Ermittlungszeitraum: Juni 1953
Am späten Abend ist es plötzlich vorbei mit der dörflichen Ruhe, als in die Stille hinein ein an- und abschwellender Heulton dröhnt, der durch Mark und Bein geht. Dreimal ertönt das Alarmierungssignal der freiwilligen Feuerwehr in kurzen Abständen. Doch es ist kein Brand zu löschen, die Rettungskräfte werden in anderer Sache benötigt – ein 15-jähriges Mädchen ist nicht nach Hause gekommen, nach ihr muss unverzüglich gesucht werden, auch wenn es bereits dämmert.
Franka Görgens ist die Tochter des angesehenen Amtsrichters im Ort. Das Mädchen hat die elterliche Wohnung um 13.50 Uhr verlassen und hätte gegen 18 Uhr zurück sein sollen. Die Eltern schließen aus, dass die Tochter sich nur verspätet haben könnte. Franka gilt als überaus pünktlich und hat auch noch kein Interesse an Beziehungen zum anderen Geschlecht.
An der Suchaktion in den umliegenden Wäldern beteiligen sich neben der Polizei alle verfügbaren Feuerwehrleute und nahezu sämtliche erwachsenen Dorfbewohner. Etwa eine halbe Stunde später findet man an einer Weggabelung das rote »Westerheide«-Damenrad der Vermissten. Dass Franka ihr scheinbar achtlos abgelegtes Fahrrad dort freiwillig zurückgelassen haben könnte, erscheint fragwürdig. Die schlimmsten Befürchtungen der Suchkräfte werden zur Gewissheit, als kurz darauf in einem Gebüsch die Leiche des Mädchens gefunden wird.
Das Opfer liegt auf dem Rücken, die Arme sind seitlich ausgestreckt. Die Handflächen zeigen nach oben. Der Mund ist leicht geöffnet, und zwischen den Zähnen ist die Zungenspitze eingeklemmt. Die Augen sind geschlossen. Da der Slip des Mädchens bis zu den Füßen heruntergezogen ist, dürften sexuelle Motive bei der Tat eine Rolle gespielt haben. Um den Hals des Opfers hat der Täter einen Draht geschlungen. Bis auf eine kleine Kratzwunde am rechten Augenlid sind keine Verletzungen zu erkennen. Die Kripo geht aufgrund dieser Feststellungen davon aus, dass Franka Görgens erst sexuell missbraucht und anschließend mit dem Draht erdrosselt wurde.
Das Opfer dürfte einem ihm fremden Täter nicht ohne Gegenwehr zum Tatort gefolgt sein, dies würde weder der allgemeinen kriminalistischen Erfahrung entsprechen noch zur Persönlichkeit des Mädchens passen, schlussfolgert die Mordkommission weiter. Die Abzweigung des Waldwegs, der zur Leichenfundstelle führt, liegt außerdem in einer unübersichtlichen Kurve, sodass der Täter bei einer Gewaltanwendung jederzeit mit dem Auftauchen von unliebsamen Zeugen hat rechnen müssen. Daraus folgt: Täter und Opfer haben sich gekannt, und der Mörder hat den Tatort gezielt ausgesucht, weil er sich dort auskennt und den Personenverkehr einzuschätzen weiß.
Das Ergebnis der Obduktion bestätigt die Annahmen der Kripo. Franka Görgens ist tatsächlich erdrosselt worden, ohne sich ernsthaft gewehrt zu haben. Spuren einer Vergewaltigung sind auf den ersten Blick zwar nicht erkennbar, doch allein durch die Auswahl des Opfers – eines Mädchens – und durch die Manipulationen an dem Slip wird deutlich, dass die Tat zumindest eine sexuelle Einfärbung hat.
Zwei Tage nach dem Mord meldet sich bei der Kripo ein älteres Ehepaar, das in der Nähe des Tatorts Holz geschlagen und kurz nach 14 Uhr einen Mann beobachtet hat, der an der besagten Weggabelung mit seinem Fahrrad stehen geblieben ist und versucht hat, den Wald ausgerechnet dort zu durchqueren, wo kein Weg ist. Das spricht dafür, dass es sich bei dem Mann eventuell um den Täter gehandelt haben könnte. Deshalb wird die Beschreibung des Verdächtigen an die örtlichen und überregionalen Medien weitergegeben. Gesucht wird: ein zirka 40-jähriger Mann, schlank, 1,70 Meter groß, schmales und bleiches Gesicht, dunkelblonde Haare, glatt nach hinten gekämmt.
Dieser Mann soll einen dunkelblauen Anzug getragen haben und mit einem grünen Fahrrad eines französischen Herstellers unterwegs gewesen sein. Der Draht, das Tatwerkzeug, besonders die Schlingen und der Knoten, wird ebenfalls mit Foto veröffentlicht. Danach kommen aus der Bevölkerung viele Hinweise, die eine Aufstockung der Kommission erforderlich machen. Doch auch eine Woche später ist man dem Täter trotz des immensen Aufwands nicht näher gekommen.
Da der mutmaßliche Mörder gleich von zwei Zeugen gesehen wurde, entschließt sich die Kripo, von einem namhaften Künstler eine Plastik vom Gesicht des Gesuchten anfertigen zu lassen. Schließlich wird mit Unterstützung der Augenzeugen eine Büste modelliert, die dem Aussehen des Mörders möglichst nahekommen soll. Als das Werk vollendet ist, wird eine Fotografie davon an die Presse gegeben.
Wieder setzt eine Flut von Hinweisen ein. Die Ermittlungen müssen deswegen immer weiter ausgedehnt werden, auch auf Regionen, in denen die Kripo den Täter eigentlich nicht vermutet. Denn nach wie vor gehen die Ermittler davon aus, dass der Mörder aus dem näheren Einzugsgebiet der Tatortgemeinde kommt oder Bezüge dorthin hat. Um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, wird eine Belohnung von 100.000 Mark ausgesetzt, eine außergewöhnlich hohe Summe.
Am Tag elf der Ermittlungen wird in der Nachbargemeinde um die Mittagszeit ein Mann festgenommen, der zuvor in den Straßen besonders dreist gebettelt hat und der Büste des Mörders sehr ähnlich sieht. Es handelt sich bei dem Verdächtigen um Gregor Walther, 24 Jahre alt, wohnsitzlos, berufslos, arbeitslos. Der Mann stammt aus Schlesien und macht auf die Beamten einen leicht verwirrten Eindruck, so als ob mit ihm etwas nicht stimmen würde. Es gibt weder Straf-, Polizei- noch Patientenakten über diesen komischen Kauz, der einerseits sehr vertrauensselig wirkt, andererseits aber auch merkwürdig entrückt und geistesabwesend erscheint – wie jemand, dem der Bezug zur Realität nicht immer gelingt.
Als Gregor Walther nach seinem Alibi gefragt wird, antwortet er, dass er sich etwa gegen 14 Uhr an einem Waldweg ausgeruht habe, wo ihm ein Mädchen begegnet sei, das ein Fahrrad dabeigehabt habe. Daraufhin wird die erste Befragung abgebrochen, die Schutzpolizisten wollen den Fachleuten der Mordkommission nicht vorgreifen.
Eine Dreiviertelstunde später sitzt Gregor Walther zwei erfahrenen Kriminalbeamten gegenüber. Zunächst wird ein eher zwangloses Vorgespräch geführt, in dem der Verdächtige berichtet, dass er in der Schule einige Male sitzen geblieben sei, aber Lesen und Schreiben gelernt habe. Im Schulbetrieb habe er sich aber einfach nicht zurechtfinden können. Auch mit den Eltern sei es immer wieder zu Konfrontationen gekommen, sodass er mit 17 das Elternhaus verlassen habe. Er sei danach in einem Kloster untergekommen und habe dort sechs Jahre verbracht. Als er kürzlich verdächtigt worden sei, mit einer jungen Frau sexuellen Kontakt gehabt zu haben, sei er aufgefordert worden, das Kloster zu verlassen. Seitdem suche er nach einer neuen Bleibe. Schließlich lenken die Beamten das Gespräch auf die tatkritische Zeit, als Gregor Walther in der Nähe des Tatorts einem Mädchen begegnet sein will.
Frage: »Welche Strecke sind Sie mit Ihrem Fahrrad gefahren?«
Antwort: »Der Weg zum Dorf geht zunächst bergan durch den Wald. Mein Fahrrad habe ich während der Steigung geschoben. Am Anfang des Waldes hinter dem Dorf habe ich einen älteren Mann und eine ältere Frau gesehen, die mit einem leeren Handwagen in den Waldweg eingebogen sind. Ich schob mein Fahrrad bis zum Ende der letzten Kurve, an der die Steigung aufhört. An dieser Stelle führt auch ein Weg nach rechts in den Wald. Da ich müde war, habe ich mich da ausgeruht.«
Frage: »Und was ist dann passiert?«
Antwort: »Als ich dort stand, sah ich das Mädchen kommen. Es schob auch ein Fahrrad. Ich habe gewartet, bis es bei mir war. Dann habe ich es nach der Uhrzeit gefragt. ›Zehn vor zwei‹, hat das Mädchen geantwortet. Wir unterhielten uns eine Zeit lang und gingen dann langsam in den Wald hinein. Das Mädchen fragte, wo ich arbeite, und ich antwortete, dass ich nicht arbeiten könnte, weil ich krank sei.«
Gregor Walther wird aufgefordert, den Weg, den er mit dem Mädchen gegangen ist, zu zeichnen und die Stelle mit einem roten Kreuz zu markieren, an der die Räder gelegen haben. Als der Mann fertig ist, wird die Vernehmung fortgesetzt.
Frage: »Sie sind also mit dem Mädchen in den Wald gegangen. Und dann?«
Antwort: »Wir sind zu der Gabelung gekommen. Das Mädchen hat gesagt, wir könnten die Räder dort hinlegen, da der Pfad später sehr eng werde und mit Sträuchern bewachsen sei.«
Frage: »Was haben Sie gemacht, nachdem Sie die Räder hinlegten?«
Antwort: »Ich bin mit dem Mädchen den Weg weiter runtergegangen, ungefähr bis zu dem roten Punkt, den ich eben auf der Zeichnung markiert habe.«
Frage: »Wie genau sind Sie mit dem Mädchen den Weg abwärts gegangen?«
Antwort: »Sie ging vor mir. Als wir zu der eingezeichneten Stelle kamen, nahm ich einen Draht aus meiner rechten Tasche und habe ihn dem Mädchen von hinten um den Hals gelegt. Ich habe zuerst einen einfachen Knoten gemacht, aber ohne ihn fest zuzuziehen. Dann habe ich darüber nochmals einen Knoten gemacht, damit der andere nicht aufgeht. Nun hat sich das Mädchen freiwillig hingelegt. Das Mädchen sagte noch, ich solle nicht so fest ziehen. Ich habe auch nicht zugezogen, da ich weiß, dass das wehtut.«
Frage: »Was haben Sie gemacht, als sich das Mädchen hingelegt hat?«
Antwort: »Ich habe mich auf den Boden gelegt.«
Frage: »Was hat denn das Mädchen gemacht, als es auf dem Boden lag?«
Antwort: »Es hat sich mit den Armen und Beinen bewegt.«
Frage: »Und was haben Sie dann getan?«
Antwort: »Ich habe ihm die Hose runtergezogen!«
Frage: »Bis wohin haben Sie die Hose runtergezogen?«
Antwort: »Bis unterhalb der Knie.«
Der Beschuldigte wird aufgefordert, sich genauso hinzulegen, wie das Opfer gelegen hat. Gregor Walther legt sich auf den Boden: Rückenlage, beide Arme seitwärts ausgestreckt, Handflächen nach oben, Beine angewinkelt, Knie zusammen, Fußspitzen nach vorn.
Frage: »Was haben Sie gemacht, als das Mädchen so auf dem Boden lag?«
Antwort: »Ich habe mich neben sie gekniet und gebetet.«
Frage: »Haben die drei Fahrräder noch an der alten Stelle gelegen?« (Eine bewusst gestellte Suggestivfrage.)
Antwort: »Es waren nicht drei Fahrräder, sondern nur zwei.«
Frage: »Was haben Sie dann gemacht?«
Antwort: »Ich habe mich auf mein Rad gesetzt und bin weggefahren.«
Frage: »Welche Haarfarbe hatte das Mädchen?«
Antwort: »Dunkelblond.«
Frage: »Hatte das Mädchen außer dem Fahrrad noch etwas dabei?«
Antwort: »Nur eine kleine Handtasche.«
Frage: »Wo war die Tasche, als Sie dem Mädchen begegnet sind?«
Antwort: »Hinten auf dem Gepäckträger.«
Frage: »Haben Sie die Tasche später mitgenommen?«
Antwort: »Nein.«
Frage: »Welche Farbe hatte die Tasche?«
Antwort: »Braun. Da war ein Reißverschluss dran.«
Jetzt werden dem Beschuldigten vier verschiedenfarbige Drähte gezeigt, die er in Ruhe betrachten soll.
Frage: »Welche Farbe hatte der Draht, den Sie dem Mädchen um den Hals gelegt haben?«
Antwort: »Der Draht hatte dieselbe Farbe wie der hellbraune, den Sie mir gezeigt haben.«
Frage: »Woher hatten Sie den Draht?«
Antwort: »Weiß ich nicht mehr genau. Aber ich glaube, ich habe ihn aus einem Haus, in dem ich mal gewesen bin, mitgenommen. Ich hab ihn aber nicht gestohlen, eine Frau hat ihn mir gegeben, als ich danach gefragt habe.«
Nun lässt man Gregor Walther mit dem hellbraunen Draht einen Knoten machen.
Frage: »Haben Sie in den letzten Tagen Zeitung gelesen?
Antwort: »Ja, am letzten Samstag.«
Frage: »Was haben Sie denn gelesen?«
Antwort: »Von Autounglücken und von Motorrädern, auch vom Wetterdienst hier in der Nähe.«
Frage: »Haben Sie davon gelesen, dass hier in der Nähe im Wald ein totes Mädchen gefunden wurde?« (Wieder eine bewusste Suggestivfrage.)
Antwort: »Nein.«
Die Ermittler haben zwar ein Geständnis, doch wissen sie nicht recht, was davon zu halten ist – auch wenn Gregor Walther Dinge gewusst, beschrieben, gezeichnet und gezeigt hat, für die Täterwissen benötigt wird. Insbesondere hat der Mann die richtige Farbe des Drahtes genannt, mit dem das Opfer erdrosselt wurde, und er hat genau jenen Weberknoten gezeigt, den der Mörder geknüpft hat. Außerdem hat er auf der Handskizze die einzelnen Haltepunkte, die Fundorte der Fahrräder und auch die Leichenfundstelle präzise und zutreffend gekennzeichnet. Aus der Zeitung kann er dieses Wissen jedenfalls nicht haben, da hierüber aus gutem Grund nicht berichtet worden ist. Das sollte dem Täter vorbehalten bleiben.
Am nächsten Tag wird Gregor Walther dem älteren Ehepaar gegenübergestellt, das den vermeintlichen Täter im Wald gesehen hat. Die Zeugen können nicht sagen, dass sie Gregor Walther zweifelsfrei als jenen Mann wiedererkennen, den sie im Wald beobachtet haben, doch stellen sie »eine gewisse Personengleichheit« fest.
Einige Stunden später wird der Beschuldigte aufgefordert, die Beamten zum Tatort zu führen. Tatsächlich findet der Mann die Stelle ohne Zögern und ohne Schwierigkeiten. Auf dem Weg dorthin erwähnt er auch ungefragt ein schwarzes Portemonnaie des Mädchens, über das die Beamten sich bisher bewusst ausgeschwiegen haben. Wieder Täterwissen! Schließlich stellt man Gregor Walther noch einem Psychologen vor, der nach eingehender Untersuchung zu dem Ergebnis kommt: »Der Beschuldigte hat aus eigenem Erleben berichtet.«
Gegen die Täterschaft des Beschuldigten sprechen aus Sicht der Ermittler nur dessen psychische Auffälligkeit, die Vermutung, dass Franka Görgens diesem Mann wohl niemals freiwillig in den Wald gefolgt wäre, und die ursprüngliche Annahme, Opfer und Täter müssten sich gekannt haben. Dennoch ist die Beweislast erdrückend. Gregor Walther wird deshalb auf Antrag der Staatsanwaltschaft einem Ermittlungsrichter vorgeführt, der ebenfalls zu dem Ergebnis kommt, dass der Beschuldigte die Wahrheit sagt, denn er habe »einwandfrei gestanden«, Franka Görgens getötet zu haben, sehr wahrscheinlich aus Angst, für den vorherigen sexuellen Missbrauch des Opfers bestraft zu werden. Denn genau darüber hat Gregor Walther bislang partout nicht sprechen wollen – das typische Aussageverhalten eines Sexualmörders, der den äußeren Rahmen seiner Tat spontan und lückenlos beschreiben kann, sich aber zu seiner Perversion nicht bekennen mag. So verhängt der Ermittlungsrichter schließlich die Untersuchungshaft.
Nachdem die Erfolgsmeldung durch die Medien verbreitet wurde, gehen zahlreiche Hinweise ein, die sich auf Gregor Walther beziehen und denen nachgegangen werden muss. Es meldet sich auch der Inhaber einer Gastwirtschaft, der mitteilt, dass der Mordbeschuldigte nicht der Täter sein könne, da Gregor Walther am Tag des Verbrechens von 12.30 Uhr bis 16 Uhr in seinem Lokal als Aushilfskraft gearbeitet habe. Sollte der Zeuge die Wahrheit sagen, müsste der Untersuchungshäftling 174/53 sein Geständnis frei erfunden oder die Tat lediglich beobachtet haben. Doch an diese Möglichkeiten will kaum jemand in den Reihen der Mordkommission glauben, zu überzeugend sind die Aussagen des Beschuldigten gewesen.
Noch am selben Tag werden dem Kneipenwirt im Präsidium Gregor Walther und sieben Vergleichspersonen gegenübergestellt, die etwa so groß sind wie der Beschuldigte, seine Statur haben und ihm durchaus ähnlich sehen. »Nummer sechs!« Ohne zu zögern, zeigt der Zeuge auf den Mann, der das Schild mit der Nummer sechs in den Händen hält – Gregor Walther. In seiner anschließenden Vernehmung wiederholt der Gastwirt seine zuvor telefonisch gemachten Angaben und ergänzt, es gebe noch mindestens drei weitere Personen, die den Beschuldigten zur tatkritischen Zeit gesehen hätten und seine Aussage bestätigen könnten. Nachdem auch die Ehefrau des Zeugen und zwei Kellnerinnen Gregor Walther zweifelsfrei identifizieren und bestätigen, dass er sich zur Tatzeit 25 Kilometer vom Tatort entfernt aufgehalten habe, wird der Beschuldigte mit diesen neuen Erkenntnissen konfrontiert. Doch der Mann zeigt sich unbeeindruckt: »Ich habe das Mädchen getötet.« Und dabei bleibt er.
Normalerweise ist eine Mordkommission darum bemüht, die Schuld des Verdächtigen zu beweisen, nun ist es genau umgekehrt. Parallel dazu muss sie bei der Suche nach dem wahren Täter wieder bei null anfangen. Im Zuge dieser Nachforschungen stoßen die Fahnder bei der Bearbeitung von »Spur 161« auf einen gewissen Ferdinand Greilich, der Zeugenaussagen zufolge um die Tatzeit herum in der Nähe des Leichenfundortes gewesen sein soll, der sich aber trotz allgemeiner Aufforderung über die Medien noch nicht bei der Polizei gemeldet hat. Hat dieser Mann etwas zu verbergen?
Erste Ermittlungen ergeben, dass der 28-jährige Grubenarbeiter am Tattag Frühschicht gehabt hat und von mehreren Personen dabei gesehen wurde, wie er gegen 13.30 Uhr das Zechengelände in Richtung Wald verlassen hat, in dem das tote Mädchen gefunden wurde. Weiter findet die Kripo heraus, dass der Mann ein Freund der Familie Görgens ist, sich jedoch nicht an der Suchaktion beteiligt und auch nicht an der Beerdigung teilgenommen hat. Warum bloß nicht? Außerdem berichten Zeugen, Ferdinand Greilich habe nach der Tat verschiedentlich merkwürdige, zweideutige Äußerungen gemacht oder komische Fragen gestellt, beispielsweise: »Kannst du dir vorstellen, dass ich die Franka umgebracht hab?«
Diese Verdachtsmomente genügen den Ermittlern, um Ferdinand Greilich ins Präsidium zu bringen und zu vernehmen. Die Aussagen des gänzlich polizeiunerfahrenen Mannes sind geprägt von Ungereimtheiten, Ungenauigkeiten und Unwahrheiten. Er will mit der Tat nichts zu tun haben, doch kann er nicht abstreiten, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein. Diese Tatsache wird von ihm indes bagatellisiert, er habe sich dort wegen des Regens nur unterstellen müssen, behauptet er. Zum Schluss der Vernehmung berichtet Ferdinand Greilich den Beamten noch, er habe bereits mit 17 »Anfälle geistiger Umnachtung« gehabt, und falls sich herausstellen sollte, dass er doch der Täter ist, dann könne er nur während eines solchen Anfalls gehandelt haben – wie ferngesteuert, ohne zu wissen, was er da tue, und ohne zu wollen, dass er es tue.
Nach weiteren Ermittlungen und Vernehmungen von insgesamt 34 Zeugen wird mit dem Beschuldigten, der sich mittlerweile in Untersuchungshaft befindet, am Ort des Geschehens eine Rekonstruktion der Tat durchgeführt. Anschließend wird der Mann erneut vernommen. Zunächst weist Ferdinand Greilich abermals sämtliche Vorwürfe von sich, erst nach dreieinhalb Stunden zähen Ringens gibt er schließlich seinen Widerstand auf. »Nachdem mir so vieles vorgehalten wurde, will ich ein Bekenntnis ablegen«, beginnt er sein Geständnis. »Ich war es. Ich kann und will nicht mehr leben, weder vor den Menschen noch vor Gott, vor dem ich nicht würdig bin, zu leben. Ich habe durch große Gnade erfahren, dass der Mensch nicht nur aus Fleisch und Blut ist, sondern dass er in seinem Innern eine Seele trägt, zu deren Vollendung er auf diese Erde kam. Wir Menschen unterliegen alle einem steten inneren Kampf. Einen solchen Kampf führte ich bereits in meiner Jugend, in der ich nicht imstande war, den inneren Menschen zu besiegen. In letzter Zeit hatte ich ebenfalls solche inneren Anfechtungen. Ich habe gerungen und gebetet. Dieser Kampf nahm immer stärkere Formen an. Es drehte sich besonders darum, einen Menschen zu notzüchtigen. Ich hatte es nicht abgesehen auf irgendeine Person, auch nicht auf Schönheit oder Jugend.«
Ferdinand Greilich schildert anschließend, wie ihn auf dem Heimweg »ein komisches Gefühl befallen« habe. Kurz darauf sei er Franka Görgens begegnet, habe sich ihr angeschlossen und sei mit ihr in den Waldweg gegangen, angeblich, um nach Rehen zu schauen. Plötzlich sei das Mädchen über einen am Boden liegenden Draht gestolpert. Als er Franka aufgeholfen habe, sei es zu einer ungewollten Berührung ihrer Brüste gekommen. »In diesem Augenblick kam ein Gefühl über mich, als ob ich von Sinnen sei.« Erst »ein starker Donnerschlag« habe ihn »wieder wach werden« und begreifen lassen, dass er das Mädchen getötet hatte. Daraufhin sei er davongelaufen.
Dass der Beschuldigte seine wahre Intention und Perversion zu verbergen versucht, wird noch deutlicher, als sich nach entsprechenden Presseveröffentlichungen weitere Frauen bei der Kripo melden, die berichten, dass Ferdinand Greilich ihnen eine Drahtschlinge um den Hals geworfen oder sich ihnen mit einer Schlinge in der Hand genähert habe. Zu diesen noch glimpflich verlaufenen Taten kann der Beschuldigte jedoch nicht mehr vernommen werden, da er sich schließlich mit einem Kupferdraht erhängt.
Obwohl Ferdinand Greilich aufgrund seines Geständnisses, des Tatortbefundes, des Spurenbildes und diverser Zeugenaussagen zu Recht als überführt gilt, behauptet Gregor Walther in Kenntnis dieser Umstände auch Jahre später noch: »Ich habe das Mädchen getötet.« Es konnte niemals aufgeklärt werden, wie dieser Mann an Informationen gelangt ist, über die eigentlich nur der Mörder hätte verfügen dürfen. Und warum er sich einer Tat bezichtigt hat, die ein anderer begangen hat, bleibt ebenso ungewiss.