Ermittlungszeitraum: März–Juli 1974
Es ist der 8. März, als um 20.20 Uhr der Bereitschaftsbeamte des für Todesermittlungsverfahren zuständigen 1. Kriminalkommissariats darüber informiert wird, dass soeben in einer Wohnung die Leiche einer älteren Frau gefunden wurde. Es sei zweifelsfrei von einem Tötungsdelikt auszugehen. Bereits eine Dreiviertelstunde später nimmt die zwölfköpfige Mordkommission ihre Arbeit auf, unterstützt von einem Dezernenten der Staatsanwaltschaft.
Bei der Toten handelt es sich um Olga Grunden, eine 63-jährige Rentnerin, die seit fünf Jahren allein in einer Zweizimmerwohnung im Parterre eines eingeschossigen Reihenhauses gewohnt hat. Gefunden worden ist die Frau von ihrer einzigen Bekannten, die misstrauisch wurde, nachdem Olga Grunden in den vergangenen zwei Tagen zu unterschiedlichen Zeiten auf mehrere Anrufe nicht reagiert hatte. Die Zeugin berichtet der Kripo, dass der Wohnungsschlüssel von innen im nicht verriegelten Schnappschloss gesteckt habe.
Bei der Tatortaufnahme bietet sich den Ermittlern folgendes Bild: Das Opfer liegt vollständig bekleidet rücklings auf dem Fußboden der Wohnküche. Am oberen Hinterkopf sind zwei Platzwunden zu erkennen, die beide drei Zentimeter lang sind und in einem Abstand von einem Zentimeter parallel verlaufen. Um den Hals ist ein feuchtes Frotteehandtuch gewickelt, fest zugezogen und im Nacken überkreuzt. Die Kleidung der Toten ist unversehrt. Hinweise auf ein Sexualverbrechen oder einen Kampf zwischen Opfer und Täter liegen nicht vor. Die Leichenstarre ist in den unteren Gelenken noch deutlich ausgeprägt. Bis auf einige Münzen, die in der Küche auf dem Fußboden liegen, finden die Beamten kein Bargeld in der Wohnung. Im Küchenschrank liegt eine leere Geldbörse.
Im Spülstein steht eine mit Wasser gefüllte Plastikschüssel, in der folgende Geschirrteile eingetaucht sind: zwei Kaffeetassen, zwei Untertassen, ein Dessertteller, zwei Küchenbrettchen, ein Brotmesser und zwei Schmiermesser, eins davon mit Fettanhaftungen. Im Wasser der Schüssel schwimmt eine Brotkruste. Auf einem kleinen Tisch neben dem Spülstein steht eine Kaffeekanne mit einem alten Sieb, in dem noch der Kaffeesatz klebt. Daneben befindet sich ein leeres, aber nicht gereinigtes Weinglas. Die Tatortspezialisten suchen insbesondere nach Spuren an der Bekleidung des Opfers, untersuchen Nägel und Haare, machen Folienabzüge der Handinnenflächen und sichern in der Wohnung Fingerspuren.
Bei der am darauffolgenden Tag durchgeführten Autopsie wird festgestellt, dass Olga Grunden erdrosselt wurde. Die durch »stumpfe Gewalt« verursachten Kopfverletzungen hingegen hätten den Tod nicht herbeiführen können. Mit welchem Gegenstand die Frau verletzt wurde, kann der Gerichtsmediziner nicht mitteilen. Das Schlagwerkzeug wird weder in der Wohnung des Opfers noch in der näheren Umgebung gefunden. Die eigenartig symmetrischen Kopfschwartenverletzungen stellen die Mordkommission vor ein Rätsel und bieten Spielraum für verschiedene Interpretationen: Hat der Täter möglicherweise zweimal zugeschlagen und dabei zufällig den zweiten Hieb genau neben den ersten gesetzt? Oder ist das Opfer während der Schläge bewegungslos gewesen?
Die Bestimmung der Tatzeit bereitet der Mordkommission ebenfalls Schwierigkeiten. Das letzte Lebenszeichen der Frau hat eine Nachbarin am 5. März beobachtet, als gegen 19.30 Uhr in der Wohnung der Getöteten die Küchengardinen zugezogen wurden. Einen Tag später hat Olga Grunden entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten nicht ihren Hausmüll rausgestellt, der am Vormittag des 7. März hätte abgeholt werden sollen.
Erst fünf Tage nach Entdeckung der Tat melden sich zwei ältere Damen bei der Kripo und berichten, der Getöteten noch in den Abendstunden des 6. März auf der Straße begegnet zu sein. Allerdings können die Ermittler nicht mit Sicherheit ausschließen, dass sich die Zeuginnen geirrt haben, da der beschriebene Mantel, den Olga Grunden getragen haben soll, in ihrer Wohnung nicht gefunden werden kann.
Auch der Mageninhalt der Toten – Roggenbrot, Fett und Kaffee – lässt keinen Rückschluss auf den Zeitpunkt der letzten Mahlzeit zu. Zudem ist es dem Gerichtsmediziner nicht möglich gewesen, den Verdauungszeitraum näher einzugrenzen. Bedeutsam erscheint der Kripo auch, dass im Korridor der Opferwohnung zwei aufgerollte Teppichläufer aus dem Schlafzimmer gestanden haben. Demnach dürfte Olga Grunden mit dem Putzen begonnen oder aber ihre Arbeiten bereits beendet haben. Nach alldem gehen die Ermittler davon aus, dass die Tatzeit in den Abendstunden des 5. März liegt.
Olga Grunden lebte nach übereinstimmenden Angaben der Angehörigen und Nachbarn ausgesprochen zurückgezogen, Fremden gegenüber war sie vorsichtig und scheu. Besucher, die nicht mit ihr verwandt waren, ließ sie gar nicht erst in die Wohnung, sondern sprach mit den Leuten durch das Klappfenster bei geschlossener Korridortür. Mittlerweile gehen die Ermittler von einem Raubmord aus, da Olga Grunden nur wenige Tage vor ihrem Tod ihre Rente von der Bank abhob, in der Wohnung jedoch kein Geld gefunden wurde. Weil am Tatort keine Spuren von Unordnung oder Verwüstung erkennbar waren, nehmen die Ermittler an, dass der Täter sich in der Wohnung ausgekannt hat. Schließlich deutet auch das in der Plastikschüssel gefundene doppelt vorhandene Geschirr darauf hin, dass Olga Grunden ihren Mörder bewirtet hat, der demnach kein Fremder für sie gewesen sein dürfte.
In der Tatortwohnung findet man nur Fingerspuren, die vom Opfer selbst, dem ältesten Sohn und dessen Frau stammen, die zwei Tage vor dem Mord zu Besuch gewesen sind. Demzufolge geht die Kripo von einer Beziehungstat aus, auch wenn die Angehörigen des Opfers darauf hinweisen, dass Olga Grunden einigen Bettlern, die regelmäßig bei ihr geklingelt hätten, kleinere Geschenke gemacht habe. Allerdings hat man zu keinem Zeitpunkt einen Fremden in ihrer Wohnung gesehen oder angetroffen.
Gerd Grunden, der Sohn der Getöteten, hatte nur wenige Tage vor dem Mord einen heftigen Disput mit seiner Mutter, in dessen Verlauf er beinahe handgreiflich geworden wäre, berichten Zeugen. Der 45-jährige Elektroinstallateur wird daraufhin vernommen, kann aber ein Alibi vorweisen, das ihm seine Frau gibt. Die behauptet, mit ihrem Mann an besagtem Abend zu Hause gewesen zu sein. Obwohl die Ermittler diese Aussage für eine Schutzbehauptung halten, sind ihnen zunächst die Hände gebunden, da sie bei einer Durchsuchung der Wohnung keine Beweise für eine Täterschaft oder Beteiligung an der Tat finden können.
Die Ermittlungen gestalten sich auch sonst überaus schwierig. In der Umgebung des Tatorts wohnen in erster Linie ältere Menschen, denen man eine ängstliche Zurückhaltung und Scheu, bei der Kripo eine Aussage zu machen, deutlich anmerkt. Obwohl kaum jemand zugibt, etwas gesehen oder gehört zu haben, wird die Mordkommission täglich mit anonymen telefonischen Beschuldigungen und Briefen konfrontiert, die mitunter langwierige Ermittlungen auslösen und doch zu nichts führen. Sisyphusarbeit.
Weil die Ermittler nach wie vor von einer Beziehungstat ausgehen, werden abermals sämtliche Angehörigen des Opfers vernommen. Und dabei kommt heraus, dass die wassergefüllte Plastikschüssel in der Küche der Tatortwohnung von Olga Grunden nicht – wie von der Kripo angenommen – zum Spülen, sondern ausschließlich für die Körperpflege benutzt wurde. Daraus folgt wiederum, dass nicht die Getötete selbst, sondern der Täter das Geschirr abgeräumt und in die Schüssel gelegt haben dürfte, weil ihm die häuslichen Gepflogenheiten des Opfers nicht bekannt waren. Also doch keine Beziehungstat? Ist der Tatortbefund falsch interpretiert worden?
Neben der Sache mit der Waschschüssel erkennt die Kripo einen weiteren Ermittlungsansatz: Da in der Plastikwanne nicht alle Geschirrteile vollständig unter Wasser gestanden haben, könnte der Täter vielleicht eine Fingerspur hinterlassen haben. Und tatsächlich kann bei den folgenden Untersuchungen am oberen Rand einer Kaffeetasse eine brauchbare Spur gesichert werden, die zu keinem anderen bereits identifizierten Spurenleger passt.
Als die Beamten des Erkennungsdienstes nach mühsamen Vergleichsuntersuchungen endlich einen Treffer landen, ist die Überraschung groß – bei der Spurenlegerin handelt es sich nämlich um eine Frau, die bereits überprüft wurde: Sechs Tage nach der Tat ging ein anonymer Hinweis ein, dass in den letzten Tagen des vergangenen Jahres zwei Beerdigungen stattgefunden hätten, bei denen auch Olga Grunden als Trauergast gewesen sei. Es wurden jeweils Angehörige derselben Großfamilie bestattet. Bei der Überprüfung dieser Familie stießen die Ermittler auch auf eine gewisse Luise Dettmer, die in ihrer Wohnung aufgesucht und gefragt wurde, ob sie Olga Grunden gekannt habe. Die 34-Jährige gab sich sehr freundlich und verbindlich und verneinte glaubwürdig, dem Opfer jemals begegnet zu sein. Weil während der Befragung der dreifachen Mutter ein Kindergeburtstag gefeiert wurde und Luise Dettmer den Beamten vollkommen unverdächtig erschien, wurde nichts weiter unternommen.
Nun liegen die Dinge anders. Luise Dettmer muss am Tattag in der Wohnung des Opfers gewesen sein. Damit ist die Frau dringend tatverdächtig. Zudem stellt sich heraus, dass die gelernte Schneiderin bereits mehrfach aktenkundig geworden ist, und zwar wegen wiederholten Bürodiebstahls bei ihren ehemaligen Arbeitgebern. Für diese Taten wurden sechs Monate Haft verhängt, die sie voll verbüßen musste. In der letzten Zeit ist Luise Dettmer jedoch nicht mehr auffällig geworden. Sie gilt heute vielmehr als besonnen und überlegt handelnde Frau, die jeden Streit vermeidet. Zudem hat sie wie ihr Mann ein geregeltes Einkommen als Haushaltshilfe – die fünfköpfige Familie lebt in geordneten finanziellen Verhältnissen. Und jetzt soll diese eher unscheinbare Frau kaltblütig einen Mord begangen haben? Aus Habgier? Für bestenfalls einige Hundert Mark, die sie sich jederzeit auch auf legalem Weg hätte verdienen können?
Zwei Kriminalbeamte fahren zur Arbeitsstelle der Verdächtigen. Wieder macht die Frau einen gelösten und unbefangenen Eindruck, auch als ihr eröffnet wird, dass die Mordkommission sie vernehmen muss. Auf der Fahrt ins Präsidium plaudert die Frau munter mit den Kommissaren, erzählt von den Kindern, ihrem neuen Arbeitsplatz und dem guten Verhältnis zu ihrem Chef – keine Spur von Angst, Scham oder Unsicherheit.
Erst im Vernehmungsraum der Mordkommission wird Luise Dettmer gesagt, dass sie in Verdacht geraten sei, Olga Grunden getötet zu haben. Die Frau reagiert heftig und entrüstet sich, Opfer eine üblen Verleumdung zu sein. Sie habe die Tatortwohnung niemals betreten, versichert die Verdächtige. Nun spielen die Ermittler ihre Trumpfkarte aus und halten Luise Dettmer vor, dass ihre Fingerspur an einer Kaffeetasse nachgewiesen wurde. Keine Reaktion. Die Beamten wiederholen ihre Vorhaltung und verdeutlichen, welchen Beweiswert dieser Fingerprint hat. Wieder keine Reaktion. Nochmals erklären die Kommissare geduldig, in welch prekärer Situation sich die Verdächtige befindet und dass die Behauptung, sie sei niemals in der Wohnung des Opfers gewesen, nicht stimmen kann.
Nach mehreren Minuten bricht Luise Dettmer das Schweigen: »Ja, ich gebe es zu. Ich habe Olga Grunden an diesem Tag besucht, um mit ihr über meine Eheprobleme zu reden. Wir kannten uns schon längere Zeit über meine kürzlich verstorbene Mutter, mit der sie früher auf dieselbe Schule ging. Olga war immer so verständnisvoll, wenn ich mit meinen Sorgen zu ihr kam. Als sie am späten Abend für einen Moment ins Badezimmer ging, habe ich mich in die Küche geschlichen und das Geld aus der Brieftasche genommen. Warum ich das gemacht habe, weiß ich selbst nicht. Olga war total sauer, als sie mich dabei erwischt hat.«
Daraufhin sei es zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen, erzählt Luise Dettmer. Dabei habe sie der Frau mit einer halb vollen und zugekorkten Weinflasche auf den Kopf geschlagen. Das Opfer sei zu Boden gegangen und ohnmächtig liegen geblieben. Luise Dettmer will etwa eine Viertelstunde lang erfolglos versucht haben, Olga Grunden wieder zu Bewusstsein zu bringen. Währenddessen habe sie fieberhaft überlegt, was sie weiter unternehmen solle. Schließlich sei sie vom ungewollten Tod der alten Dame überzeugt gewesen und habe das feuchte Frotteehandtuch um den Hals des Opfers geschlungen, um einen Mord durch einen Fremden vorzutäuschen. Die Weinflasche habe sie in eine mitgebrachte Plastiktüte gesteckt und später in einem unwegsamen Waldgelände entsorgt.
Luise Dettmer will demnach keine Mörderin sein, sondern aus Notwehr und ohne Tötungsvorsatz gehandelt haben. Bei dieser Version bleibt sie bis zur Hauptverhandlung. Ausschlaggebend für das Urteil ist letztlich, dass der medizinische Sachverständige unbestreitbar darlegt, dass die alleinige Todesursache das Strangulieren mit dem Handtuch gewesen sei und am Tatort eine Fingerspur der Angeklagten gesichert wurde. Zudem wiegt das – wenn auch in Teilbereichen zweifelhafte – Geständnis schwer. Aufgrund dieser Beweise wird Luise Dettmer wegen Mordes aus Habgier zu lebenslanger Haft verurteilt.