Seppuku

Ermittlungszeitraum: Januar 2002

»In der Ursulinengasse 17 hat es vor Kurzem ein Tötungsdelikt gegeben. Beteiligt sind nach bisherigen Ermittlungen Andrea und Oskar Steinbauer.« Die durch die Einsatzleitstelle alarmierten Beamten der Mordkommission treffen am Tatort auf ihre Kollegen von der Schutzpolizei, die berichten, dass Andrea Steinbauer, die Ehefrau des Opfers, bei ihrer Rückkehr von der Arbeit ihren Mann mit schweren Verletzungen und blutüberströmt auf dem Boden liegend gefunden habe. Er sei nicht mehr ansprechbar gewesen.

Weiter erfahren die Todesermittler, dass man vor dem Abtransport im vorderen Halsbereich des Mannes eine Durchtrennung des Kehlkopfes erkannt hat. Außerdem ist der Bauch eröffnet gewesen, aus dem die Gedärme hervorgetreten sind. Einige bis zu einem halben Meter lange Darmstücke haben neben dem Schwerverletzten gelegen, der Notarzt hat mehrere Teile davon mitgenommen. Zudem ist der Mann am Hodensack verletzt worden – insgesamt ist die Wahrscheinlichkeit seines Überlebens eher gering. Nachdem er in den Krankenwagen gebracht wurde, haben die Polizisten im Schlafzimmer auf dem Fußboden ein kleines blutverschmiertes Küchenmesser gefunden, vermutlich die Tatwaffe. Die Ehefrau hat ausgesagt, dass das Messer nicht aus ihrem Haushalt stamme, sie sehe es zum ersten Mal.

Die Wohnung des Ehepaars Steinbauer befindet sich im zweiten Stock eines Altbaus. Die Eingangstür ist mit einem herkömmlichen Buntbart-Einsteckschloss, das nicht mehr vollständig verriegelt, und einem Zylinderkastenschloss versehen. Andrea Steinbauer, sichtlich unter Schock stehend, sagt den Ermittlern, das Schloss sei beim Heimkommen versperrt gewesen. Die Beamten stellen daraufhin fest, dass alle Wohnungsschlüssel vorhanden und sämtliche Fenster verschlossen sind. Neben diesem Aspekt erscheint der Kripo auch verdächtig, dass an beiden Händen und an einem Fußgelenk der 54-Jährigen reichlich Blut klebt.

Am Tatort gibt es keine Hinweise auf ein Kampfgeschehen oder darauf, dass sich dort kürzlich eine unbekannte Person aufgehalten haben könnte. Im Schlafzimmer, wo Andrea Steinbauer ihren Mann gefunden haben will, ist der Teppich blutdurchtränkt. Der 61-Jährige muss demzufolge einen hohen Blutverlust erlitten haben. Während einer zeitgleich durchgeführten Befragung der übrigen Hausbewohner erkennt der gegenüber wohnende Nachbar das kleine Küchenmesser wieder. Es gehöre Oskar Steinbauer, der es ihm vor zwei Tagen zum Schärfen gegeben habe.

Demnach dürfte Andrea Steinbauer die Unwahrheit gesagt haben, als sie behauptete, das Messer noch nie im Leben gesehen zu haben. Dringend tatverdächtig erscheint die Hausfrau aber vor allem deshalb, weil bei den üblichen Hintergrundrecherchen herauskommt, dass es mit ihrer Ehe, aus der zwei mittlerweile erwachsene Kinder hervorgegangen sind, nicht zum Besten steht – gegen Oskar Steinbauer wurde nämlich vor anderthalb Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung eine Bewährungsstrafe verhängt, nachdem er seine Frau krankenhausreif geprügelt hatte. Zur »Vorgeschichte« heißt es im Urteil:

»Nach der Geburt der älteren Tochter veränderte sich der Angeklagte zu einer dominant-narzisstischen Persönlichkeit. Das patriarchalische und despotische Verständnis seiner Position in der Familie richtete sich gegen seine Ehefrau und die beiden Töchter. Ein nicht vollständig gepackter Schulranzen reichte dem Angeklagten als Anlass aus, die Töchter von hinten an den Hals zu fassen und ihren Kopf mit Gewalt für einen längeren Zeitraum in den Tornister zu drücken. Die Ehefrau des Angeklagten erhielt nicht selten Schläge mit der Hand. Dies geschah meist dann, wenn sie sich schützend vor die Kinder stellte. Im Übrigen verhielt sie sich ihrem Ehemann gegenüber meistens still und zurückhaltend, immer darauf bedacht, einen Streit zu vermeiden. Wenn er sich in Rage steigerte, schlug er wahllos auf sie und die Töchter ein, ohne darauf zu achten, an welcher Körperstelle er sie traf.

Bei Anwesenheit Dritter jedoch verstand er es, sich zurückzunehmen und sich nur auf verbale Zurechtweisungen zu beschränken, weil ihm nach außen das Bild einer intakten und harmonischen Familie wichtig war. Sobald die Familie aber wieder unter sich war, holte der Angeklagte die körperlichen Bestrafungen nach. Die aggressiv geprägten Phasen hielten tage- oder wochenlang an. Zu Gesprächen über seine Übergriffe oder gar zu Entschuldigungen für sein gewalttätiges Fehlverhalten war er nie bereit.«

Die Ermittler wissen nun, dass die Ehe für Andrea Steinbauer die Hölle gewesen sein muss. Obwohl die Frau, jedenfalls nach Aktenlage, noch niemals gewalttätig geworden ist und auch in der vorliegenden Urteilsbegründung als überaus zurückhaltende Person charakterisiert wird, hält man es für möglich, dass Andrea Steinbauer vielleicht im Affekt versucht haben könnte, ihren Mann zu töten. Dafür sprechen neben der besonderen Tatortsituation auch die gravierenden Verletzungen, die Oskar Steinbauer beigebracht wurden. Wenn ein Fremder den Mann hätte töten wollen, warum hätte er nach dem Kehlschnitt noch Verstümmelungen vornehmen sollen, insbesondere im Genitalbereich? Die Tat hat nach Einschätzung der Mordkommission eher rituell-sadistische Züge, die für eine hochemotionale Bestrafungshandlung sprechen – vollzogen von jemandem, der das Opfer gekannt und gehasst haben muss.

Die ungewöhnliche Qualität und Intensität der Gewalt wird erst in ihrem vollen Ausmaß erkennbar, als der medizinische Befund vorliegt. Demnach sind Oskar Steinbauer folgende Verletzungen zugefügt worden: ein tiefer Weichteilschnitt bis zum Halswirbel mit Durchtrennung des Kehlkopfes und der Mund- und Nasenhöhle; Eröffnung des Bauches zwischen Brustkorb und Becken durch einen 12 Zentimeter langen Schnitt, der nach rechts verläuft und mit zahlreichen Dünndarmdurchtrennungen und -entfernungen einhergeht; Hodenfreilegung links mit Hodenfiletierung.

Natürlich ziehen die Ermittler auch in Betracht, dass Oskar Steinbauer sich die Verletzungen selbst zugefügt haben könnte. Nur ist kein Motiv für einen versuchten Selbstmord zu erkennen, und es gibt auch keinen Abschiedsbrief. Außerdem erscheint es nicht vorstellbar, dass der Mann körperlich dazu in der Lage gewesen sein könnte, sich diese gravierenden und äußerst schmerzhaften Verletzungen nacheinander beizubringen. Das Opfer selbst kann nicht befragt werden, da es noch nicht vernehmungsfähig ist. Allerdings werden die Überlebenschancen mittlerweile wesentlich höher eingeschätzt.

Die Ermittlungen gegen Andrea Steinbauer und ihre Töchter werden nun forciert, da es keine Hinweise darauf gibt, dass ein Fremder in die Wohnung eingedrungen sein könnte. Die Frauen werden ins Präsidium gebracht und getrennt voneinander vernommen. Der bislang eher vage Verdacht gegen die Töchter, sich am jähzornigen und gewalttätigen Vater für die jahrelang erlittenen Demütigungen und körperlichen Misshandlungen gerächt zu haben, muss schon bald zurückgenommen werden, da beide Frauen ein nicht zu erschütterndes Alibi nachweisen können. In ihren Vernehmungen bringen die Töchter immer wieder deutlich zum Ausdruck, dass sie ihrer Mutter, die Gewalt stets verabscheut habe, eine solche Tat niemals zutrauen würden. Dies sei ausgeschlossen.

Andrea Steinbauer selbst bestreitet ebenfalls, ihrem Mann Gewalt angetan zu haben. Sie bestätigt unter Tränen, von ihm regelmäßig beleidigt und geschlagen worden zu sein, nur habe sie sich aus dieser »Ehehölle« nicht lösen können, da sie von ihrem Peiniger finanziell abhängig sei. Die Frau erzählt, dass sie Oskar als junge Frau kennengelernt habe und schon kurz darauf schwanger geworden sei: »Da konnte ich keinen Beruf erlernen, ich musste mich um die Familie kümmern. Mein Mann hat das Geld verdient, ich habe den Rest erledigt. Das war unsere Absprache. Ich hätte ja nie gedacht, dass Oskar sich zu so einem Scheusal entwickeln würde.«

Im Übrigen bleibt Andrea Steinbauer bei ihren ersten Angaben, die sie gegenüber den Schutz- und Kriminalbeamten am Tatort gemacht hat. Die Frau kann aber nicht erklären, warum sie die Tatwaffe, an der wegen der starken Beblutung keine Fingerspuren mehr gesichert werden konnten, noch nie gesehen haben will – schließlich müsste sie den eigenen Haushalt doch am besten kennen. Dafür kann Andrea Steinbauer darstellen, wie die Blutspuren an ihre Hände und das Fußgelenk gekommen sind: Als sie ihren Mann im Schlafzimmer gefunden habe, gibt sie zu Protokoll, habe sie versucht, ihn hochzuheben. Die Vernehmung dauert mehr als drei Stunden, in denen die Beamten alle Register ziehen. Doch Andrea Steinbauer bleibt dabei: »Ich war es nicht!«

Um auszuschließen, dass bei der Tatortarbeit etwas übersehen wurde, wird die Wohnung nochmals unter die Lupe genommen. Und dabei finden die Beamten im Wohnzimmer bei der Durchsicht von diversen Papieren und Dokumenten, die ungeordnet auf einem Stapel liegen, einen dreiseitigen Computerausdruck, der aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia stammt und bisher einfach nicht bemerkt wurde. Der Artikel handelt von »Seppuku« – gleichbedeutend mit »Harakiri« –, einer ritualisierten Art des männliches Suizids, die in der Mitte des 12. Jahrhunderts bei den Samurai-Kriegern in Japan praktiziert und erst im Jahre 1868 offiziell verboten wurde.

Die Kommissare sind verblüfft, als sie über den Ablauf dieser Selbsttötungsmethode lesen. Demnach schnitt sich beim »Seppuku« der im »Seiza« sitzende Mann nach Entblößung des Oberkörpers mit einer in Papier gewickelten und zumeist speziell für diesen Anlass aufbewahrten Klinge den Bauch ungefähr sechs Zentimeter unterhalb des Nabels von links nach rechts mit einer abschließenden Aufwärtsführung der Klinge auf. Dabei wurde die unmittelbar vor der Wirbelsäule liegende Aorta angeschnitten oder ganz durchtrennt, was einen sofortigen Blutdruckabfall und einen Bewusstseinsverlust innerhalb kürzester Zeit zur Folge hatte. Nach Ausführung der Schnitte wurde von einem bereitstehenden Assistenten der Hals von der Halswirbelsäule her weitgehend, aber nicht vollständig durchtrennt, um einen schnellen Tod herbeizuführen.

Die Ermittler stellen nach nochmaligem Studium des medizinischen Befundes fest, dass sämtliche bei Oskar Steinbauer diagnostizierten Verletzungen zu einem »Seppuku« passen. Hat der Mann tatsächlich versucht, sich diesem Ritus entsprechend das Leben zu nehmen, und ist dieser Versuch nur gescheitert, weil niemand assistierte und der Mann zu früh gefunden wurde?

Acht Tage nach der Tat ist Oskar Steinbauer vernehmungsfähig. Zwar kann er wegen seiner schweren Halsverletzung nicht sprechen, doch beantwortet er alle Fragen schriftlich. Gleich zu Beginn, ohne danach gefragt worden zu sein, teilt der Mann mit, dass er sich die Verletzungen selbst beigebracht und sich dabei an »Seppuku« orientiert habe. Anlass sei ein jahrelanger Erbstreit mit seinem Bruder gewesen und dass man ihm in der Firma mitgeteilt habe, er müsse in nächster Zeit mit einer Kündigung rechnen. Außerdem hätten ihm seine Nachbarn zu verstehen gegeben, dass sie über seine Gewalttätigkeiten innerhalb der Familie Bescheid wüssten – für Oskar Steinbauer ein nicht hinnehmbarer Gesichtsverlust.

Schließlich beschreibt er, wie die Sache abgelaufen ist: Zunächst habe er sich in den Hals geschnitten und dabei Kehlkopf bzw. Luft- und Speiseröhre durchtrennt. Danach habe er die Bauchdecke aufgetrennt, anschließend den Hodensack eröffnet und den linken Hoden filetiert. Hierauf habe er die Darmstücke abgeschnitten, die aus dem Bauch herausgequollen seien. Wann die ersten größeren Schmerzen eingesetzt haben, kann der Mann nicht sagen. Er könne sich lediglich daran erinnern, dass ihm das Schneiden am Hodensack wehgetan habe.