Die Grenze zum Töten

Ermittlungszeitraum: Oktober 2006–Juni 2007

Magdalene Dressler ist im Kollegenkreis nicht unbedingt beliebt. Die 56-Jährige arbeitet als Schwester auf der kardiologischen Intensivstation eines Krankenhauses. Ihre Kollegen in der Pflege respektieren sie zwar und schätzen ihre beachtliche Fachkompetenz und Erfahrung, doch trotzdem ist sie eher eine Außenseiterin, die schon deshalb unangenehm auffällt, weil sie bisweilen laut singend und pfeifend ihrer Arbeit nachgeht, in letzter Zeit immer öfter. Auch die Ärzte, vor allem die jüngeren, ärgern sich, wenn Magdalene Dressler ihnen vor dem versammelten Pflegeteam energisch und manchmal auch lauthals widerspricht, Anordnungen kritisiert oder endlose Diskussionen beginnt.

Mangel an Respekt kennzeichnet das Verhalten dieser Frau auch insbesondere gegenüber Berufsanfängern, die sie zusammenstaucht, wenn ihnen mal ein Fehler unterläuft oder sie etwas nicht wissen. Magdalene Dressler kommandiert sie dann mit militärisch kurzen Anweisungen lautstark zum Küchendienst ab oder degradiert sie zum Putzen.

Allerdings hat diese Frau auch unverkennbar gute Seiten, und es wird ihr hoch angerechnet, dass sie sich vornehmlich der Schwerstkranken annimmt, der hoffnungslosen Fälle, Patienten, die von den Ärzten bereits aufgegeben wurden. Dann zeigt sie großes Verständnis, vermindert körperliche und seelische Schmerzen, lindert die Angst vor dem nahen und unabwendbaren Tod. Emotionale Schwerstarbeit. Und genau diese Tätigkeit, um die sich die Kollegen gerne drücken, ist aufwendig und führt unweigerlich an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit.

Auf der Station 109 b gibt es insgesamt acht Patientenzimmer, davon eins mit drei Betten, die durch Raumteiler aus Metall mit weißem, undurchsichtigem Stoff getrennt sind. Alle notwendigen Arzneimittel sind an mehreren zentral gelegenen Punkten der Station unverschlossen zugänglich. Jeder Arzt und jeder Pfleger darf zugreifen. Wer sich welches Medikament nimmt, wird nicht dokumentiert. Häufig muss es bei Notfällen sehr schnell gehen, da ist für Bürokratie kein Platz.

Niemand will mit Magdalene Dressler über dienstliche Probleme reden. Niemand weiß, dass sie ernste private Schwierigkeiten hat – mit ihrem Mann, mit sich selbst und mit dieser Welt, in der Regeln gelten, mit denen sie nicht einverstanden ist, die sie missachtet und verletzt. Kollegen beobachten in letzter Zeit, dass Magdalene Dressler gelegentlich Patienten beschimpft, manchmal auch schlägt, mit der flachen Hand. Alle nehmen an, sie seien Zeuge einer Ausnahmesituation geworden, eines einmaligen Fehlverhaltens. Kein Wunder, bei all dem Stress, den sich Magdalene Dressler zumutet.

Über einen Vorfall, der eigentlich nicht zu verstehen und auch nicht zu entschuldigen ist, spricht man jedoch, allerdings nur hinter vorgehaltener Hand: Eine Kollegin hat nämlich vor Kurzem gesehen, wie Magdalene Dressler einem Patienten eigenmächtig das stark wirkende Beruhigungsmittel »Dormicum« gespritzt hat. Daraufhin ist der Kreislauf des älteren Mannes, der operiert werden sollte, zusammengebrochen. Ein Arzt musste alarmiert werden, dem es schließlich gelungen ist, den Patienten zu reanimieren. Zu diesem Zeitpunkt ist Magdalene Dressler schon nicht mehr auf der Station gewesen. Die Augenzeugin informiert einen Oberarzt über das bedenkliche Verhalten ihrer älteren Kollegin. Doch man zieht keine Konsequenzen, man spricht nicht einmal mit der Übeltäterin. Man schweigt die Angelegenheit tot.

28. Juni 2005:

Gegen 7 Uhr wird ein Patient, der an einem Harnblasenkarzinom und einer Herzerkrankung leidet, von der Urologie auf die Station 109 b gebracht. Der 66-Jährige muss reanimiert werden. Mit dem Ziel, den Blutdruck zu erhöhen und zu stabilisieren, übernehmen zwei Ärzte die Notfallbehandlung. Während diese mit der Rettung des Patienten überaus beschäftigt sind, verabreicht Magdalene Dressler als zuständige Krankenschwester dem Mann in einem unbeobachteten Moment das Medikament »Nipruss«, ein stark blutdrucksenkendes und somit kontraindiziertes Mittel. Der Patient stirbt daraufhin. Später wird ein »natürlicher Tod« bescheinigt.

Eine erste Reaktion auf Magdalene Dresslers mitunter ungebührliches Verhalten gibt es vier Monate später, nachdem sie von einer anderen Pflegerin dabei beobachtet wurde, wie sie einer verwirrten Patientin auf die Hand schlug. Die ältere Dame hatte ins Bett gemacht und die Exkremente auf der Decke verschmiert. Die Zeugin informiert die Stationsleiterin. Doch es passiert weiter nichts.

Ein ähnlicher Fall ereignet sich fünf Monate danach. Diesmal schlägt Magdalene Dressler einen 76 Jahre alten Mann, der in seiner geistigen Verwirrung an den Kabeln des elektronischen Überwachungsmonitors gerissen hat. Diesen Zwischenfall beobachtet abermals jene Kollegin, die bereits zuvor schon Meldung gemacht hat. Diesmal geht sie in der Klinikhierarchie einen Schritt weiter und informiert die Leitung des Pflegedienstes. Und wieder geschieht nichts.

6. August 2006:

Eine Ampulle fällt in einen Abfalleimer – klack. Ein Geräusch, das jede Pflegekraft kennt. Routine. Nur passt dieses Geräusch nicht zur Behandlung des Patienten, der hinter dem Vorhang von Magdalene Dressler betreut wird. Für den 77-Jährigen ist nach einem Gespräch mit seinen Angehörigen bei der Übergabe durch die Stationsärzte eine »terminale Sedierung« mit Morphium verfügt worden, der Mann soll wenigstens schmerzfrei sterben dürfen. Von einer weiteren Medikamentengabe sieht man darum ab. Das weiß auch Magdalene Dresslers Kollege, der keine drei Meter entfernt hinter dem milchigen Vorhang steht und sich wundert. Kurz darauf registriert er auf dem zentralen Monitor den extrem fallenden Blutdruck des Patienten. »Brauchst du Hilfe?«, fragt er seine Kollegin. Doch sie verneint, der Mann dürfe doch sterben, habe es in der Besprechung mit den Ärzten geheißen. Was Magdalene Dressler nicht sagt, ist, dass sie diesen Zeitpunkt durch die Gabe eines blutdrucksenkenden Mittels eigenmächtig vorverlegt hat.

Ihrem Kollegen kommt die Sache höchst merkwürdig vor. Er nimmt die Ampulle an sich und verwahrt sie in seinem Spind. Am Abend bei der Dienstübergabe berichtet er zwei anderen Pflegern von diesem überaus mysteriösen Vorfall, bittet sie jedoch, nichts davon zu erzählen, er wolle selbst erst einmal darüber nachdenken. Zweieinhalb Wochen darauf fährt der Zeuge in den Urlaub. Unterdessen ist dieser Sterbefall als »natürlicher Tod« zu den Akten gelegt worden. Und dabei bleibt es. Denn der Ohrenzeuge lässt die Sache auch nach seiner Rückkehr auf sich beruhen.

Die Arbeit auf der Station 109 b ist durch ein duales System gekennzeichnet, das eine bestimmte Hierarchie vorgibt: hier die privilegierte Ärzteschaft, dort das unterprivilegierte Pflegepersonal. Das steht zwar nirgendwo geschrieben, und es würde auch niemand so formulieren, doch handhabt man es trotzdem so. Der Klinikleiter schätzt die Kommunikation auf der Station insgesamt als hervorragend ein und nimmt an, dass alle Mitarbeiter miteinander befreundet seien und dieses »team of excellence« engagiert zusammenarbeite in dem Wissen um Anerkennung, hohe Erfolgsquoten und schwarze Zahlen. Dabei gibt es zum Teil gravierende Störungen in der Verständigung der Ärzte untereinander, vor allem aber zwischen Ärzten und Pflegern. Und im Mittelpunkt dieses Dilemmas steht Magdalene Dressler, die, obwohl sie immer wieder verhaltensauffällig wird, von der unausgesprochenen Vereinbarung des Pflegepersonals profitiert, die Kollegen nicht an die Ärzte zu verpetzten. So bleibt sie auch weiterhin unbehelligt, obwohl offenkundig ist, dass mit ihr etwas nicht stimmt.

19. September 2006:

Eine 48-jährige Patientin leidet seit Jahren an einer schweren Herzmuskelschwäche und ist daher vor einiger Zeit von ihrer Hausärztin ins Krankenhaus überwiesen worden. Die bisherige Therapie ist wechselweise auf der Intensivstation und auf der normalen Station erfolgt. Nach einem Treppensturz hat sich der Zustand der Frau so verschlechtert, dass die vorgesehene Behandlung nicht mehr in Betracht kommt. Diesen Umstand besprechen die Ärzte mit ihr und ihrem Mann, woraufhin die Patientin den Wunsch äußert, dass man nur noch eine medikamentöse Behandlung durchführen und sie lieber in ihr Heimatkrankenhaus verlegen solle.

An diesem Tag ist Magdalene Dressler für die Patientin zuständig. Nach Dienstantritt überzeugt sie den Ehemann davon, einen späteren Zug als den geplanten zu nehmen. Nachdem sich der Mann wieder zu seiner Frau ans Bett gesetzt hat, geht Magdalene Dressler zum Medikamentenschrank, entnimmt ein blutdrucksenkendes Mittel und spritzt es der Frau, deren Blutdruck daraufhin rapide absinkt. Das kurz darauf ertönende akustische Alarmsignal blockiert Magdalene Dressler kurzerhand. Erst etwas später informiert sie den Oberarzt, der schließlich nur noch den Tod der Patientin feststellen kann. Auch diese vorsätzliche Tötung wird von ärztlicher Seite als »natürlicher Tod« eingestuft.

In den nächsten Tagen wirkt Magdalene Dressler regelrecht ausgebrannt und erscheint nicht mehr so belastbar wie früher. Immer öfter beobachten die Kollegen, wie sie sich den Patienten gegenüber unangemessen verhält: Mal dreht sie einen älteren Herrn ausgesprochen unsanft um, mal zieht sie eine Frau an den Haaren, dann hört man sie nach dem Tod eines Patienten schallend lachen. Einem jungen Mediziner, der als Assistenzarzt auf die Station gekommen ist, um das Reanimieren zu lernen, hält sie vor, dass er sich gegen die Gesetze Gottes und den Tod auflehne. Mittlerweile weiß jeder aus dem Team von einer solch befremdlichen Begebenheit zu berichten, doch noch immer will niemand mit Magdalene Dressler darüber sprechen, auch ihre Vorgesetzten nicht. Man befürchtet nämlich, dass die Zurechtweisung dieser verdienten Mitarbeiterin als Mobbing ausgelegt werden könnte.

26. September 2006:

Magdalene Dressler betreut heute einen Patienten, der schon seit mehreren Wochen auf der Intensivstation ist. Der 52 Jahre alte Mann leidet unter einer Psychose und hat eine defekte Aortenklappe. Schon wiederholt ist es bei diesem Patienten zu dramatischen Blutdruckeinbrüchen gekommen. Dasselbe passiert kurz nach Mitternacht. Durch die niedrig dosierte Gabe des Medikaments »Dormicum« kann der Blutdruck jedoch wieder aufgefangen werden. Gegen 1.45 Uhr kommt es erneut zu einer kritischen Situation, und die diensthabende Ärztin ordnet die medikamentöse Reanimation mithilfe von kreislaufbeschleunigenden Mitteln an. Im Zuge dieser Rettungsmaßnahmen spritzt Magdalene Dressler dem Patienten unbemerkt die Überdosis eines stark blutdrucksenkenden Medikaments. Sein Zustand verschlechtert sich danach erheblich. Aufgrund der eingeschränkten Prognose für den Todkranken verzichten die Ärzte nach einer Diskussion auf weitere Reanimationsmaßnahmen. Der Tod tritt um 2.40 Uhr ein. Auch diese Tat bleibt ungesühnt, weil scheinbar wieder ein »natürlicher Tod« vorliegt.

Die ungewöhnliche Häufung von Todesfällen immer dann, wenn Magdalene Dressler Dienst hat, fällt schließlich sowohl den Pflegern als auch den Ärzten auf. Und dann ist da noch dieses böse Gerücht, dass die Kollegin eine Ampulle in den Abfalleimer geworfen habe, während der Patient, an dessen Bett sie gestanden habe, gestorben sei. Endlich fasst sich der Pfleger, der die höchst verdächtige Beobachtung gemacht hat, ein Herz und informiert die Stationsschwester. Die verspricht, mit dem Stationsarzt zu reden. Der wiederum glaubt dem Gerede nicht recht, versichert aber, mit dem Chefarzt zu sprechen, macht seine Ankündigung jedoch nicht wahr. Dafür hinterlässt er im Sekretariat die Nachricht, sich mit seinem Chef in wichtiger Angelegenheit austauschen zu wollen. Wegen anderer bedeutsamer Dinge und wiederholter Abwesenheit des Chefarztes kommt diese Unterredung indes nicht zustande.

2. Oktober 2006:

Ein Patient mit Lungenkrebs im Endstadium ist vor einer Woche auf die Intensivstation verlegt worden, nachdem schwere Herzrhythmusstörungen aufgetreten sind. Magdalene Dressler soll sich während ihrer Schicht um ihn kümmern. Der Allgemeinzustand des 62-Jährigen hat sich von Tag zu Tag verschlechtert. Er ist zunehmend desorientiert und bekommt eine Ernährungstherapie, Schmerz- und Herzmedikamente. In den Nachtstunden kommt es zu Blutdruckabfall und akuter Atemnot, die Nieren versagen. Weil der Patient wenige Tage zuvor, als er noch geistig rege gewesen ist, ausgesprochen hat, dass er keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünsche und insbesondere nicht an organersetzenden Geräten sterben wolle, setzen ihn die Ärzte während der Frühschicht unter hochpotente Schmerzmittel. Sie gehen davon aus, dass der Mann nicht mehr lange zu leben hat. Um 7 Uhr geht Magdalene Dressler zum Medikamentenschrank, zieht ein blutdrucksenkendes Mittel auf und injiziert es dem Patienten, der kurz darauf stirbt. Auch dieser Sterbefall wird als »natürlicher Tod« behandelt.

Zwei Tage später wird der Klinikleiter endlich über den Serienmordverdacht und die unmittelbaren Beobachtungen des Pflegers in dem länger zurückliegenden Fall informiert. Nach Rücksprache mit weiteren Verwaltungsvorgesetzten zieht er die Kripo ins Vertrauen. Kurz darauf wird die Verdächtige festgenommen. Magdalene Dressler streitet zunächst alle Vorwürfe ab. Dann aber bricht sie zusammen, weint hemmungslos und sagt, ihr Leben sei nun zu Ende. In den nächsten Stunden gesteht die Frau einen Teil der von ihr verübten Patiententötungen. Ihre Begründung: »Ich habe die Todkranken sanft woandershin gebracht. Es tut mir leid, aber bereuen tue ich es nicht. Ich würde es wieder so machen.« Schließlich hat sich Magdalene Dressler »als Mitwirkende eines göttlichen Willens« gesehen, den sie jeweils erkannt haben will – die Taten seien »eine Eingebung von Gott« gewesen.