Das Schweigen der Mörder

Ermittlungszeitraum: November 2005–November 2008

Im November 2005 erreicht die Mordkommission in Nürnberg ein anonymes Schreiben, das an eine Außenstelle des Landeskriminalamtes gerichtet ist, die es gar nicht gibt. Im Brief heißt es:

»Ich wende mich an Sie in einem schon länger zurückliegenden Mordfall, von dem mir ein Freund berichtete. Vielleicht können Sie ja mit der Sache etwas anfangen … Ich traf meinen Bekannten zum ersten Mal 1999 in Nürnberg, wo ich seinerzeit lebte. Er war Fahrer für eine Spedition, und wir liefen uns zufällig in einer Kneipe über den Weg. Nachdem wir uns besser kennengelernt hatten, beichtete er mir 2001 einen Mord, den er begangen hatte. Da er angetrunken war, glaubte ich ihm nicht. Außerdem hatte ich Angst, in eine üble Sache verwickelt zu werden, und behielt daher sein Geständnis für mich. Ich wollte meinen Freund auch nicht unnötig gefährden. Es konnte ja sein, dass er log. 2003 ist er verstorben, an Krebs. Ein Jahr später bin ich dann aus beruflichen Gründen von Nürnberg weggezogen. Ich hatte die Sache mit dem angeblichen Mord schon fast vergessen, aber jetzt hat sich mein Gewissen gemeldet und plagt mich immer mehr. Deshalb möchte ich Ihnen nun davon berichten, was mein Freund mir damals sagte. Aus Angst verschweige ich meinen Namen und den meines Bekannten. Kann ja sein, dass er sich all das nur ausgedacht hat.«

Die Ermittler stellen fest, dass die in dem Schreiben nun folgenden Informationen zu einem Verbrechen passen, das 35 Jahre zurückliegt und bislang nicht aufgeklärt wurde: Am 1. März 1970 fegte ein heftiger Sturm über den südwestlichen Rand der Schwäbischen Alb hinweg. Ein Bauer befand sich mit seinem Hund auf dem Rückweg zu seinem Hof in der Gemeinde Beimerstetten im Landkreis Ulm, als er plötzlich einen Lichtschein sah, etwa 50 Meter entfernt auf freiem Feld. Neugierig geworden, sah er nach und fand eine brennende Leiche, die bereits bis zur Unkenntlichkeit verkohlt war.

Die Mordkommission ermittelte, dass der Täter das unbekleidete weibliche Opfer in eine Wolldecke eingewickelt, mit einem Hanfstrick verschnürt, in einem Pkw zum Fundort transportiert und auf dem Feld mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Die Spurensicherung ergab, dass die Frau bereits zuvor getötet worden war. Erst anhand eines Handflächenabdrucks konnte das Opfer identifiziert werden. Es handelte sich um die damals 30 Jahre alte Gelegenheitsprostituierte Heiderose Berchner, die sich überwiegend im Nürnberger Rotlichtmilieu am Hauptbahnhof aufgehalten hatte und zuletzt ohne festen Wohnsitz gewesen war. Übernachtet hatte sie oftmals bei ihren Freiern, und ihre gesamte Habe bewahrte die Frau in Schließfächern auf. Zur Aufklärung des Mordes setzte man eine gemeinsame Sonderkommission der Kriminalpolizeien Ulm und Nürnberg ein. Trotz umfangreicher Ermittlungen und der Überprüfung mehrerer Hundert Spuren gelang es nicht, den Täter zu überführen. Selbst die spätere Ausstrahlung des Falls in der achten Folge von Aktenzeichen XY … ungelöst führte nicht zum Erfolg.

Jeder Kriminalist kennt solche Briefe, die von namenlosen Wirrköpfen oder Wichtigtuern geschrieben werden, um die Kripo mit vermeintlichem Insiderwissen zu düpieren. Doch dieses am Computer verfasste Schreiben erweckt bei den Experten der Kripo den Eindruck, als könnte es tatsächlich authentisch sein. Denn der Verfasser bezieht sich bei seinen Schilderungen auf Einzelheiten, die mit dem damals erhobenen objektiven Tatortbefund übereinstimmen. Zum Beispiel erwähnt er als Täterfahrzeug einen Opel Diplomat, und tatsächlich entdeckte man damals entsprechende Reifenspuren am Leichenfundort. Aus diesem Grund wendet sich die Kripo bald mit einem Fahndungsaufruf an die Bevölkerung und fragt:

»Wer kennt einen Mann,

– der eventuell aus dem Raum Ulm stammt,

– der im Februar 1970 die wohnungslose Prostituierte Heiderose Berchner einige Tage in seiner Wohnung aufnahm,

– der von 1970 bis mindestens 1999 für eine Spedition in Nürnberg als Kraftfahrer tätig war,

– der im Februar 1970 einen Opel Diplomat gefahren hat,

– der im Jahre 2003 an einer Krebserkrankung verstorben ist?«

Obwohl eine Belohnung in Höhe von 1000 Euro ausgesetzt wird, verläuft die Aktion erfolglos. Zwar finden Wissenschaftler des Landeskriminalamtes am Umschlag des anonymen Schreibens Epithelzellen und können der Kripo somit das genetische Profil des Unbekannten anbieten, doch verläuft die Suche nach einem passenden DNA-Muster in den polizeilichen Datenbanken negativ. Und abgesehen von der Tatsache, dass der Brief in Mannheim abgestempelt wurde, fehlen Erfolg versprechende Ermittlungsansätze. Das Schreiben wird deshalb zu den alten Mordakten gelegt. Vielleicht ergibt sich demnächst bei anderer Gelegenheit die Möglichkeit, den Autor bzw. den Täter zu identifizieren.

Am 14. Juli 2006 wird im Polizeipräsidium Westpfalz in Kaiserslautern ein anonymer handschriftlicher Brief zugestellt, der ein Geständnis zu einem Mord Anfang der 1960er-Jahre beinhaltet. Das Schreiben trägt keinen Poststempel, lediglich ein Strichcode weist darauf hin, dass die Verteilung über das Briefzentrum Ludwigshafen erfolgt ist. »Ich bin alt und krank und halte Rückschau auf mein Leben«, beginnt der Brief. »Mit einer Sache kann ich nicht abschließen. Ich habe einen Menschen getötet, es nie vergessen und möchte mich nun stellen, bislang hab ich es nicht fertiggebracht.«

Dann beschreibt der Verfasser des Briefes, wie er eine Schülerin ermordet haben will. Recherchen der Mordkommission ergeben, dass es das geschilderte Verbrechen tatsächlich gegeben hat: Am 26. April 1962 riss die damals 13-jährige Lydia Schürmann aus Wiedenbrück im Kreis Gütersloh von zu Hause aus, nachdem sie sich mit ihren Eltern heftig gestritten hatte. Sie fuhr per Anhalter mit einem belgischen Lastwagenfahrer über die Autobahn 2 von Ostwestfalen in die Gegend von Elmpt bei Mönchengladbach, nahe des Grenzübergangs. Dort verlor sich ihre Spur. Knapp vier Monate später wurde das Mädchen tot aufgefunden, vergraben in einem Wald bei Oerlinghausen nahe Bielefeld. Dass man sie überhaupt fand, war purer Zufall. Ein Fuchs hatte an der Stelle ein Loch gescharrt, an der der Täter das Mädchen vergraben hatte. Pilzsammler sahen ihren Arm. Mit dem Leichenfund war die quälende Ungewissheit für die Eltern des Opfers vorbei – unbarmherzig endgültig.

Der Waldweg, der unweit des Segelflugplatzes Oerlinghausen zum Fundort führte, wurde seinerzeit von Prostituierten und Freiern genutzt, um ungestört zu sein. Daraus schlussfolgerte die Kripo, dass sich der Täter in der Gegend ausgekannt haben dürfte. Unauffindbar blieben ein Paar Holzsandalen und eine rote Ledertasche, die Lydia Schürmann bei sich gehabt haben muss. Alle Ermittlungen liefen ins Leere, und auch in diesem Fall brachte ein Bericht in Aktenzeichen XY … ungelöst die Mordkommission nicht weiter.

Die Kripo schätzt das Bekennerschreiben als echt ein. Alles deutet darauf hin, dass der Verfasser von Reue angetrieben wird und sich jemandem anvertrauen möchte. Deshalb wird der mutmaßliche Mörder öffentlichkeitswirksam ermutigt, sich der Polizei zu offenbaren und reinen Tisch zu machen. Doch er meldet sich nicht.

Dafür erreicht die zuständige Mordkommission in Bielefeld Anfang Februar 2007 abermals ein Brief in dieser Sache, wieder handgeschrieben: »Ich könnte etwas zum Mord an Lydia Schürmann sagen, falls dieser Fall nicht geklärt sein sollte. Sie stammte aus St. Vit bei Wiedenbrück und wurde 1962 getötet. Sie wurde per Anhalter mitgenommen von der Grenze bei Elmpt in die Gegend der Senne bei Bielefeld. Falls Sie den Täter noch nicht kennen, könnte ich Ihnen helfen.« Der Brief trägt einen Poststempel vom 28. Januar und einen zweiten Stempel mit dem Aufdruck »Schöne Lage in Bad Dürkheim«.

Obwohl drei Polizeidienststellen in verschiedenen Bundesländern angeschrieben und zwei ungelöste Mordfälle aus unterschiedlichen Perspektiven angesprochen wurden, kommt die Kripo nach der Auswertung und Analyse sämtlicher Spuren schließlich zu einem überraschenden Ergebnis. »Aufgrund verschiedener spurentechnischer grafologischer und linguistischer Untersuchungen ist davon auszugehen, dass es sich in allen Fällen um denselben unbekannten Briefeschreiber handelt«, wird der Öffentlichkeit mitgeteilt. Und: »Wir sind in hohem Maße davon überzeugt, dass der Briefeschreiber auch der Täter ist.« Also ein älterer Serienmörder, der unter den seelischen Folgen seiner Taten leidet und sein Gewissen erleichtern möchte? Oder betreibt dieser Mann bloß ein zynisches Katz-und-Maus-Spiel, um sich nochmals an seinen Gräueltaten zu berauschen? Diese brisanten Erkenntnisse haben zur Folge, dass bei den Polizeien in Nordrhein-Westfalen, Bayern und dem Saarland Ermittlungskommissionen eingerichtet werden, um »Deutschlands ältesten Serienmörder« (BILD) endlich zu fassen.

Der mysteriöse Unbekannte schreibt, wie spätere Untersuchungen zeigen werden, im Juni 2007 einen weiteren Brief, diesmal an die Verwaltung der saarländischen 6400-Seelen-Gemeinde Weiskirchen. »Wir wollen den DJ Ötzi hier nicht haben, diesen Nestbeschmutzer«, empört sich der Autor und droht: »Wenn der auf die Bühne geht, wird er abgeknallt. Dann hat sein letztes Stündlein geschlagen. Weg mit dem! Der gehört hier nicht hin!« Die Kripo nimmt die Todesdrohung gegen den österreichischen Popsänger sehr ernst, lässt das Konzert jedoch unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Die Veranstaltung verläuft ohne Zwischenfälle.

Das letzte Schreiben bestärkt die Fahnder in der Annahme, dass der mutmaßliche Serienmörder im Saarland zu suchen ist, zumindest muss er sich kürzlich in Weiskirchen aufgehalten haben. Denn ein Zeitungsausschnitt, den er seinem Drohbrief beigelegt hat, stammt aus dem Wochenspiegel, einem Anzeigenblättchen, das in der Region an alle Haushalte kostenlos verteilt wird. Die Ankündigung des DJ-Ötzi-Konzerts hat indes nur in jenen 16.000 Exemplaren gestanden, die in Weiskirchen und vier umliegenden Gemeinden verteilt wurden. Die Hatz auf den Serienkiller beginnt.

Flankierend wird der Fall am 2. August 2007 zur Öffentlichkeitsfahndung bei Aktenzeichen XY … ungelöst ausgestrahlt. Dabei werden im Internet abrufbare Schriftproben aus den Briefen gezeigt. Ein leitender Ermittler sagt in der Sendung über den Täter: »Wenn er mit sich selbst ins Reine kommen will, muss er sich der Verantwortung stellen. Außerdem sollte er auch an die Familien der Opfer denken, die seit Jahrzehnten in völliger Unklarheit leben.« Noch während der Sendung gehen mehr als 30 Hinweise ein, fünfmal glauben die Anrufer, den Serientäter an seiner Handschrift erkannt zu haben. Weitere Überprüfungen der Kripo ergeben jedoch, dass sich die Hinweisgeber allesamt geirrt haben.

Auch Fallanalytiker der Landeskriminalämter, Psychologen und Soziologen halten die Briefe für authentisch, auf die in den folgenden Monaten weitere folgen und in denen sich der Täter glaubhaft anderer elf Morde bezichtigt, begangen in ganz Deutschland im Zeitraum von 1961 bis 1992. Die Experten für die Analyse verbrecherischen Verhaltens haben inzwischen ein Profil des Serienmörders erstellt, das bisherige Phantom bekommt nun allmählich Konturen: Der Gesuchte ist älter als 64 Jahre, Deutscher und lebt im Saarland. In den 1960er- und 1970er-Jahren ist er sehr mobil gewesen und hat Kontakte ins Rotlichtmilieu gehabt, wovon Verwandte und Freunde nicht unbedingt gewusst haben müssen. Zu dieser Zeit könnte er zunächst in Bielefeld und später in Nürnberg gelebt haben. Auch im Raum Ulm scheint er sich auszukennen. Er hat lange Zeit im Speditionsgewerbe als Lkw-Fahrer gearbeitet und privat eine große Opel-Limousine besessen. Der Mann liest heute die BILD-Zeitung, verfügt über einen Internetanschluss und verfolgt die Nachrichtensendungen im Fernsehen. Die Experten halten den Täter weiterhin für eher unauffällig, intelligent, gefühlskalt, eitel, jähzornig und selbstgerecht.

Letztlich konzentrieren sich die Ermittlungen auf den Bereich Hochwald, insbesondere Weiskirchen, nachdem im Oktober 2008 ein weiterer Brief bei der saarländischen Polizei eingegangen ist, in dem der Täter zweifelsfrei erkennen ließ, dass er über detaillierte aktuelle Ortskenntnisse verfügt. Die Ermittler konzentrieren sich bei der Fahndung auf Pflegeheime und Seniorenwohnanlagen, sensibilisieren aber auch Mitarbeiter von mobilen Mittagstischen und häuslichen Pflegediensten. Irgendjemand aus diesem Personenkreis dürfte mit dem Gesuchten näher zu tun haben, vermuten die Fahnder. Selbst Geistliche werden dazu animiert, das Beichtgeheimnis zu brechen, sollte sich ihnen der Täter offenbaren. Es folgen öffentlichkeitswirksame Pressekonferenzen. Zudem wird die Handschrift des »Hochwaldmörders« in den Medien und auf Plakaten (»Polizei sucht in Weiskirchen und Umgebung den Mörder von …«) präsentiert. Als diese Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg bringen, startet die Kripo eine DNA-Reihenuntersuchung, an der etwa 5000 ältere Männer aus der Region teilnehmen sollen. »Der Täter hat keine Chance, wir werden ihn erwischen!«, betont ein Ermittler gegenüber der örtlichen Presse mit Nachdruck.

Es ist der 18. November 2008, als zur Mittagszeit ein Briefträger zur Polizeistation in Weiskirchen kommt. »Ich habe heute eine Postkarte zugestellt«, sagt der Mann den Beamten, »da war mir nicht ganz wohl dabei. Die Schrift habe ich auf einem der Fahndungsplakate gesehen.« Der diensthabende Kommissar fährt sofort zu der Adresse, die ihm der Briefträger genannt hat, und kassiert dort die tatsächlich hochverdächtige Postkarte. Der die Kripo besonders interessierende Absender ist der Neffe des Empfängers. Ein Schriftsachverständiger bestätigt noch am selben Tag die Übereinstimmung der Schriften auf der Postkarte und den Bekennerschreiben. Schließlich führt die Spur in eine psychiatrische Klinik, wo die Beamten auf einen Patienten treffen, den sie zu einem Gespräch bewegen können.

Am nächsten Tag veröffentlichen die in diesem Fall ermittelnden Polizeidienststellen eine gemeinsame Pressemitteilung. »Angeblicher ›Hochwaldmörder‹ enttarnt – 34-jähriger Mann aus Weiskirchen als Briefeschreiber ermittelt«, lautet die Überschrift. »Im Rahmen einer Durchsuchung der Wohnung des Verfassers fand die Polizei ein umfangreiches Medienarchiv, unter anderem Aufzeichnungen von XY-Sendungen bis zurück in die 1960er-Jahre, aus denen er offensichtlich sein Detailwissen über die von ihm geschilderten Taten erlangte. In der Zwischenzeit wurde der psychisch kranke 34-Jährige vernommen. Er räumt in vollem Umfang ein, sämtliche Briefe geschrieben zu haben. Sein Motiv könnte nach Auskunft der behandelnden Ärzte in dem Wunsch nach Aufmerksamkeit liegen. Als Täter der Tötungsdelikte bzw. Vermisstenfälle scheidet der Mann aus.« Und somit endet dieser Fall, der bereits für die Annalen der Kriminalgeschichte vorgesehen war, als irrwitzige Mörderposse.