Verfügungen gefunden habe, den sie ebenfalls ihrem Vater ausgehändigt habe. Claudia Thiel wird anschließend nochmals befragt, rückt von der ersten Aussage ab und bestätigt die Angaben ihres Mannes.
Somit scheint sich der Mordverdacht gegen die Eltern nicht zu erhärten. Michael Brümmer dürfte sich die Waffe selbst an den Kopf gehalten und abgedrückt haben. Gleichwohl bleibt das widerborstige Verhalten der Eltern unverständlich. Warum sollte der Freitod des Sohnes vertuscht werden? Warum wären Margarete und Manfred Brümmer sogar bereit gewesen, für diese Lüge ins Gefängnis zu gehen, wenn auch nur vorübergehend?
Als die Mutter mit den Aussagen ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns konfrontiert wird, beharrt sie darauf, die Wahrheit gesagt zu haben: keine Waffe, kein Abschiedsbrief, keine Selbsttötung – nein! Auch Manfred Brümmer lässt sich zunächst nicht beeindrucken und wiederholt gebetsmühlenartig, was er bereits ausgesagt hat. Erst nach dreieinhalb Stunden und intensivem Zureden der Beamten rückt auch er mit der Wahrheit heraus. Er habe seinen Sohn in dessen Zimmer gefunden, als er ihn zum Frühstück bitten wollte, erzählt der Mann, diesmal mit kaum hörbarer Stimme. In seiner Verzweiflung habe er seinen Schwiegersohn angerufen und ihn um Rat gefragt. Dass sein Sohn von eigener Hand gestorben sei, habe er zunächst gar nicht realisiert, erst als die Waffe gefunden worden sei und genau eine Patrone der sonst vollzähligen Munition gefehlt habe, seien ihm die Zusammenhänge klar geworden. Und warum dieses Täuschungsmanöver? Die Antwort kommt prompt: »Der eigene Sohn bringt sich um – was für eine Schande! Das durfte doch niemand erfahren. Meine Frau schon gar nicht!«
Warum sich Manfred und Margarete Brümmer mit aller Kraft gegen die Ermittlungen der Kripo gestellt haben, ist somit geklärt. Nur aus welchem Grund sich der Sohn das Leben genommen hat, muss noch näher untersucht werden. Und dabei ist – endlich – der Vater behilflich, der den Ermittlern die Verstecke zeigt: Die Pistole wird im Keller des Hauses gefunden, verborgen in einem Kaminschacht, vor dem ein Regal steht. Der Abschiedsbrief liegt in einem Geheimschubfach des Wohnzimmerschranks.
Als die Beamten Michael Brümmers Abschiedsbrief lesen, löst sich auch das letzte Rätsel dieses anfangs so mysteriösen Kriminalfalls.
»Liebe Mama, lieber Papa!
Dieser Brief ist der letzte Schritt hin zu einem Ausweg, den ich mir nicht ausgesucht hab, den ich aber gehen muss. Es tut mir SEHR leid, dass ich Euch in den letzten Jahren so enttäuscht hab. Ihr habt so große Hoffnungen in mich gesetzt, wolltet aus mir einen Arzt machen, der ich aber nicht sein wollte. Darüber haben wir oft gestritten. Ich habe den Frust in mich hineingefressen, bin darüber fett geworden. Ich bin ein TOTALER VERSAGER! Wofür soll ich noch leben, für wen soll ich mich einsetzen? Was Ihr nicht wissen könnt: In der letzten Zeit hatte ich keine Kraft mehr, immer diese dunklen Gedanken, die mich verfolgt und gequält haben. TOTALE FINSTERNIS. Da, wo ich jetzt bin, geht es mir bestimmt besser. In dieser Welt wäre ich nicht mehr glücklich geworden. Bitte habt Verständnis dafür! Ich will einfach nicht mehr leben. Glaubt mir, es ist besser so! Ein allerletztes Lebewohl, Michi.«