Ermittlungszeitraum: Juni 1948
Vor dem Schöffengericht wird unter dem Aktenzeichen 120 Js 1754/56 gegen eine Frau verhandelt, der »Misshandlung Pflegebefohlener« vorgeworfen wird. Der Staatsanwalt spricht in seinem Plädoyer von »einem ungewöhnlichen Bild menschlicher Niedertracht und Bosheit«. Folgenden Tatbestand sieht der Anklagevertreter als bewiesen an:
Vor einem Jahr tritt Maria Gottschling ihre Stelle als Pflegerin bei Familie Lewandowski an. Katharina Lewandowski leidet an einer unheilbaren Nervenkrankheit und wird in den nächsten Monaten sterben, das jedenfalls haben ihre Ärzte prognostiziert.
Nach kurzer Zeit kommen sich Maria Gottschling und der Ehemann Lutz Lewandowski näher. Die 39-jährige Pflegerin verdreht dem rüstigen Rentner den Kopf und geht mit ihm ins Bett. Gegenüber der kranken Ehefrau macht sie keinen Hehl aus der Liebschaft, sie beleidigt die ans Bett gefesselte Frau fortwährend und schlägt sie sogar, wenn sie einen Wunsch äußert. Maria Gottschling führt sich als Hausherrin auf und bestimmt fortan rigoros den Lauf der Dinge. Wenn jemand nicht pariert, wird sie zur Furie. Lutz Lewandowski widerspricht der Frau grundsätzlich nicht und fügt sich, er will es sich mit seiner neuen Gespielin nicht verderben. Diese Missstände und Missbrauchstatbestände kommen erst heraus, als den Nachbarn die Verletzungen und Narben im Gesicht und an den Armen der Sterbenskranken auffallen und sie der Polizei einen Hinweis geben.
Maria Gottschling bestreitet vor Gericht all das, was nicht bewiesen werden kann, und bagatellisiert jene Vorwürfe, die unwiderlegbar sind. So entsteht das Bild einer barmherzigen Samariterin, die in ihrer seelischen Not und körperlichen Überforderung auch einmal Schwäche gezeigt hat, der zwar die Hand ausgerutscht ist, aber nur, wenn sie von Katharina Lewandowski provoziert und erniedrigt worden ist. Überhaupt sei die Pflegebedürftige von Beginn an grundlos eifersüchtig gewesen, was sie, die Angeklagte, als sehr belastend und ärgerlich empfunden habe.
Zudem weist Maria Gottschling auf ihr schweres Schicksal hin: Im Krieg habe sie ihren Ehemann und die drei Kinder bei einem Flugzeugbombardement verloren. Sie selbst sei bei einem Luftangriff in Berlin verschüttet, schwer verletzt und später nach Russland verschleppt worden. Dort habe man sie in einem Zwangsarbeiterlager immer wieder geschlagen, gefoltert und vergewaltigt. Erst nach eineinhalb Jahren sei sie freigekommen. Zum Beweis für die körperlichen Misshandlungen und die Verschüttung zeigt die Frau unaufgefordert einige Narben vor, die tatsächlich von großem Leid zeugen.
Das Gericht berücksichtigt diese besonderen Umstände im Leben der Angeklagten strafmildernd und verhängt eine fünfmonatige Gefängnisstrafe. Zusätzlich ordnet man an, dass sich Maria Gottschling von der Wohnung der Lewandowskis fernzuhalten hat. Gegen dieses Urteil legt der Staatsanwalt Berufung ein, nachdem sich kurz nach der Urteilsverkündung ein Zeuge gemeldet und ausgesagt hat, die tragische Lebensgeschichte der Verurteilten sei größtenteils frei erfunden. Die Ermittlungen werden wieder aufgenommen und bestätigen diesen Verdacht: Maria Gottschling ist zu Kriegszeiten weder verheiratet gewesen noch hat sie auch nur ein Kind zur Welt gebracht, und ein russisches Internierungslager kennt sie nur vom Hörensagen. Doch zu einer Berufungsverhandlung gegen die fantasiebegabte Frau kommt es nicht mehr.
Denn zwei Tage vor dem Gerichtstermin wird Maria Gottschling tot in ihrer kleinen Einraumwohnung aufgefunden. Der Tatortbefund: Die Tür ist verschlossen, der Schlüssel liegt außerhalb des Zimmers auf einem Tisch im Hausflur; die Leiche ist nur mit einem Nachthemd bekleidet und liegt auf dem Bett; über Mund und Nase hat jemand ein Taschentuch gelegt; in der verkrampften linken Hand der Toten befindet sich ein Stück eines Schlipses; Spermaspuren auf dem Bettlaken lassen annehmen, dass Maria Gottschling kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hat; neben einem Sessel finden Kriminalbeamte ein Herrensporthemd mit dem eingenähten Monogramm »L. L.«; auf dem Tisch stehen eine halb geleerte Flasche Portwein, zwei erkennbar benutzte Weingläser und ein Aschenbecher mit mehreren Zigarettenkippen und einem Zigarrenstummel darin; unter dem Sofa liegt eine leere Verpackung des hochgiftigen Pflanzenschutzmittels E 605. Trotz gründlicher Absuche des im ersten Stock gelegenen Zimmers kann kein zweiter Wohnungsschlüssel gefunden werden.
Dafür stoßen die Beamten auf einen Brief der Toten, in dem es heißt: »Falls mir etwas zustoßen sollte: Lutz Lewandowski hat das Ende unserer Beziehung nicht verwunden. Er stellt mir häufig nach. Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht wünsche. Er hat nur dreckig gelacht. Ich will mit diesem Typ nichts mehr zu schaffen haben. Er hat sogar gedroht, mich umzubringen, wenn ich mich nicht gefügig zeige. Der Mann hat auch meinen Wohnungsschlüssel einfach mitgenommen. Ich fürchte mich vor ihm. Wenn mir etwas passiert, dann war es Lutz Lewandowski.«
Die rechtsmedizinischen Untersuchungen belegen zweifelsfrei, dass Maria Gottschling keines natürlichen Todes gestorben ist. In einem der Weingläser aus der Wohnung des Opfers können Reste von Thiophosphorsäure nachgewiesen werden, die wiederum von Parathion herrühren, dem wesentlichen Wirkstoff von E 605. Parathion ist eine farblose und nahezu geruchlose toxische Flüssigkeit, die in den Handel kommende technische Verbindung ist gelb bis braun mit einem stechend knoblauchartigen Geruch. Auch die festgestellte Todesursache passt zu diesem Befund. Demnach ist Maria Gottschling eine tödliche Dosis des »Schwiegermuttergifts« verabreicht worden, wobei es nach zunächst stundenlangen und überaus schmerzhaften Krämpfen der Skelettmuskulatur über Herzkammerflimmern zur finalen Lähmung der Atemmuskulatur und der Rachen-Zungen-Muskulatur gekommen ist – ein äußerst qualvolles Sterben.
Der Mordverdacht gegen Lutz Lewandowski ergibt sich aus dem Tatortbefund und den Ermittlungen zu seinen Lebensgewohnheiten. Das im Zimmer des Opfers gefundene Herrensporthemd stammt nachweislich genauso wie das Stück des Schlipses in der Hand der Toten aus seinem Besitz. Der Verdächtige ist Zigarrenraucher und trinkt gerne Portwein. Zudem hat der Mann kein Alibi, und es melden sich Bekannte des Opfers bei der Mordkommission, die berichten, dass sie von Maria Gottschling einen Brief erhalten haben, in dem die Frau von ihrer Angst vor Lutz Lewandowski schrieb. Daneben existiert noch ein anonymes Schreiben, in dem mitgeteilt wird, dass Lutz Lewandowski dabei beobachtet worden sei, das spätere Opfer verfolgt und bei anderer Gelegenheit mit den Worten bedroht zu haben: »Wenn du nicht zu mir zurückkommst, bringe ich dich um!«
Bevor die Kripo den Mordverdächtigen vernimmt, werden Nachforschungen über das Opfer angestellt. Es wäre schließlich fahrlässig, diese möglicherweise entscheidende Erkenntnisquelle außer Acht zu lassen, zumal die Vergangenheit dieser Frau gut dokumentiert ist – bei der Berliner Polizei existiert noch eine dicke Kriminalakte. Maria Gottschlings Eltern waren demnach ärmliche Bauersleute in einem Dorf in Westpreußen. Sie selbst fand das Leben in der Provinz zu langweilig und ging als 17-Jährige nach Berlin. Dort arbeitete die attraktive junge Frau heimlich als Prostituierte in einem großzügig eingerichteten Appartement. Ihre Einkünfte steigerte sie dadurch, dass sie ihre Freier regelmäßig beklaute und erpresste. Nach mehreren Verurteilungen wurde sie als »gefährliche Großstadtdirne« aus Berlin verbannt.
Um wieder in ihre Wahlheimat zurückkehren zu können, heiratete sie einen Bergarbeiter, dem die wahren Absichten seiner Frau zunächst verborgen blieben. Als sie schließlich ihr echtes Gesicht zeigte, ließ der Mann sich scheiden. Maria Gottschling ging danach zahlreiche Beziehungen ein und beutete ihre Partner regelmäßig aus – mehrere Männer nahmen sich daraufhin das Leben. Vor Ende des Zweiten Weltkriegs setzte sie sich nach Bayern ab. Dort kam sie bei einem Arztehepaar unter, das mit einer führenden Persönlichkeit aus der Hitlerzeit befreundet war. Auch aus diesem Umstand versuchte Maria Gottschling Kapital zu schlagen und drohte den Leuten, sie werde eine Anzeige bei den Besatzungsbehörden aufgeben, falls ihre Forderungen – die Zahlung einer monatlichen »Rente« – nicht erfüllt werden sollten. Ihre Vermieter gingen darauf jedoch nicht ein und nahmen sich das Leben. Kurze Zeit später verließ Maria Gottschling Bayern und antwortete andernorts auf eine Zeitungsannonce, mit der Lutz Lewandowski nach einer Pflegerin für seine Frau suchte.
Aus der Vita dieser Femme fatale und ihren Lebensumständen vor ihrer Tötung lässt sich nur eine Person herausfiltern, die als Täter infrage kommen könnte: Lutz Lewandowski. Der Mann wird vernommen und sagt aus, er habe bereits seit einem Dreivierteljahr keinen Sex mit Maria Gottschling gehabt und in dieser Zeit auch ihre Wohnung nicht mehr betreten. Dagegen habe ihm die Frau regelmäßig Szenen gemacht und ihn übel beschimpft, wenn sie sich zufällig auf der Straße begegnet seien. Sie habe sogar andere Frauen zu ihm geschickt, um zu vermitteln und ihn zum Umdenken zu bewegen. Er sei jedoch nicht darauf eingegangen, schließlich habe er sich seiner Frau, die unterdessen gestorben sei, moralisch verpflichtet gefühlt. Das Vorhandensein des Herrensporthemds und des Teilstücks eines Schlipses in der Opferwohnung erklärt der Mann mit seiner früheren Anwesenheit. Die Kleidungsstücke seien dort liegen geblieben, er habe sich später nicht mehr darum gekümmert.
Der Mordkommission gelingt es nicht, den Verdächtigen zu einem Geständnis zu bewegen. Dafür können aber zwei Frauen ausfindig gemacht werden, die bestätigen, von Maria Gottschling als Vermittlerinnen zu Lutz Lewandowski geschickt worden zu sein. Schließlich kommt der Kripo ein altgedienter Kollege zu Hilfe, Kommissar Zufall. Ausgerechnet an denselben Bestattungsunternehmer, den die Ermittler vor einigen Tagen mit dem Abtransport der Leiche beauftragt haben, hat sich nämlich auch Maria Gottschling gewandt, genau zwei Tage vor ihrem Tod. Als der Bestatter durch die Zeitung von dem Mordverdacht erfährt, stellt er den Zusammenhang her und meldet sich bei der Kripo. In seiner Vernehmung gibt der Mann zu Protokoll, dass er mit der Frau über die Höhe von Beerdigungskosten verhandelt habe, angeblich für eine gute Freundin der Kundin, die schwer krank sei und jeden Tag sterben könne. Diese Freundin wolle eben auch solche Dinge vor ihrem Tod geregelt wissen und die Kosten für die Beerdigung vorab bezahlen, habe die Frau gesagt. Der Mann identifiziert kurz darauf die Leiche von Maria Gottschling als jene Kundin, die kürzlich zu ihm gekommen ist – um die Kosten für ihre eigene Beerdigung im Voraus zu übernehmen? Seltsam!
Weiter stellen die Fahnder fest, dass Maria Gottschling kurz vor ihrem Tod ihre gesamten Ersparnisse abgehoben und ihr Konto aufgelöst hat. Zudem hat sie an ihre Schwester ein Testament geschickt. Merkwürdig! Dann kommt noch heraus, dass Maria Gottschling einer Nachbarin gesagt hat, sie möge doch die Kripo verständigen, sollte ihr Wohnungsschlüssel auf dem Tisch im Hausflur gefunden werden. Wirklich komisch! Maria Gottschling muss nach Lage der Dinge tatsächlich fest damit gerechnet haben, in nächster Zeit zu sterben. Und die Mordkommission glaubt jetzt auch zu wissen, warum.
Denn bei der abschließenden Bewertung des Tatortbefunds haben bestimmte Details, die erst jetzt an Bedeutung gewinnen, neue Erkenntnisse gebracht. Dem Herrensporthemd ist nämlich anzusehen, dass es nach dem letzten Bügeln nicht getragen worden ist. Maria Gottschling könnte das Hemd also selbst auf den Sessel gelegt haben, um die Kripo glauben zu machen, Lutz Lewandowski sei es gewesen. Das Stück des Schlipses in der Hand der Toten ist nicht – und dies wäre bei einem Abwehrkampf zu erwarten gewesen – abgerissen, sondern glattrandig abgetrennt worden, wahrscheinlich mit einer Schere. Und anhand der Asche im Ofen hat man nachweisen können, dass der Rest des Schlipses in der Tatortwohnung verbrannt wurde. Vermutlich ist es auch kein Zufall gewesen, dass ausgerechnet Portwein auf dem Tisch gestanden hat, das alkoholische Lieblingsgetränk von Lutz Lewandowski. Und wenn Maria Gottschling den Eindruck erwecken wollte, dass sich ihr aufdringlicher Exliebhaber zur Tatzeit in der Wohnung aufgehalten hat, dann sollten im Aschenbecher auch die Reste jener Zigarrenmarke liegen, die der Mann bevorzugt. Und genau so ist es gewesen. Auf die Ermittler wirkt nun alles wie inszeniert. Dennoch will den Beamten nicht unbedingt einleuchten, dass eine lebenslustige und kerngesunde Frau wie Maria Gottschling freiwillig aus dem Leben geht und dabei einen Mord vortäuscht, nur um ihren Verflossenen posthum dieser Tat zu bezichtigen. Höchst ungewöhnlich!
Außerdem kann nicht alles am Tatort arrangiert worden sein, denn auf dem Bettlaken und in der Vagina der Frau sind Spermaspuren gefunden worden. Es muss demnach tatsächlich ein Mann in der Wohnung gewesen sein, der – und diese Version ist nach wie vor denkbar – mit Maria Gottschling Sex gehabt und sie anschließend vergiftet hat. Ist dieser Mann vielleicht doch Lutz Lewandowski? Oder ein Unbekannter, der zufällig auch Zigarrenraucher ist?
»Perfekter Mord mit kleinen Schönheitsfehlern« steht am nächsten Tag in der Zeitung. Der Bericht über den nicht alltäglichen Tod der Maria Gottschling, von der auch ein Foto abgedruckt wird, zeigt die gewünschte Wirkung. Bei der Mordkommission meldet sich aus freien Stücken Bernhard Graber und teilt mit, zur Aufklärung des Falls beitragen zu können. Der 38-jährige Versicherungsvertreter berichtet, er sei am Tatabend allein in einer Kneipe gewesen und habe reichlich Bier getrunken. Zu vorgerückter Stunde sei Maria Gottschling, die er vorher nicht gekannt habe, in das Lokal gekommen, habe sich ihm gegenüber an einen Tisch gesetzt und ihn schließlich durch entsprechende Gesten dazu animiert, zu ihr herüberzukommen. Sie habe sich als Vorsitzende Richterin am Landgericht vorgestellt, die nach einem langen und beschwerlichen Arbeitstag etwas Zerstreuung suchen würde.
Schon kurz darauf habe sie ihn zu sich in die Wohnung eingeladen. Die Frau habe ihn auf dem Weg dorthin ausdrücklich dazu aufgefordert, eine bestimmte Marke Zigarren zu kaufen, obwohl das gar nicht seine Sache sei. Sie habe ihm sogar das Geld dafür gegeben und gesagt, sie liebe es, wenn Zigarrenrauch durch ihre Wohnung wabern würde. Dort angekommen, habe Maria Gottschling ihn überaus freundlich mit Portwein bewirtet und schließlich darum gebeten, er möge doch eine Zigarre rauchen. Dann sei alles – merkwürdigerweise – sehr schnell gegangen: Maria Gottschling habe sich ausgezogen und ihn zum Geschlechtsverkehr ermuntert. Danach habe die Frau ihn schnell wieder loswerden wollen. Nur fünf Minuten nach dem unverhofften Schäferstündchen sei er gegangen. Beim Abschiednehmen habe ihm Maria Gottschling aber noch das Versprechen abgenommen, bloß niemandem etwas von dieser Sache zu erzählen, er würde sie andernfalls in große Schwierigkeiten bringen.
Damit ist der Fall klar, Maria Gottschling hat ihre Tötung vorgetäuscht und Selbstmord begangen. Weitere Nachforschungen ergeben als Grund für dieses ungewöhnliche Verhalten, dass sie durch ihre Schwester von den erfolgreichen Ermittlungen der Kripo zu ihren angeblich so dramatischen Kriegserlebnissen erfahren hat und sie deshalb in der Berufungsverhandlung mit einer wesentlich härteren Verurteilung rechnen musste, zumal sie vorbestraft war. Außerdem ist ihre Kriegsbeschädigtenrente gestrichen worden, nachdem man herausgefunden hatte, dass ihre Verletzungen von einem Autounfall stammten. Neben dem Verlust ihres Einkommens erwartete die Frau also auch noch eine empfindliche Gefängnisstrafe. Angesichts dieser Aussichtslosigkeit hat sie den Plan entwickelt, sich durch ihren Tod an ihrem ehemaligen Liebhaber zu rächen.