Ein Knall und zwei Kugeln

Ermittlungszeitraum: August–September 1964

Es ist 10.10 Uhr, als ein Beamter des 1. Kriminalkommissariats in Bochum den Anruf eines Oberarztes aus dem Knappschaftskrankenhaus in Langendreer entgegennimmt. Der Mediziner teilt mit, dass vor anderthalb Stunden ein Mann eingewiesen worden sei, der eine Schussverletzung im Gesicht habe.

Eine Viertelstunde später stellt man den Beamten Fritz Burghard vor, noch auf einer Trage liegend, aber bei vollem Bewusstsein. Seine Verletzungen bezeichnet der behandelnde Arzt als schwerwiegend, aber nicht lebensgefährlich. Den Beamten wird der erste Untersuchungsbefund vorgelegt. »Li. Augapfel zerstört«, heißt es darin. »Über dem li. Auge, am äußeren Ende der Augenbraue, sternförmige Verletzung ca. 2 x 2 mm. An der re. Wange (Unterkiefer) 2 kreisrunde Verletzungen von ca. 7 und 9 mm Ausmaß. Offensichtlich Schussverletzung.«

Auskunft darüber, wie die Sache passiert ist, erhalten die Beamten von Fritz Burghard selbst, der mit Zustimmung der Ärzte angehört werden kann. Der 43-jährige Gebrauchtwagenhändler und Schlosser betreibt in Dortmund eine kleine Firma mit Reparaturwerkstatt und berichtet folgendes Tatgeschehen: »Ich war heute Morgen zusammen mit meinem Monteur Franz Vosselt auf einer Fahrt nach Bochum. Dort wollten wir einen Mann besuchen, der meinem Monteur einen neuwertigen VW 1500 zum Spottpreis von 1500 Mark angeboten hatte. Wir fuhren mit meinem Fiat 500, der Franz saß vorne neben mir. Kurz vor Werne hat mich der Franz in einen Feldweg eingewiesen, eine Abkürzung. Dieser Feldweg war so schlecht und holprig, dass wir nur sehr langsam fahren konnten. Plötzlich fiel ein Schuss, und ich bemerkte, dass ich am Kopf verletzt war.

Ich habe geschrien, den Wagen abgebremst und mich herausfallen lassen. Der Franz hat die rechte Wagentür aufgerissen und ist auch rausgesprungen. Wir sind sofort in Deckung gegangen und haben uns flach auf den Boden gelegt – es hätte ja sein können, dass man wieder auf uns schießt. Dann lief mir Blut aus dem Mund, und ich habe so ein Metallstück ausgespuckt.«

Außerdem berichtet Fritz Burghard, dass das Faltdach während der Fahrt vollständig geöffnet gewesen sei, die Seitenfenster jedoch nicht. Personen, die als Schütze oder Zeugen infrage kommen könnten, habe er nicht gesehen. Nur seinem Monteur seien kurz vor der Schussabgabe zwei Männer aufgefallen, die etwa 100 Meter weiter in einem Graben neben einem Neubau geständen hätten.

»Als der Franz bemerkt hat, dass ich stark blute, ist er sofort losgelaufen, um Hilfe zu holen«, erzählt der Verletzte. »Ich habe mich dann in meinen Wagen gesetzt, gewendet und bin dem Franz langsam hinterhergefahren. Wenig später habe ich ihn eingeholt, und der Franz hat sich ans Steuer gesetzt. Auf kürzestem Weg sind wir hierher ins Krankenhaus gefahren. Der Franz hat die Sache, so wie ich sie dem Arzt erzählt habe, bestätigt. Dann ist er mit dem Wagen zu mir nach Hause gefahren, um meine Frau abzuholen.«

Nachdem Fritz Burghard seine Geschichte erzählt hat, treffen seine Frau und Franz Vosselt ein, der den beschossenen und sicher auch blutverschmierten Fiat in der Werkstatt gelassen und für die Rückfahrt einen anderen Wagen benutzt hat. Während Fritz Burghard für die Operation vorbereitet wird, fahren die Kommissare mit Franz Vosselt zum Tatort, um an Ort und Stelle den Tathergang zu rekonstruieren. Kurz vor dem Bochumer Ortsteil Werne zweigt ein Feldweg ab, der zur Schachtanlage »Robert Müser« führt. Nach 120 Schritten stoßen die Beamten an der linken Seite des Weges auf einen Baum, der auf einer etwa zwei Meter hohen Böschung steht und dessen Krone herausgebrochen ist, vermutlich nach einem Blitzschlag. Die Kommissare glauben allerdings nicht, dass von diesem Baum auf den Wagen von Fritz Burghard geschossen wurde. Doch auch sonst findet sich keine offene oder verdeckte Örtlichkeit, von der aus die Tat verübt worden sein könnte.

Dort, wo Fritz Burghard aus dem Wagen gesprungen ist und Deckung gesucht hat, können die Beamten zahlreiche Blutspritzer erkennen. Und in einer kleineren Blutlache entdecken sie schließlich ein leicht deformiertes Projektil, Kaliber 5,6 Millimeter. Zudem können sie die Stelle ausfindig machen, an der Franz Vosselt gelegen hat. Dort liegt ein Bakelitknopf.

Franz Vosselt erzählt den Beamten während der zweistündigen Tatortbegehung, wie sich die Sache aus seiner Sicht zugetragen hat. Die Angaben des Zeugen decken sich im Wesentlichen mit denen des Verletzten. Es gibt nur einen einzigen Widerspruch, der allerdings bedeutsam ist: Wenn es nach Franz Vosselt geht, waren beide Seitenfenster während der Fahrt heruntergekurbelt. Sein Arbeitgeber hat jedoch vor Kurzem genau das Gegenteil behauptet.

Die Kommissare gehen auch zu dem Wassergraben, wo nach Aussage von Franz Vosselt zwei Männer gestanden haben. Allerdings kann der Schuss von diesem Standort aus keinesfalls abgefeuert worden sein, stellen die Kripobeamten fest. Schließlich befragen sie im erweiterten Tatortbereich noch mehrere Zeugen, die sie in ihren Häusern antreffen und die übereinstimmend aussagen, zur Tatzeit einen Schuss gehört zu haben, und zwar aus Richtung des Feldwegs.

Nachdem die Tatortbesichtigung abgeschlossen ist, fahren die Ermittler und Franz Vosselt in die Werkstatt des Opfers. Dort wird der Fiat 500 in Augenschein genommen. Im Inneren des Wagens befinden sich zahlreiche Blutspuren, deren Form und Lage jedoch zu unspezifisch sind, um weitere Schlussfolgerungen zu ziehen. An der Innenseite der linken Tür, fast mittig zum oberen Rand, erkennen die Beamten eine kleine Delle, die frisch zu sein scheint und durchaus von einem Projektil stammen könnte. Die Ermittler vermuten, dass das Geschoss von rechts unten auf den Türrand aufgeschlagen und dort abgeprallt sei.

Das Projektil kann aber trotz intensiver Suche nicht im Wagen gefunden werden. Dagegen gelingt der Nachweis, dass der am Tatort sichergestellte Bakelitknopf zur Drehkurbel des rechten Wagenfensters passt und wahrscheinlich aus der Verankerung herausgerissen wurde, als Franz Vosselt aus dem Fiat gesprungen ist. Der Knopf war auf einem zwei Millimeter starken Stahlstift befestigt, der etwa vier Millimeter aus der Halterung herausgeragt hat. Später wird ein Arzt erklären, dass sich Fritz Burghard die kreisrunden Verletzungen in Höhe des Unterkiefers während der Rückfahrt zugezogen haben könnte, indem er mit der rechten Gesichtshälfte auf den genannten Stahlstift geprallt sei.

Fritz Burghard wird nochmals vernommen und erzählt, dass Franz Vosselt zum Zeitpunkt der Schussabgabe ruhig neben ihm gesessen und sich genauso erschreckt habe wie er selbst, als er von der Kugel getroffen worden sei. »Ich bin mir zu 100 Prozent sicher«, ergänzt der Mann mit Nachdruck, »dass der Knall von außerhalb des Wagens kam.«

Drei Tage nach der Tat liegt das Gutachten des Augenarztes vor. Darin heißt es unter anderem: »Die Untersuchung ergab eine kleine tief reichende Hautwunde von etwa 5 mm Ausdehnung an der äußeren Augenbraue des li. Auges. Der li. Augapfel war schläfenwärts abgerissen und weitgehend zerstört. Weiterhin zeigte sich eine tiefe Verletzung im knöchernen Gaumen sowie zwei tiefe Hautwunden am re. Kieferwinkel. Nach dem klinischen Bild kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der Schuss am li. oberen Rand der Augenhöhle eingetreten ist. Das total zerstörte li. Auge musste am Aufnahmetag entfernt werden.«

Aus dem Gutachten ergeben sich für die Mordkommission zwei besonders relevante Erkenntnisse: Das Projektil ist aus Nahdistanz abgefeuert worden, und der Schütze muss durch das linke Seitenfenster geschossen haben. Wahrscheinlich hat sich der durch den Damm gut gedeckte Täter herangeschlichen und gefeuert, als der Wagen sehr langsam gefahren ist. Um diese Tatversion zu verifizieren, wird das Geschehen nochmals an Ort und Stelle rekonstruiert. Allerdings beharrt Fritz Burghard darauf, dass das linke Seitenfenster geschlossen war. Wenn sich der Mann nicht doch geirrt hat, kann der Schuss nicht von außen in das Fahrzeug eingedrungen sein, da sonst Beschädigungen des Seitenfensters vorhanden gewesen wären.

Schlagartig gerät Franz Vosselt ins Visier der Ermittler. Die Mordkommission findet heraus, dass der wegen Eigentumsdelikten erheblich Vorbestrafte zwei Tage vor der Tat nachts aus der Werkstatt seines Chefs vier Kraftfahrzeugbriefe und eine Schreibmaschine gestohlen hat. Die Fahrzeugpapiere hat er später einem Gläubiger übergeben und diesem versprochen, die Schulden schon am nächsten Tag zu begleichen. Genau an diesem Tag ist auf Fritz Burghard geschossen worden. Außerdem stellt sich heraus, dass der VW 1500, der in Bochum abgeholt werden sollte, gar nicht existiert. Schließlich erfahren die Fahnder noch, dass sich Franz Vosselt kürzlich eine Schusswaffe besorgt hat.

Während sich die Kripo auf diesen Mann als Verdächtigen einschießt, erreicht sie ein weiteres medizinisches Gutachten, das eine böse Überraschung bereithält. Demnach ist Fritz Burghard nämlich nicht nur von einem Projektil, sondern von zwei Kugeln getroffen worden. Abermals wird der Fiat 500 untersucht, diesmal gründlicher. Schließlich haben die Experten für Spurensicherung Erfolg und finden im Boden des Wagens vor dem Fahrersitz ein stark deformiertes Projektil vom Kaliber 9 Millimeter, an dem noch Blutpartikel kleben. Dieses Geschoss muss also zunächst in den rechten Unterkiefer des Opfers eingedrungen und durch das linke Auge wieder ausgetreten sein, hat dann den Türrahmen getroffen, ist dort abgeprallt und in den Boden eingedrungen. Das am Tatort zuvor schon sichergestellte Projektil muss dagegen nach Durchdringen des linken Unterkiefers im Mundraum hängen geblieben und später von Fritz Burghard ausgespuckt worden sein. Diese Annahme passt auch zu seiner Aussage, er habe nach der Schussabgabe etwas Metallisches geschmeckt.

Unverständlich bleibt jedoch, warum Fritz Burghard nur einen Knall gehört hat, wo doch mit Sicherheit zweimal auf ihn geschossen wurde. Doch auch dieser Widerspruch kann schnell aufgelöst werden, als die Tatwaffe in Franz Vosselts Wohnung gefunden wird: Es handelt sich um eine pistolenähnliche doppelläufige Waffe mit dem Kaliber 5,6 Millimeter und 9 Millimeter, zusammengesetzt aus den Einzelteilen eines doppelläufigen Flobertgewehrs, die zwei Schüsse gleichzeitig abfeuern kann.

Nach Abschluss der Ermittlungen – Franz Vosselt hat unterdessen ein Geständnis abgelegt – herrscht endlich Klarheit: Neun Monate vor der Tat hat Franz Vosselt eine anderthalbjährige Gefängnisstrafe verbüßt und wird entlassen. In der nächsten Zeit hält er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, bis er bei Fritz Burghard eine feste Anstellung findet. Endlich kann er über ein regelmäßiges Einkommen verfügen, wird wieder kreditwürdig und kauft sich auf Pump einen neuen Wagen. Die ohnehin schon hohen Schulden des Mannes vergrößern sich.

Um sein Einkommen zu steigern und seine Schulden abzutragen, vertreibt Franz Vosselt nebenher Teppiche für einen Textilkaufmann. Der stellt jedoch schon nach kurzer Zeit fest, dass die Abrechnungen nicht stimmen, und prüft die Geschäftsunterlagen bei einem unangekündigten Besuch bei seinem neuen Mitarbeiter persönlich. Franz Vosselt muss schließlich zugeben, die Firmengelder für sich verbraucht zu haben. Der Ertappte verspricht, die delikate Angelegenheit in Kürze zu regeln. Falls er nicht zahlen könne, wolle er seinem Gläubiger mehrere Pkws, die angeblich ihm gehören, überschreiben.

Als er die versprochenen Zahlungen nicht leistet, droht der Textilkaufmann mit einer Strafanzeige. Franz Vosselt besorgt sich daraufhin bei einem ehemaligen Knastkumpel im Tausch gegen Teppiche ein doppelläufiges Flobertgewehr. In den nächsten Tagen findet er in Fritz Burghards Werkstatt Gelegenheit, den Lauf des Gewehrs zu verkürzen, den Kolben abzusägen und ein kleineres Handstück anzubringen. Die verkürzte Waffe hat nun eine Länge von 25 Zentimetern. Nachdem Franz Vosselt einige Schießübungen erfolgreich absolviert hat, kommt er auf die Idee, Fritz Burghard zu töten und zu berauben, denn der führt häufiger größere Geldbeträge bei sich. Und so erfindet Franz Vosselt die Geschichte vom günstigen Angebot des VW 1500.

Schließlich ist der Tag gekommen. Franz Vosselt kann indes nicht wissen, dass sein Chef, als sie die Fahrt nach Bochum antreten, die Brieftasche im Büro vergessen hat und gar kein Geld dabeihat. Franz Vosselt kennt die Fahrtstrecke sehr gut, und es gelingt ihm, Fritz Burghard in immer einsamere Gegenden zu manövrieren. Schon seit Beginn der Fahrt hält Franz Vosselt die Waffe unter seinem Overall versteckt. Als der Untergrund immer schwieriger zu befahren ist und Fritz Burghard sich voll und ganz auf den überaus holprigen Feldweg konzentrieren muss, richtet sein Mitarbeiter die Waffe auf ihn. Dann drückt Franz Vosselt ab.

Weil Fritz Burghard aber weder tödlich verletzt ist noch bewusstlos wird, ist Franz Vosselt kurze Zeit ratlos. Doch er improvisiert schnell und stellt sich auf die neue Situation ein, als klar wird, dass sein Opfer nicht realisiert, wer geschossen hat. Franz Vosselt behauptet deshalb, unmittelbar vor der Schussabgabe zwei Grabenarbeiter gesehen zu haben, die wohl als Schützen infrage kommen. Sein Opfer nochmals zu attackieren, traut sich Franz Vosselt nicht. Vielmehr täuscht er Hilfsbereitschaft vor, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Und so endet dieser hinterhältige Mordversuch, wie er begonnen hat – mit einem Irrtum.