Wo feiert man seinen Hochzeitstag?

Ermittlungszeitraum: Oktober 1950

Die Tote sitzt in der Küche ihres Einfamilienhauses im Gladiolenweg 12 auf einem Holzstuhl, der Kopf liegt nach rechts geneigt auf der Tischplatte. Die Augen sind geschlossen, die Arme hängen schlaff am Körper herunter. Auf dem Küchentisch steht eine leere Flasche Wein. Anzeichen von Gewalteinwirkung sind an der Leiche nicht festzustellen. Der bereits anwesende Hausarzt sagt den Kriminalbeamten, es handele sich wohl um einen Freitod durch Leuchtgasvergiftung.

Leuchtgas – auch Stadtgas genannt – ist ein zu dieser Zeit allgemein als Heizmittel genutzter Brennstoff, der durch Kohlevergasung hergestellt wird und wegen seines Kohlenmonoxidanteils giftig ist. Dass Menschen Leuchtgas zweckentfremden, um sich das Leben zu nehmen, ist keine Seltenheit. Erst Jahre später wird man Leuchtgas vielerorts durch das brennbare und technisch eher unkomplizierte Erdgas ersetzen.

Bei der Toten handelt es sich um Heike Knaus, eine 42-jährige früh pensionierte Grundschullehrerin. Bertram Knaus, der Ehemann, hat seine Frau gefunden und sofort den Hausarzt und die Polizei informiert. Der 47 Jahre alte Mann, von Beruf kaufmännischer Abteilungsleiter in einem Stahlunternehmen, berichtet den Kripobeamten, er habe mit seiner Frau am gestrigen Abend anlässlich des siebzehnten Hochzeitstages eine Flasche Wein getrunken. Zu vorgerückter Stunde sei ihm jedoch nicht ganz wohl gewesen und deshalb habe er gegen 22.30 Uhr das Haus verlassen, um sich die Beine zu vertreten. Während des Spaziergangs habe er Durst bekommen und sei mit der Straßenbahn in sein Stammlokal gefahren. Gegen 1.30 Uhr habe er sich auf den Heimweg gemacht und schließlich in der Küche seine Frau entdeckt. Erst als er den Gasgeruch wahrgenommen habe, sei ihm klar geworden, was passiert sei. Daraufhin habe er die Gashähne kontrolliert und zugedreht.

Bertram Knaus übergibt den Beamten unaufgefordert die Rechnung des Restaurants und das Bahnticket. Zum Verbleib der Weingläser befragt, gibt der ausgesprochen höfliche und elegant gekleidete Mann zu Protokoll, er habe die Gläser nach dem Gebrauch sofort gespült und in den Schrank zurückgestellt – das halte er immer so. Der Befragte macht auf die Kommissare einen tief betroffenen und leidenden Eindruck. Schließlich fragen ihn die Ermittler noch, ob er sich vorstellen könne, warum seine Frau Selbstmord verübt habe. Bertram Knaus berichtet darauf von schweren Depressionen der Verstorbenen, von Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust und motorischer Unruhe. Erst vor drei Wochen habe sie davon gesprochen, sich das Leben zu nehmen. Er habe diese Ankündigungen sehr ernst genommen und darauf gedrungen, dass seine Frau mit ihrem Psychologen Kontakt aufnimmt. Bertram Knaus schlägt vor, dass sich die Beamten bei dem Therapeuten melden, um Näheres über die psychische Erkrankung seiner Frau zu erfahren.

Der Psychologe erläutert den Ermittlern, dass die Frau manisch-depressiv gewesen sei. Bei dieser Störung lerne der Betroffene beide Seiten des Spektrums kennen – in der depressiven Stimmung sei der Erkrankte melancholisch und deprimiert, wohingegen er in der manischen Phase besonders aktiv und energiegeladen sei, auch weniger Schlaf benötige und eine Unzahl von Ideen entwickle. In diesem gefährlichen Zustand verliere der Patient die Fähigkeit, sein Handeln und die daraus entstehenden Konsequenzen vernünftig einzuschätzen. Letztmals sei Heike Knaus vor drei Wochen bei ihm in der Praxis gewesen und habe insbesondere darüber geklagt, dass das Leben für sie nur noch schwer zu ertragen sei. Allerdings habe die Frau nicht konkret über eine Selbsttötungsabsicht gesprochen.

Zwei Tage nach dem Suizid kommt Bertram Knaus ins Präsidium und übergibt den Beamten das Tagebuch seiner Frau, von dem er bisher nichts gewusst und das er erst jetzt beim Entsorgen ihrer persönlichen Dinge gefunden habe. Darin können die Ermittler auch nachlesen, in welch seelischem Dilemma sich die Frau befunden hat:

»14. Juli: Drei lange Tage, drei depressive Abstürze, die es wieder mal in sich hatten. Ich weine innerlich fast unentwegt, ich will nicht mehr in dieser dunklen Welt sein, in der es für mich keine Hoffnung gibt. Bertram kann mir auch nicht helfen, obwohl er sich sehr um mich bemüht. Nein, ich bin momentan nicht so gefährdet, dass ich in eine Klinik müsste. Ja, ich habe einen Plan für Notfälle. Ich bin bloß … zerstört, einfach zerstört.«

»25. Juli: Ich kann das nur für mich allein schreiben, verstehen kann mich doch niemand. Nach sehr langer Odyssee durch schwierigste Zeiten ist es für mich auch tröstlich geworden, was diese stummen Schreie mit mir zu tun haben. Der Körper speichert alles in seiner Erinnerung … und irgendwann will er das loswerden. Diese stummen Schreie sind ein Teil meines Selbst, das gelitten hat und sehr bedrängt war.«

»12. September: Fühle mich großartig und stark, aber ich weiß, dass dies keine echten Gefühle sind, sondern Teil meiner Krankheit. Oder doch nicht? Gibt es auch für eine Leidende wie mich Hoffnung? Dass ich irgendwann mal wieder ein normales Leben führen kann, ohne dass ich mich verstecken muss, wenn es mir dreckig geht? Womit habe ich diese permanente Achterbahnfahrt meiner Gefühle verdient? Was habe ich falsch gemacht? Ich halte das einfach nicht mehr aus!«

Pflichtgemäß stellen die Ermittler in der Nachbarschaft und im Verwandtenkreis der Verstorbenen Nachforschungen an. Überall bekommen sie zu den Eheleuten Knaus die gleichen Auskünfte: geordnete wirtschaftliche Verhältnisse, einwandfreier Leumund, harmonisches Eheleben, beispielhafte gegenseitige Unterstützung, keine Hinweise auf außereheliche Kontakte oder häusliche Gewalt. Aus diesen Gründen und wegen fehlender Beweise kommen die Ermittler bei der Bewertung des Todesgeschehens letztlich zu dem Schluss, »dass die Einwirkung dritter Personen als ausgeschlossen anzusehen ist«, und übergeben die Ermittlungsakte mit einer entsprechenden Einstellungsempfehlung der Staatsanwaltschaft.

Doch der Dezernent für Kapitaldelikte zieht insbesondere aus dem Tatortbefund ganz andere Schlussfolgerungen:

»1. Wenn Eheleute solch gesellschaftlichen Standes und im Hinblick auf das gute Einvernehmen ihren Hochzeitstag feiern, ist es verwunderlich, wenn sie diese Feier ausgerechnet in der Küche begehen.

2. Es ist merkwürdig, dass der Zeuge Bertram Knaus Straßenbahnfahrscheine sowie Kassenbelege zum Nachweis aufhebt. Es ist festzustellen, ob er in seinen geschäftlichen und privaten Besorgungen auch so pedantisch ist.

3. Es erscheint verdächtig, dass der Ehemann unmittelbar nach dem Genuss des Weines zunächst die Gläser spülte und erst dann die Wohnung verließ. Die Ermittlungen sind durch die Mordkommission wieder aufzunehmen.«

Sollte der Staatsanwalt mit seiner Einschätzung richtigliegen, wird es die Kripo immens schwer haben, eine vorsätzliche Tötung nachzuweisen. Denn bislang gibt es keine Spuren, und die Aufklärung wird wohl nur über ein Geständnis zu erreichen sein. Zunächst aber gilt es zu klären, ob Bertram Knaus ein Motiv gehabt haben könnte, seine Frau zu töten. Deshalb werden die Ermittler in seiner Stahlfirma vorstellig und vernehmen alle Mitarbeiter und Vorgesetzten, die engeren Kontakt mit ihm haben. Und dabei kommt heraus, dass Bertram Knaus es mit den ehelichen Pflichten doch nicht so genau genommen hat. Denn seit zwei Jahren ist er mit einer deutlich jüngeren Kollegin aus seiner Abteilung liiert, die den Ermittlern gegenüber von ernsthaften Heiratsabsichten spricht. Ihr Freund habe ihr mehrfach versichert, sich schon bald von seiner Frau scheiden lassen zu wollen.

Ein handfestes Motiv wird jedoch erst erkennbar, als die Sekretärin des Verdächtigen vernommen wird. Die Frau sagt nämlich aus, Bertram Knaus habe sich ihr gegenüber bei einer Betriebsfeier unter reichlichem Alkoholeinfluss offenbart und sich bitter darüber beklagt, dass sich Heike niemals scheiden lassen würde. Er sei darüber sehr unglücklich und habe unter Tränen wörtlich gesagt: »Das ist doch kein Leben mit dieser Frau!«

Das Ergebnis der inzwischen durchgeführten Obduktion ergibt als Todesursache eine Vergiftung mit Leuchtgas. Das ist keine Überraschung. Allerdings hat der Gutachter noch etwas herausgefunden. Und dieser Aspekt lässt Bertram Knaus unter Berücksichtigung der Gesamtumstände dringend tatverdächtig erscheinen. Die Kripo holt den Mann zu Hause ab und bringt ihn ins Präsidium.

Nachdem er seine zuvor schon gemachten Angaben wiederholt hat, äußert Bertram Knaus Unverständnis darüber, dass man ihn erneut behellige. Die Vernehmungsbeamten sagen ihm auf den Kopf zu, dass er bisher ein ganz wichtiges Detail verschwiegen habe – wohlweislich? Der Mann gibt sich ahnungslos. Darauf nennen die Ermittler den Namen seiner Geliebten. Bertram Knaus überlegt einen Moment, dann sagt er: »Das geht Sie doch nichts an, das ist Privatsache! Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.« Die Kommissare lesen dem Verdächtigen die belastende Aussage seiner Sekretärin vor, erhalten darauf jedoch keine Antwort. Schließlich ziehen sie ihren letzten Trumpf und legen dem Mann den rechtsmedizinischen Befund vor: Demzufolge hat Heike Knaus kurz vor ihrem Tod ein Schlafmittel eingenommen. Oder ist es ihr eingeflößt worden?

»Verdammt, ja!« Bertram Knaus fängt an zu weinen. Erst nach einigen Minuten hat er sich wieder beruhigt und erzählt nun, was an jenem Abend wirklich passiert ist. »Ich vergöttere meine Freundin wirklich, und meine Frau hätte sich niemals scheiden lassen. Also musste sie weg. Weil Heike eigentlich keinen Alkohol trank, wartete ich bis zum Hochzeitstag, auf den wir immer angestoßen haben. Vorher gab ich ihr noch ein Schlafmittel in den Wein. Dann beobachtete ich, wie meine Frau müde wurde und den Kopf auf den Küchentisch legte. Daraufhin drehte ich zwei Hähne des Gasherdes auf, spülte die Weingläser und verließ das Haus. Ich war mir sicher, alles richtig gemacht zu haben.«