Ermittlungszeitraum: Juni–August 1984
Es ist früh am Morgen, als Hermann Katten seinen Hund ausführt. Wie immer kommt der 64-jährige Rentner bei seinem Spaziergang auch an einem Bach vorbei, der sich durch die Innenstadt schlängelt. Normalerweise ist die Wasseroberfläche glatt und schimmert dunkelbraun. Deshalb schaut Hermann Katten auch zweimal hin, als er sieht, wie sich im Bach die Umrisse von etwas Vertrautem abzeichnen, das dort jedoch nicht hingehört. Als er realisiert, dass er sich nicht getäuscht hat, nimmt er sofort den Hund an die Leine, läuft zum nächsten Haus und klingelt Sturm. Nachdem ihm geöffnet wurde, ruft er den verdutzten Hausbewohnern zu, es sei ein Unglück passiert, man möge die Polizei benachrichtigen, er werde am Ufer des Baches auf die Beamten warten. Wohl ist ihm nicht dabei.
Zehn Minuten später macht Hermann Katten sich bemerkbar, als ein Streifenwagen mit Blaulicht eintrifft. »Sehen Sie sich das mal an«, sagt er den Polizisten und zeigt in Richtung des Baches. Die Beamten gehen ganz nah ans Ufer heran und erkennen schnell, dass dort im Wasser keine Schaufensterpuppe treibt, sondern ein Mensch. Auf dem Weg zurück zum Streifenwagen werden die Polizisten unvermittelt von zwei älteren Damen angesprochen, die im nahen Parkgelände ebenfalls mit ihren Hunden unterwegs gewesen sind. Die Frauen weisen die Beamten auf einen merkwürdigen Fund hin, den sie oberhalb des Baches am Rand eines Promenadenwegs gemacht haben – dort liegen in der Bepflanzung einer Böschung Kleidungsstücke herum, dem Augenschein nach handelt es sich dabei um Damenmode. Wahrscheinlich gehören Kleidung und Leichnam zusammen, vermuten die Schutzleute. Das ist ein Fall für die Mordkommission, entscheiden sie nach kurzer Erörterung.
Die Spezialisten der Spurensicherung treffen auf folgende Fundsituation: Bei der Leiche handelt es sich um eine Frau, die bäuchlings im nicht einmal knietiefen Wasser liegt. Der Unterkörper ist nackt. Am Oberkörper befindet sich noch ein schwarzes Unterhemd, darunter ein bis über die Brustwarzen hochgeschobener weißer Büstenhalter. Die Leichenerscheinungen deuten darauf hin, dass die Frau nur wenige Stunden im Wasser gelegen haben kann. Der Kleiderfund der älteren Damen erweist sich als tatrelevant, zumal im Boden nahe der Böschung Kampfspuren zu sehen sind und offenbar von einem Mann stammende Schuheindruckspuren zum Wasser hinabführen. Alles deutet auf einen Sexualmord hin, auch wenn der Kleiderfund, die Beförderung des Opfers ins Wasser, vor allem aber die ihm ausgezogenen Socken für ein solches Verbrechen eher untypisch sind.
Am Tatort werden weder Personalpapiere noch sonstige Gegenstände gefunden, die für eine Identifizierung des Opfers geeignet wären. Wahrscheinlich hat der Täter sie mitgenommen, um sich einen Zeitvorsprung zu verschaffen oder die Utensilien für bestimmte Masturbationsrituale zu benutzen, vermuten die Ermittler. Lediglich ein Sicherheitsschlüssel aus der Damenjacke, die im Gebüsch gelegen hat, bietet einen ersten Ansatzpunkt für weitere Nachforschungen. Tatsächlich gelingt es der Kripo nur wenige Stunden später, das zu diesem Schlüssel passende Schloss ausfindig zu machen – es befindet sich in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses etwa drei Kilometer vom Tatort entfernt.
In der Wohnung leben nach Auskunft des Einwohnermeldeamtes zwei Frauen. Es handelt sich um die Sozialhilfeempfängerin Britta Dahlbokum, 42 Jahre alt, und ihre 38-jährige Freundin Helga Dussmann, eine Frührentnerin. Britta Dahlbokum wird in der schlicht eingerichteten und verwahrlosten Zweizimmerwohnung angetroffen, die Frau ist jedoch volltrunken, sehr aggressiv und nicht vernehmungsfähig. Nur mit Mühe gelingt es den Kriminalbeamten, eine tätliche Auseinandersetzung zu vermeiden. In der Küche und im Wohnzimmer werden frische Fingerspuren der Frauen gesichert, die kurz darauf mit den Fingerabdrücken der Toten verglichen werden. Danach besteht kein Zweifel mehr, dass die Tote aus dem Bach Helga Dussmann ist.
Nur drei Stunden später erscheint die kurz zuvor noch so renitente Britta Dahlbokum im Präsidium und bittet darum, vernommen zu werden. Vorsorglich entnimmt man der Frau eine Blutprobe, die später den beachtlichen Wert von 2,36 Promille ergeben wird. Doch die Beamten können bei Britta Dahlbokum keine Anzeichen von Trunkenheit feststellen – sie wirkt vollkommen nüchtern und kann sich vernünftig artikulieren. Die Frau gibt zu Protokoll, dass ihre Freundin gegen Mitternacht allein die Wohnung verlassen habe, wohl in der Hoffnung, noch irgendwo an Alkohol zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt habe sie bereits eine Flasche Schnaps und zwei Flaschen Bier intus gehabt. Sie selbst, sagt die Zeugin, sei zu Hause geblieben. Weder in der Nacht noch am Tag zuvor habe es zwischen den beiden Freundinnen Streit gegeben. Kurz darauf durchgeführte Befragungen der Nachbarn bestätigen Britta Dahlbokums Angaben. In der vergangenen Nacht hat es keinen Lärm, kein Gepolter und auch kein Geschrei gegeben.
Auch wenn der unbestreitbare objektive Tatbefund auf den ersten Blick als Tatort eines sexuell motivierten Tötungsdeliktes imponiert, bestehen nach Abschluss der ersten Ermittlungen erhebliche Zweifel, ob tatsächlich ein Verbrechen vorliegt. Denn an der Leiche sind keine Verletzungen gefunden worden, die zweifelsfrei auf eine Fremdeinwirkung zurückgeführt werden können. Eine etwa 25 Millimeter lange, quer verlaufende, scharfrandige Wunde im Kinnbereich stellt sich eher als Sturzverletzung dar. Es fehlen deutliche Ab- bzw. Gegenwehrverletzungen. Am Hals finden sich weder Würgemale noch Anzeichen einer Drosselung. Bis auf wenige Stauungsblutpunkte im Oberlid des linken Auges sind die Gesichtshaut, die Bindehäute der Augen und die Mundschleimhaut frei von Zeichen einer Stauung, die bei einem Erstickungsvorgang zu erwarten gewesen wären. Die im Gebüsch nahe des Promenadenwegs gefundenen Kleidungsstücke sind weitgehend unbeschädigt. Sie weisen keine Anzeichen eines gewaltsamen Entkleidens der Frau auf. Selbst das eng geschnittene T-Shirt ist noch unversehrt. Bis auf eine Erdverschmutzung im Gesäßbereich des Slips ist die übrige Bekleidung frei von groben Verunreinigungen.
Ausgehend von diesem Spurenbild, nehmen die Ermittler an, dass Helga Dussmann nach Abstreifen ihrer Hose auf dem Erdboden des Fundortes gesessen und hier ihre Kleidungsstücke selbst ausgezogen und ins Gebüsch geworfen hat. Für ein Selbstentkleiden spricht aus Sicht der Kripo auch die Tatsache, dass selbst die Socken abgelegt worden sind – ein Verhalten, das für einen Sexualmörder sehr ungewöhnlich wäre. Sollte die Frau tatsächlich selbst Hand angelegt haben, könnte somit auch erklärt werden, warum der Büstenhalter bis über die Brustwarzen hochgeschoben worden ist: Vermutlich hat Helga Dussmann ihr Unterhemd samt BH ungewollt nach oben geschoben und nicht weiter darauf reagiert.
Außerdem hat die Untersuchung der Schuhspuren, die von der dicht bewachsenen Böschung zum Wasser führen, ergeben, dass hier offenbar kein menschlicher Körper heruntergezogen wurde. Es sieht vielmehr so aus, als sei jemand durch das Strauchwerk gelaufen oder gekrochen. Überdies fehlen an der Leiche Verletzungen, die auf einen Schleifvorgang hindeuten. Nach alldem geht man eher von einem tragischen Unglücksfall aus. Allerdings bleibt das Ergebnis der Obduktion abzuwarten.
Einen Tag nach dem Leichenfund liegt das rechtsmedizinische Gutachten vor: »Der Obduktionsbefund spricht bisher für einen Tod durch Ertrinken.« Allerdings hat man auch ein Schädeltrauma festgestellt, das durch massive stumpfe Gewalteinwirkung hervorgerufen wurde, die jedoch nicht todesursächlich war.
Darüber hinaus stellt der Obduzent fest, dass auch weitere Körperteile verletzt worden seien, sodass Blutergüsse und punktförmige Hautblutungen entstanden sind: »Davon betroffen sind im Besonderen der Hals, die rechte Schlüsselbeingegend, die linke Brust, beide Schultern, die rechte Achsel, die rechte Ellenbeuge und der linke Oberschenkel vorn unterhalb der Leiste. Zusätzlich sind an den Gliedmaßen noch zahlreiche kleinere frische Blutergüsse neben älteren vorhanden.«
Daneben sind Stauungsblutungen »von erheblicher Natur« im Bereich der Augenbindehäute und des Kehlkopfes nachgewiesen worden. Außerdem habe die Leiche massive Blutergüsse am Unterkiefer, im linken Schläfenmuskel und in den Weichteilen über der gesamten Schilddrüse, heißt es in dem Gutachten weiter. Diese Befunde deuten nach Einschätzung des Sachverständigen auf einen Würgevorgang hin und lassen sich nicht durch ein Sturzgeschehen oder ein Überstrecken der Halswirbelsäule im Sinne eines Schleudertraumas erklären. Außerdem sprechen die Blutergüsse mit den lokalen Blutpunkten für einzelne Quetschungen, die beispielsweise durch ein gewaltsames Zugreifen oder Fußtritte entstanden sein könnten.
Zusammenfassend wird davon ausgegangen, dass »die Gesamtheit der zahlreichen stumpfen Gewalteinwirkungen sich nicht allein durch mehrfache Stürze, z. B. im betrunkenen Zustand, erklären lässt, auch wenn die Frau nachweislich unter einer hochgradigen Alkoholeinwirkung von 2,8 Promille gestanden hat«. Damit kommt der Gutachter zu einer anderen Bewertung als die Mordkommission. Helga Dussmann soll nicht, wie ursprünglich angenommen, verunglückt, sondern heftig geschlagen, getreten, gewürgt worden und schließlich ertrunken sein, wahrscheinlich nachdem der Täter die Frau zum Bach getragen und dort abgelegt hat. Allerdings stellt der Obduzent sein Gutachten unter Vorbehalt: »Eine endgültige Diagnose (hinsichtlich des angenommenen Ertrinkungstodes) kann aber erst nach feingeweblichen Untersuchungen gestellt werden.«
Bei ihren weiteren Ermittlungen erfährt die Mordkommission, dass Helga Dussmann zu epilepsieähnlichen Anfällen neigte. Jedenfalls schildern Zeugen, wie sie »wie vom Blitz getroffen« zu Boden gestürzt sei und sich dabei auch am Kopf verletzt habe. Mehrfach wurde die Frau in den vergangenen Jahren nach solchen Attacken mit Prellungen, Platzwunden oder Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert. Zudem war Helga Dussmann schwer alkoholabhängig und hatte in den meisten Kneipen Lokalverbot, vor allem, weil sie des Öfteren unvermittelt hinfiel und dabei Tische, Stühle oder Gläser zu Boden riss.
Helga Dussmann begann mehrere Entziehungskuren und brach sie schon nach wenigen Tagen wieder ab, weil sie rückfällig geworden war. Bei einer neurologischen Untersuchung in einer Fachklinik wurde schließlich eine »Wernicke-Enzephalopathie« diagnostiziert. Dabei handelt es sich um eine degenerative Erkrankung des Gehirns, die auch von Desorientiertheit und Störungen der Feinmotorik begleitet wird. Eine entsprechende Behandlung wurde von Helga Dussmann vorzeitig abgebrochen. Sie verließ das Krankenhaus gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte.
Die fortschreitende Hirnerkrankung hatte zur Folge, dass die Frau auch dann stürzte, wenn sie nicht betrunken war. Zudem wurde drei Jahre vor ihrem Tod ein schwerer Leberschaden festgestellt. Ihren Beruf als Schneiderin konnte sie nicht mehr ausüben, der soziale Abstieg setzte sich rasant fort. Aufschlussreich erscheint der Mordkommission ein weiterer ärztlicher Befund. »Neurologisch fielen vor allem der ataktische Gang und die schmerzhafte Hypersensibilität der unteren Extremitäten auf«, schrieb der Chefarzt einer Klinik, in die sie wieder einmal sturzverletzt eingeliefert worden war. »Während der Untersuchung bekam die Patientin einen Schwindelanfall von etwa zehn Sekunden Dauer, bei dem sie sich völlig verkrampfte und sich an den Händen des Untersuchers festklammerte.«
Anderthalb Monate vor ihrem Tod wurde Helga Dussmann letztmals von einer Fachärztin für Neurologie umfassend untersucht und begutachtet. Demnach habe die Frau sich weniger durch die Alkoholabhängigkeit beeinträchtigt gefühlt als vielmehr durch ihre Gangstörung. Auch in nüchternem Zustand sei die Frau unsicher und schwankend gelaufen. Resümierend stellte die Ärztin fest, dass nach dem bisherigen Krankheitsverlauf und dem noch hinzugetretenen Persönlichkeitsabbau mit einer wesentlichen Besserung des Gesundheitszustandes auch in absehbarer Zukunft nicht zu rechnen sei.
Die gewonnenen Erkenntnisse provozieren nun bei den Ermittlern die Frage, ob Helga Dussmann sich die bei der Obduktion festgestellten Schädelverletzungen als Folge ihres übermäßigen Alkoholkonsums und ihrer Gangunsicherheit zugezogen haben könnte. Nur – wäre sie nach einer derart schweren Traumatisierung überhaupt noch in der Lage gewesen, sich zu entkleiden und zum Bach zu laufen?
Genau diese Frage stellt die Kripo mehreren Fachärzten für Neurochirurgie, die es häufig mit schwersten Schädelverletzungen zu tun haben, die sich die Patienten bei Verkehrs- oder Arbeitsunfällen zugezogen haben. Das Erleiden eines Schädelbruchs, erläutern die Experten übereinstimmend, sei allein kein Grund zu der Annahme, dass der Verletzte augenblicklich handlungsunfähig sein müsse. In der Praxis seien wiederholt Fälle beobachtet worden, bei denen Menschen tagelang mit Schädelbrüchen gelebt hätten, ohne nennenswerte Beschwerden zu bemerken. Außerdem komme es auch immer wieder vor, dass Schädelverletzungen zu unsinnigen Handlungen führten. Erst kürzlich sei ein Patient eingeliefert worden, der sich nach einem Schädelbruch in einem Park ausgezogen und schlafen gelegt habe. Verwirrtheitszustände nach Schädelfrakturen seien ein durchaus zu erwartendes Erscheinungsbild.
Auf verschiedene Nachfragen der Kripobeamten erklären die Fachleute, dass – wie im vorliegenden Fall – nach Unfällen immer wieder das Bersten der Knochennähte im Bereich des Schädeldaches beobachtet werde. Bei diesen Berstungsbrüchen könne nicht unbedingt davon ausgegangen werden, dass die Gewalteinwirkung auf den Scheitel erfolgt sein müsse. Vielmehr könne stumpfe Gewalt, die von vorn oder seitlich unterhalb der »Hutkrempenlinie« auf den Kopf einwirke, ebenfalls zu Berstungsbrüchen führen. Demnach könnte Helga Dussmann tatsächlich gestürzt sein und sich die Schädelfrakturen auf diese Weise zugezogen haben.
Diese Erkenntnis führt die Mordkommission zu einer weiteren Frage: Falls Helga Dussmann nach dem erlittenen Schädeltrauma weiterhin handlungsfähig gewesen und barfuß von der Fundstelle ihrer Kleidung zum Bach gegangen sein sollte, hätten ihre Füße nicht entsprechende Verschmutzungen oder Verletzungen aufweisen müssen? Weil dieses Problem theoretisch nicht zu lösen ist, müssen die Ereignisse rekonstruiert werden.
Ein Kriminalbeamter zieht sich am Ort des Geschehens Schuhe und Strümpfe aus und geht den Weg, den Helga Dussmann unmittelbar vor ihrem Tod genommen haben muss, bis ins Wasser. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Füße des Mannes sind sauber und unverletzt. Also könnte die Frau durchaus selbst bis zu jener Stelle gegangen sein, an der sie später tot aufgefunden wurde. Zudem hat sich mittlerweile durch Zeugenvernehmungen herausgestellt, dass die ursprünglich für Kampfspuren gehaltenen Bodenveränderungen in der Nähe der Kleiderfundstelle nachweislich von einem Hund stammen, der die Erde aufgescharrt hat.
Um noch mehr Details über die Persönlichkeit der Verstorbenen und ihr Alltagsverhalten zu erfahren, sprechen Kriminalbeamte wiederholt mit dem zuletzt behandelnden Neurologen. In erster Linie geht es ihnen darum, herauszufinden, ob die sich widersprechenden kriminalistischen und rechtsmedizinischen Befunde tatsächlich in verschiedene Ermittlungsrichtungen weisen. Im Rahmen der Diskussionen wird deutlich, dass der Arzt ein Tötungsdelikt für eher unwahrscheinlich hält. Er führt dazu aus, dass er in seiner Praxis häufiger mit Fällen schwerer Alkoholabhängigkeit zu tun habe und bei den Patienten an den unterschiedlichsten Körperstellen regelmäßig ausgeprägte Blutergüsse beobachte, die die Betroffenen nicht mit einem bestimmten Verhalten oder Ereignis verbinden könnten. Die Erklärung für dieses Phänomen liege in einer verstärkten Blutungsneigung bei Alkoholkranken, bei denen bereits ein verhaltenes Anstoßen oder festes Zufassen ausreiche, um unverhältnismäßig große Blutergüsse zu verursachen. Möglicherweise sei dies auch der Grund für die bei Helga Dussmann festgestellten Hämatome.
Da es sich bei den Beurteilungen des Neurologen lediglich um Beobachtungen handelt, wird ein Facharzt für Hämatologie bemüht. Der bestätigt die verstärkte Blutungsbereitschaft bei Alkoholabhängigen und erklärt dazu, dass für derlei Erscheinungen Gerinnungsstörungen verantwortlich seien, bedingt durch pathologische Veränderungen in Leber und Milz, aber auch als Folge unmittelbarer toxischer Wirkung auf das Knochenmark. Weil man sich bei der Kripo nicht auf eine Einzelmeinung verlassen will, werden Hämatologen an 15 medizinischen Fakultäten um Stellungnahme gebeten, die sämtlich bestätigen, dass bei längerem Alkoholmissbrauch Spontanblutungen ohne Traumatisierung grundsätzlich möglich sind.
Die Mordkommission sieht sich in ihrer Version bestätigt – allerdings kann ein Tötungsdelikt nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dafür sind die im rechtsmedizinischen Befund geäußerten Verdachtsmomente zu schwerwiegend. Also wird die Öffentlichkeit mit dem Fall konfrontiert. Die Kripo will auf diese Weise Zeugen ausfindig machen, die tatrelevante Beobachtungen gemacht haben. Doch es meldet sich niemand. Auch Nachforschungen im Obdachlosenmilieu, in dem Helga Dussmann bestens bekannt war, bringen keine neuen Erkenntnisse.
Hellhörig wird die Kripo jedoch, als Zeugen darüber berichten, dass Helga Dussmann und Britta Dahlbokum, die damalige Mitbewohnerin, ein Paar gewesen seien. Dabei habe Britta Dahlbokum die Beziehung dominiert und ihre Freundin mehrfach körperlich schwer misshandelt. Immer dann, wenn Helga Dussmann nicht pariert oder aufbegehrt habe, sei sie von ihrer Lebensgefährtin brutal geschlagen und getreten worden – blutunterlaufene Augen, ausgerissene Haarbüschel und unverkennbare Schlagverletzungen im Gesicht seien nach solchen Auseinandersetzungen bei der Verstorbenen gewöhnlich zu beobachten gewesen. Man habe Helga Dussmann überhaupt selten unverletzt gesehen.
Als die Mordkommission bei weiteren Vernehmungen erfährt, dass in der Tatnacht nicht nur Helga Dussmann die gemeinsame Wohnung verlassen hat, sondern auch Britta Dahlbokum, nimmt der Fall eine plötzliche Wendung. Mehrere Zeugen haben ausgesagt, dass Britta Dahlbokum nachts in einer Kneipe erschienen sei und nach Helga Dussmann gefragt habe. Sie sei betrunken gewesen und habe die Gäste lautstark angepöbelt. Erst gegen 3.15 Uhr sei die Frau gegangen. Also hat Britta Dahlbokum gelogen, als sie bei ihrer ersten Befragung behauptete, »allein zu Hause« gewesen zu sein. Hat sie ihre Freundin nach dem Kneipenbesuch schließlich doch noch gefunden? Sind die Frauen dann wieder aneinandergeraten, und ist der Streit diesmal eskaliert? Hat Britta Dahlbokum ihre Lebensgefährtin im Vollrausch aus Wut oder Eifersucht zu Tode geprügelt? Auch die Mordkommission glaubt jetzt nicht mehr an einen Unglücksfall.
Die Verdächtige wird abermals vernommen. Zunächst sagt Britta Dahlbokum aus, dass sie sich der besagten Nacht nicht entsinnen könne, sie sei wohl zu betrunken gewesen. Die Erinnerung kehrt aber dann doch bruchstückhaft zurück, als die Beamten gezielt nachfragen. Allerdings bestreitet die Verdächtige beharrlich, mit Helga Dussmann zusammengetroffen zu sein. Sie sei lediglich auf der Suche nach ihr gewesen, weil sie sich große Sorgen gemacht habe. Während der mehrstündigen Suchaktion habe sie auch ein Taxi genommen, das sie dann irgendwann nach Hause gefahren habe, als ihr die Sache zwecklos erschienen sei.
Tatsächlich gelingt es der Kripo, den Taxifahrer zu identifizieren. Der Mann berichtet, er habe Britta Dahlbokum, an die er sich besonders gut erinnern könne, weil die Frau sturzbetrunken gewesen sei, gegen 3.30 Uhr aufgenommen und sei mit ihr zum Bahnhof und zu anderen Örtlichkeiten gefahren, wo sich Nichtsesshafte üblicherweise treffen würden. Als die Suche nach ihrer Freundin erfolglos geblieben sei, habe er die Frau gegen 4 Uhr vor ihrer Wohnung abgesetzt. Mit dieser Aussage ist Britta Dahlbokum zwar nicht vollkommen entlastet, doch lässt sich ein dringender Tatverdacht gegen die Frau nicht begründen, zumal ihre jetzigen Angaben in keinem Punkt widerlegt werden konnten und zumindest teilweise durch Dritte bestätigt wurden.
Nach Wochen intensiver Ermittlungen bleibt nach Auffassung der Fahnder wenig übrig, um ein Tötungsdelikt anzunehmen. Die Auswertung aller Fakten und Erkenntnisse spricht eher dafür, dass Helga Dussmann an den mittelbaren Folgen ihrer Alkoholabhängigkeit gestorben ist. Sie ist nicht geschlagen oder erwürgt worden, sondern in knietiefem Wasser ertrunken, wahrscheinlich ungewollt.
Die schweren Schädelverletzungen dürfte sie sich bei einem unfallartigen Sturzgeschehen zugezogen haben, wird im Abschlussbericht an die Staatsanwaltschaft vermerkt. Dabei muss die Frau auf eine stumpfe Fläche aufgeschlagen sein, da an ihrem Kopf keine Verletzung festgestellt wurde, die auf die Einwirkung einer geformten Gewalt hingedeutet hätte. Helga Dussmann ist danach noch mindestens zwei weitere Male gestürzt, was die Platzwunden am Kinn beweisen. Dadurch muss es zu einem Zurückschleudern des Kopfes und infolgedessen zu einer Traumatisierung des Halses gekommen sein. Auf diese Weise dürften die Unterblutungen entstanden sein. Ein Würgevorgang wird ausgeschlossen, da weder an der Halshaut noch am Kehlkopfgerüst entsprechende Verletzungen entstanden sind. Das die Ermittler zunächst irritierende Selbstentkleiden der Frau wird als Folge der schweren Schädelfraktur in Kombination mit der alkoholbedingten Verwirrtheit angesehen – ein im Übrigen typisches Verhalten für Menschen in solch dramatischen Situationen. Allein wie und warum Helga Dussmann in den Bach geraten ist, bleibt unverständlich.