Ermittlungszeitraum: November 1929–März 1930
»Am 27. November 1929 wurde auf der Landstraße Etterzhausen – Regensburg ein verbrannter Kraftwagen mit dem Kennzeichen III 15033 und in ihm die vollkommen verkohlte Leiche eines Menschen gefunden. Als der Besitzer des Wagens wurde nach dem Kennzeichen der Münchener Kaufmann Karl Reuter ermittelt.« So lautet am nächsten Tag die kurze Zeitungsnotiz im Regensburger Anzeiger zu einem tragischen Ereignis, das in diesen Tagen keine Seltenheit darstellt und die Menschen auch nicht sonderlich bewegt. Chronistenpflicht. Die ermittelnden Behörden gehen nach Abschluss ihrer Untersuchungen von einem Verkehrsunfall aus. Auf eine Obduktion der Leiche wird verzichtet, da die Verbrennungen zu gravierend sind und keine Hinweise auf Fremdeinwirkung vorliegen. Der Leichnam wird zur Bestattung freigegeben und nach München überführt. Die Ermittlungen sind damit abgeschlossen.
Allerdings wird nur wenige Tage später im Münchener Institut für Gerichtsmedizin der Außenbeamte einer Versicherung vorstellig und berichtet, dass der Verstorbene sich erst kürzlich bei seiner und anderen Gesellschaften zu hohen Beträgen versichert habe, falls er bei einem Unfall zu Tode kommen sollte. Der Versicherungsmann regt an, die Leiche nachträglich zu obduzieren, da er aufgrund der Krankengeschichte vermute, dass Karl Reuter während der Fahrt eine Herzlähmung erlitten habe und es deshalb zum Verkehrsunfall gekommen sei. Außerdem könne auch ein Selbstmord nicht ausgeschlossen werden, um die Angehörigen, insbesondere die Ehefrau, durch die Auszahlung der beträchtlichen Versicherungssummen finanziell besserzustellen.
Weil Vorgeschichte und Todesumstände nun tatsächlich dubios erscheinen, wird noch am selben Tag eine Obduktion durchgeführt. Auf dem Sektionstisch liegt ein stark verkohlter Rumpf, damit noch verbunden die Halswirbelsäule und der Schädelgrund, ein faustgroßer Teil des Gehirns, das untere Gelenkende des rechten Oberschenkels und Teile der Arme. Die Aussichten, bei dieser Ausgangslage zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen, sind ausgesprochen gering. Dennoch beginnt man mit der Obduktion.
Zunächst stellt man fest, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelt, die Geschlechtsteile sind zwar verkohlt, in ihrer Form aber gut erhalten. Die noch vorhandenen Schamhaare sind rotblond. In der Mundhöhle, im Kehlkopf, in den unteren Teilen der Luftröhre und in den Bronchien ist auf den Schleimhäuten kein Ruß zu finden. Das Herz enthält eine geringe Menge dickflüssiges und klumpiges Blut. Im Übrigen sind fast sämtliche Organe durch die Hitzeeinwirkung gekocht, mit Ausnahme des basalen Teils des rechten unteren Lungenlappens, der, ebenso wie das Herzblut, für spätere Untersuchungen aufbewahrt wird. Der Knochenbau des Verbrannten ist für einen Mann ungewöhnlich zart und entspricht eher dem einer Frau.
Während der Untersuchung beginnt der Obduzent zu bezweifeln, dass es sich bei dem Leichnam tatsächlich um Karl Reuter handelt. Deshalb wird der anwesende Versicherungsagent gebeten, die Personenbeschreibung des Verstorbenen mitzuteilen. Aus den amtlichen Unterlagen geht hervor, dass Karl Reuter 25 Jahre alt, 1,70 Meter groß und kräftig gebaut war sowie dunkelblondes Haar hatte. Da der Verstorbene nach einer Untersuchung der knöchernen Reste der Epiphysenplatte sehr wahrscheinlich nicht älter als 22 Jahre alt geworden ist und die Haarfarbe nicht der von Karl Reuter entspricht, muss davon ausgegangen werden, dass auf dem Sektionstisch die verkohlten Überreste eines Unbekannten liegen.
Die nach der Autopsie vorgenommene spektroskopische und chemische Untersuchung des Herzblutes ergibt keinen Kohlenmonoxidgehalt. Da auch in den Atemwegen kein Ruß gefunden wird, muss der Mann verbrannt worden sein, als er schon nicht mehr gelebt hat. Nach einer mikroskopischen Untersuchung der fragmentarischen Lungenteile steht überdies fest, dass es zu einer Fettembolie gekommen ist. Demnach hat der Verbrannte kurz vor seinem Tod Verletzungen erlitten. Ferner erscheint es ausgeschlossen, dass die fehlenden Körperteile vollständig verbrannt sind. Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, dass Teile der Gliedmaßen und des Schädeldachs zuvor entfernt worden sind, um die Ermittlung der Körpergröße und der Haarfarbe unmöglich zu machen. Mit anderen Worten: Der Sezierte ist gewaltsam getötet, verstümmelt und erst dann verbrannt worden.
Diese brisanten Erkenntnisse werden der Kripo mitgeteilt, die daraufhin die Ermittlungen aufnimmt. Da man davon ausgeht, dass es zwischen Karl Reuter und seiner Ehefrau Kontakt gibt, wird Letztere observiert. Zudem überwacht die Mordkommission ihre Telefongespräche. So gelingt es den Ermittlern schon kurz darauf, frühmorgens ein Ferngespräch aus Straßburg abzufangen – ein gewisser Salvatore Scorpelli möchte mit Gerlinde Reuter sprechen. Der überwachende Beamte teilt dem Anrufer mit, dass Frau Reuter ausgegangen sei und gegen 18 Uhr zurückerwartet werde, dann könne sie telefonisch erreicht werden. Wenig später machen sich zwei Beamte der Mordkommission auf den Weg nach Straßburg, wo sie mit der französischen Kriminalbehörde ein bestimmtes Vorgehen vereinbaren.
Und tatsächlich: Um 17.55 Uhr kommt ein junger Mann zum Postamt und will das vereinbarte Gespräch mit Gerlinde Reuter anmelden. Die verdeckt postierten französischen Kriminalbeamten bekommen vom Telefonisten das vereinbarte Zeichen, woraufhin der Verdächtige festgenommen wird und sich widerstandslos abführen lässt. Als die deutschen Kriminalisten dazukommen und den Festgenommenen betrachten, besteht kein Zweifel: Es ist jener Mann, der eigentlich im Leichenschauhaus liegen sollte – Karl Reuter.
Die eine halbe Stunde später beginnende Vernehmung des nun mutmaßlichen Mörders verläuft erfolgreicher als erwartet. Der Beschuldigte gesteht unmittelbar nach Eröffnung des Tatverdachts, seinen eigenen Unfalltod inszeniert zu haben, um bei verschiedenen Versicherungen »abzukassieren«. Deswegen habe er nachts auf der Straße nach Regensburg einen Handwerksburschen als Anhalter mitgenommen und bei sich bietender Gelegenheit eine Panne vorgetäuscht. Nach Verlassen des Wagens habe er den Tank geöffnet und das Auto in Brand gesetzt. Das Opfer sei lebendig verbrannt. Nach der Tat habe er sich sofort davongemacht.
Karl Reuter bleibt bei dieser Aussage, auch als ihm in den kommenden Tagen und Wochen immer wieder vor Augen geführt wird, dass die Tat so nicht abgelaufen sein kann. Denn das Opfer muss erheblich verletzt worden sein, als es noch lebte, und es wurde verbrannt, als es nicht mehr lebte. Karl Reuter lässt sich aber nicht beeindrucken. Dafür überrascht er die Vernehmungsbeamten mit einem weiteren Geständnis: Er will kurz vor dem Mord an dem unbekannten Handwerker in seinem Wagen einen Schlosser bis in die Nähe von Ingolstadt mitgenommen und ihn dazu gebracht haben, unter das Auto zu kriechen. Als der junge Mann wieder hochgekommen sei, habe er mit einem Wagenheber mehrfach auf den Kopf des Opfers eingeschlagen. Der junge Mann sei jedoch »nicht voll getroffen« worden und habe flüchten können.
Weitere Ermittlungen ergeben, dass sein Geständnis stimmt. Ein 23-Jähriger ist zur genannten Zeit in eine Ingolstädter Klinik gekommen und hat sich wegen mittelschwerer Kopfverletzungen versorgen lassen. Allerdings haben die behandelnden Ärzte angenommen, der Patient würde lügen, als er von dem unheimlichen Autofahrer erzählte, um von einer anderen Geschichte abzulenken. Aus diesem Grund hat man die Kripo nicht informiert. Und der Verletzte hat später auch darauf verzichtet, Anzeige zu erstatten. Er habe sich von polizeilichen Ermittlungen nicht viel versprochen, teilt er der Mordkommission lapidar mit. Nichtsdestotrotz kann er seinen Peiniger bei einer Wahlgegenüberstellung einwandfrei identifizieren.
Unverständlich bleibt für die Mordkommission weiterhin, warum Karl Reuter einerseits einen Mordversuch einräumt, von dem die Kripo keine Kenntnis hat, und andererseits einen besonders grausamen Mord gesteht, dessen Verlauf ein anderer gewesen sein muss. Karl Reuter ändert seine Strategie erst, als ihm bei der Hauptverhandlung das rechtsmedizinische Gutachten vorgehalten wird. Er habe unterwegs versehentlich einen Mann überfahren, behauptet der Angeklagte nun, und den Schwerverletzten in seinem Wagen mitgenommen, in dem er kurz darauf verstorben sei. Nun habe er den Gedanken gefasst, die Leiche des Überfahrenen zu verbrennen und für einen Versicherungsbetrug zu missbrauchen. Folglich habe er den Körper ins Auto geladen, unterwegs getankt, sei noch ein Stück weitergefahren und habe am späteren Fundort den Wagen in Brand gesetzt. Das erste Geständnis sei unzutreffend gewesen, erläutert der Angeklagte. Er habe nur von einem lebendigen Verbrennen gesprochen, um zu verschleiern, dass er jemanden fahrlässig überfahren und die Leiche mitgenommen habe.
Auch wenn das neue Geständnis des Angeklagten nicht unbedingt logisch und lebensnah erscheint, stimmt es doch im Wesentlichen mit den rechtsmedizinischen Befunden überein. Deshalb wird ein zweites Gutachten in Auftrag gegeben. Und das schlägt ein wie eine Bombe. »Das erste vom Angeklagten abgelegte Geständnis kann mit den Erfahrungen der Wissenschaft in Einklang gebracht werden«, steht in der Expertise. »Gegen die Richtigkeit des zweiten Geständnisses, er habe eine Leiche verbrannt, können jedoch ärztlicherseits in verschiedene Richtungen Bedenken erhoben werden, sodass die größere Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des ersten Geständnisses spricht.«
Der zweite Sachverständige begründet seine Auffassung damit, dass bei einem im Auto lebend Verbrannten die Einatmung von Ruß und Kohlenmonoxid unterblieben sein könne, weil der Mann einen Schocktod erlitten habe. Bei diesem Phänomen handelt es sich allgemein um den plötzlichen Tod infolge extremer Reizung des vegetativen Nervensystems. Vor Gericht entbrennt daraufhin ein mit ungewöhnlicher Schärfe geführter Gutachterstreit. Der Erstgutachter hält seinem Kollegen entgegen, dass in den Lungen des Opfers eine Fettembolie nachgewiesen wurde, die einen Schocktod ausschließen würde. Denn bei diesem bleibe zu wenig Zeit, um das Fettgewebe durch Hitzeeinwirkung zu verflüssigen und vollständig zu zerstören.
Letztlich überzeugen das Gericht insbesondere die folgenden Überlegungen des Erstgutachters: Der vom Angeklagten benutzte Wagen war ein geschlossener Zweisitzer. Das im Auto sitzende, noch lebende Opfer wäre gegen die Einwirkung der Hitze und auch der Brandgase, die sich außen entwickeln, zunächst noch eine gewisse Zeit geschützt gewesen. Der Mann hätte irgendwann die Flammen oder den Qualm bemerken und den Versuch unternehmen müssen, aus dem Wagen zu flüchten. Wäre ihm dies nicht gelungen, hätten nach Einatmen der ruß- und kohlenmonoxidhaltigen Gase selbige in der Leiche nachgewiesen werden können. Und das ist eben nicht der Fall gewesen.
Noch deutlicher aber widerspricht dem ersten Geständnis des Angeklagten, dass sich nach Angaben des Zeugen, der den brennenden Wagen entdeckte, die verkohlte Leiche auf dem Fahrersitz befand. Dort hätte der Mann als Anhalter gewiss nicht sitzen dürfen. Außerdem erscheint dem Gericht die sofortige Flucht des Angeklagten unplausibel. Warum sollte Karl Reuter das Opfer nach In-Brand-setzen des Wagens sich selbst überlassen haben und damit das hohe Risiko eines Fehlschlags eingegangen sein, zumal er kurz zuvor entsprechende negative Erfahrungen gemacht hatte. Ein solches Verhalten erscheint weder schlüssig noch lebensnah.
Als der Vorsitzende dem Angeklagten zu verstehen gibt, dass seine bisherigen Angaben unglaubwürdig seien, erzählt Karl Reuter wieder eine andere Geschichte. Er habe das Opfer schon von Reichenbach aus mit dem Wagen mitgenommen, aber erst in der Gegend von Regensburg hätte sich eine günstige Gelegenheit ergeben, als sein Mitfahrer begonnen habe zu frieren. Er, der Angeklagte, habe das Opfer fest in eine Reisedecke eingehüllt und ihm von hinten eine bereitgehaltene Schnur um den Hals gelegt und so lange zugezogen, bis der Tod eingetreten sei. Die Leiche habe er noch ein Stück mitgenommen und sie verbrannt, nachdem er sie auf den Fahrersitz gehoben habe.
Aber auch diese Version kann nur teilweise zutreffend sein, weil der Angeklagte das Opfer am Kopf und an den Gliedmaßen verstümmelt haben muss. Wahrscheinlich schämt sich Karl Reuter für die begangenen Scheußlichkeiten und möchte sie deshalb lieber für sich behalten. Dem Gericht genügen jedoch die vorliegenden Beweise, und es verurteilt den Angeklagten zum Tod. So stirbt Karl Reuter zweieinhalb Monate später ein zweites Mal, nun aber unter dem Fallbeil des Scharfrichters.