Ermittlungszeitraum: April 1984–Mai 1985
Die Alarmierung führt den diensthabenden Notarzt an einen ungewöhnlichen Einsatzort: die urologische Praxis eines Kollegen. Dort wird ihm ein zwei Wochen alter Säugling gezeigt, der auf einem Untersuchungsbett liegt, Gesichtsverletzungen hat und unter Atemnot leidet. Bei näherer Betrachtung stellt der Notarzt eine 1,8 Zentimeter lange und horizontal verlaufende, nicht klaffende Wunde am linken Oberlid des Mädchens fest. Um dem Kind die Atmung zu erleichtern, wird blutiges Sekret aus dem Nasen-Rachen-Raum abgesaugt. Ferner werden ein Tubus, eine Magensonde und ein Tropf angelegt. Kurz darauf rast der Rettungswagen mit dem Baby in die Universitätskinderklinik, die Intensivstation ist bereits informiert worden. Bei weiteren Untersuchungen im Krankenhaus stellen die Ärzte zwei Blutungen innerhalb des Hirngewebes fest. In der Folgezeit bildet sich bei dem Säugling ein Brillenhämatom, das rechts stärker ausgeprägt ist als links. Drei Tage nach der Einlieferung wird die Kripo über den Vorfall informiert. Denn die Angaben der Eltern darüber, wie die Verletzungen entstanden sein sollen, widersprechen dem medizinischen Befund.
Bei den Eltern handelt es sich um Johann und Michaela Krüger, einfache, unbescholtene Leute. Während der 25-jährige Mann als Maler und Lackierer arbeitet, kümmert sich die fünf Jahre jüngere Frau hauptsächlich um ihre kleine Tochter Mia und deren zweijährigen Bruder Lukas. Die Dreizimmerwohnung der Krügers befindet sich im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses, direkt über der urologischen Praxis, in die der Notarzt gerufen wurde. Dass die junge Mutter mit Haushalt, Versorgung und Erziehung der Kinder und ihrer Aushilfstätigkeit in einer Kneipe überfordert ist, sieht man der Wohnung an: Sie ist unaufgeräumt, unsauber und ungemütlich.
Die Eltern berichten den Kriminalbeamten unter Tränen, Mia sei – anders könne man sich den Vorfall nicht erklären – aus ihrer Tragetasche gefallen, die im Kinderzimmer auf einem 40 Zentimeter hohen Sessel gelegen habe. Man habe Lukas, ein angeblich überaus quirliger und lebhafter Junge, in Verdacht, seine Schwester in einem unbeobachteten Augenblick zu Boden gerissen zu haben. Jedenfalls habe man Mia nach der Rückkehr noch halb in der Tasche liegend und blutverschmiert vorgefunden. Johann Krüger sei daraufhin mit dem verletzten Baby in die urologische Praxis gelaufen, um möglichst schnell ärztliche Hilfe zu bekommen.
Das Kinderzimmer ist mit einem Schiebetürenschrank, mehreren nebeneinandergestellten Sesseln und einem Kinderbett spärlich eingerichtet. Das Spielzeug von Lukas befindet sich in einem ehemaligen Waschmittelbehälter. Für den Säugling sind bislang keine Möbel angeschafft worden. Mia muss demnach in der Tragetasche geschlafen haben. Am »Himmel« und im Kopfbereich der Tasche sowie an der Matratze, an einer Seite des Federkissens und am Kopfpolster finden die Ermittler feine Blutspritzer. Dieses Spurenbild lässt sich jedoch nicht mit den bisherigen Aussagen der Eltern in Einklang bringen. Danach habe sich der Kopf des Mädchens bei der Auffindung außerhalb der Tasche befunden, in die man es auch nicht zurückgelegt habe. Das Baby sei sofort auf den Arm genommen und in die Praxis des Urologen gebracht worden. Insofern können die Tatortspezialisten nicht nachvollziehen, dass zwar Blutspuren in der Tasche, aber nicht auf dem Teppichboden zu erkennen sind.
Das Kinderspielzeug besteht im Wesentlichen aus Holzbausteinen und unterschiedlichen Plastikteilen – allesamt nicht geeignet, um die bei Mia festgestellten Verletzungen hervorzurufen. Beachtlich erscheinen den Beamten jedoch diverse Stricknadeln, die sich im Schrank hinter einer leicht zu bewegenden Tür in einem Pappbehälter befinden. Blutspuren sind daran mit bloßem Auge jedoch nicht zu erkennen.
Johann und Michaela Krüger werden getrennt voneinander vernommen. »Neben der Tragetasche auf dem Boden lag blutverschmiertes Spielzeug«, erzählt die Frau den Beamten. »Dort lagen auch ein paar Stricknadeln, die blutig waren. Außerdem hatte Lukas blutverschmierte Hände und Kleidung.« Michaela Krüger wird darauf hingewiesen, dass die in der Tragetasche nachgewiesenen Blutspuren nicht zu der von ihr geschilderten Ereignisabfolge passen. Darauf entgegnet die Frau: »Es stimmt, ich habe das Blut am ›Himmel‹ der Tragetasche selbst gesehen. Auch an der Matratze und am Kissen war ziemlich viel Blut. Ich habe keine Erklärung dafür, wie es dorthin gekommen ist.«
Aus den Angaben der Mutter, die sich von denen des Vaters nicht wesentlich unterscheiden, ergeben sich für die Kripo neue Ermittlungsansätze: Es ist nämlich zu prüfen, ob der geäußerte Verdacht, Lukas könnte Mia die Verletzungen beigebracht haben, belastbar ist. Hat der Junge möglicherweise die Stricknadeln aus dem Schrank gekramt und sie spielerisch oder als Akt der Aggression zweckentfremdet? Man beschließt, diesen potenziellen Tathergang zu rekonstruieren.
Um die Maßnahme auf möglichst solide Füße zu stellen, nehmen an der Nachstellung auch zwei Gutachter teil, ein Rechtsmediziner und ein Kinderarzt. Das Baby wird in der Tragetasche durch einen drei Kilogramm schweren Gegenstand ersetzt. Lukas stellt erfolgreich unter Beweis, dass er die Tragetasche vom Sessel herunterreißen kann. Es gelingt ihm auch, die Schiebetür des Schrankes zu öffnen und die Stricknadeln herauszunehmen. Die Kripo lässt den Jungen die Tasche mehrmals vom Sessel ziehen, und dabei fällt der Babyersatz jeweils auf das Federkissen. Außerdem wird erkennbar, dass die Tasche beim Ziehen und Zerren des Kindes ins Rutschen kommt, eher langsam auf den weichen Teppichboden fällt und erst dann allmählich auf die Seite kippt. Schließlich fordern die Ärzte Lukas auf, eine Stricknadel in ein sechs bis acht Millimeter großes Loch zu bohren. Auch dies schafft der Junge, allerdings benötigt er mehrere Versuche. Lukas zeigt sich begeistert und würde dieses Spiel am liebsten fortsetzen.
Mit Spannung erwartet die Kripo die Gutachten der Experten, die zwei Wochen später vorliegen. »Der Fall der Tragetasche aus 40 Zentimetern Höhe auf den weichen Teppichboden scheidet als Ursache für die Hirnblutung aus«, schreibt der Kinderarzt. Als Grund komme »nur die Einwirkung grober Gewalt« auf den Kopf des Kindes in Betracht. Vorstellbar seien in diesem Zusammenhang Faustschläge oder Schüttelbewegungen, aber auch das Anschlagen des Kopfes auf einen mehr oder weniger harten Untergrund. Außerdem sei eine mehrfache Gewalteinwirkung auf den Schädel des Kindes wahrscheinlich.
Weiter heißt es im Gutachten, dass sich die festgestellten Verletzungen nicht durch einen Stich mit einer Stricknadel in ein Nasenloch erklären ließen. Dazu fehle es an röntgenologischen Hinweisen. Im Übrigen könne eine Stricknadel nur mit erheblicher Kraftaufwendung durch die kindliche Schädelbasis gestoßen werden. Lukas sei dazu bei einem sich normal wehrenden Baby nicht in der Lage gewesen, was außerdem seine ungeschickte Fausthaltung der Nadel während der Rekonstruktion verdeutlicht habe. Und wahrscheinlich wären die Plastiknadeln bei solch einem Versuch durchgebrochen – was nicht der Fall war. Daher scheide diese Theorie als Erklärung und somit der zweijährige Bruder als Verursacher aus.
Zusammenfassend kommt der Kinderarzt zu folgender Einschätzung: »Der Säugling Mia Krüger wurde durch grobe Gewalteinwirkung gegen seinen Kopf so schwer verletzt, dass eine Blutung in die rechte vordere Hirnhälfte und den Schädelinnenraum erfolgte, die das Leben gefährdete. Mit einer vollständigen Heilung ist nicht zu rechnen. Das Ausmaß der Folgeschäden ist zurzeit nicht endgültig festzulegen, da das Kind noch zu klein ist.«
Einige Tage nach dem Gutachten des Kinderarztes wird der Kripo die Stellungnahme des gerichtsmedizinischen Instituts übersandt. Zwei Professoren kommen darin zu folgenden Schlussfolgerungen:
»1. Die Verletzungen beim Kind Mia Krüger sind ausschließlich durch Gewalteinwirkung zu erklären.
2. Um Hirnblutungen, Blutungen hinter der Netzhaut, Blutungen aus dem Nasen-Rachen-Raum sowie ein Brillenhämatom hervorzurufen, ist erhebliche Gewalt erforderlich.
3. Die Verletzungsmuster lassen sich nicht durch einen Sturz von dem in der elterlichen Wohnung befindlichen Polsterelement erklären.
4. Dafür, dass der zwei Jahre alte Bruder Lukas seiner Schwester die festgestellten Verletzungen beigebracht hat, haben sich keine Hinweise ergeben. Ein Bohren mit einer Stricknadel in ein Nasenloch erklärt nicht die vorgefundenen Verletzungsspuren wie Hirn- und Netzhautblutungen. Allenfalls Blutungen aus der Nase können dadurch entstanden sein. Dass der zweijährige Bruder dem Kind die genannten Verletzungen beigebracht hat, ist im höchsten Maße unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich, unter Berücksichtigung der Beschaffenheit des ›Tatorts‹.«
Beide Gutachten schließen also aus, dass Lukas für die Verletzungen seiner Schwester verantwortlich sein könnte. Auch ein Unfallgeschehen wird verneint. Und weil die Tat eines Fremden ebenfalls nicht in Betracht kommt, bleiben als Tatverdächtige allein die Eltern übrig. Johann und Michaela Krüger werden stundenlang vernommen und bestreiten entschieden, ihrer Tochter etwas angetan zu haben. Allerdings gibt Johann Krüger auch zu Protokoll, dass seine Frau viel zu jung und oberflächlich für die Führung eines Mehrpersonenhaushalts sei und sie von Abtreibung gesprochen habe, als sie zum zweiten Mal schwanger wurde. Weitere Ermittlungen ergeben, dass der Vater zur Tatzeit wahrscheinlich nicht in der Wohnung war. Aus diesen Gründen wird Michaela Krüger schließlich wegen des Verdachts des versuchten Mordes verhaftet.
Die Staatsanwaltschaft beauftragt zwei weitere Sachverständige – den Leiter einer neurochirurgischen Klinik und den Direktor eines Instituts für Rechtsmedizin einer anderen Großstadt. Der Anklagevertreter will Klarheit schaffen. Schließlich kommen die Gutachter zu überraschenden Ergebnissen. So weist der Neurochirurg in seiner Expertise darauf hin, dass die erstversorgenden Ärzte als einzige äußere Verletzung die besagte 1,8 Zentimeter lange Wunde am linken Oberlid festgestellt und dass sich auch im Computertomogramm keine anderen äußeren Verletzungen gezeigt hätten. Die am selben Tag angefertigte Röntgen-Übersichtsaufnahme des Schädels zeige jedoch unter der Wölbung des Augenhöhlendaches eine Luftsichel. Die Verletzung am Augenlid müsse also weiter nach innen gereicht haben.
»Nach den Befunden und der Rekonstruktion handelt es sich um eine penetrierende Verletzung mit einem messerartigen Werkzeug«, heißt es im Gutachten weiter. Es ist die Rede von einer etwa 63 Millimeter tiefen Stichverletzung, die vom linken inneren Augenwinkel durch die Schädelbasis nach rechts oben gereicht habe. Das Typische solcher Pfählungsverletzungen sei die relativ kleine, manchmal unauffällige Eintrittsstelle und die in einigen Fällen dramatische und tödliche Nebenwirkung. Zudem habe diese Verletzung auch zu Blutungen in den Nasen-Rachen-Raum geführt, die von dem Säugling eingeatmet und dann auch wieder augehustet wurden, was die Blutspritzer im Inneren der Tragetasche erkläre.
Demnach ist Mia kein Opfer stumpfer Gewalt geworden, und ihr Bruder hat ihr auch keine Stricknadel in die Nase gestoßen. Vielmehr soll eine Pfählungsverletzung vorliegen, verursacht durch ein Messer, das über das linke Oberlid 6,3 Zentimeter tief ins Gehirn eingedrungen ist. Da dieses Gutachten deutlich von den bisherigen abweicht, wartet man nun gespannt auf die Stellungnahme des Neurochirurgen. Zu welchen Schlussfolgerungen wird dieser renommierte Experte kommen?
Eine Woche später liegt die Expertise vor. Auch hier wird eine Pfählungsverletzung als Ursache für die Hirnblutungen genannt. Weiter heißt es: »Die strichförmige Hautwunde weist in diesem Zusammenhang auf die Verwendung eines scharfrandigen Werkzeuges, z. B. eines Messers, hin. Nicht ausgeschlossen werden kann auch eine Verletzung mit einer Stricknadel, wobei diesem Aspekt aber eher eine rein theoretische Bedeutung zukommen dürfte.« Die Beibringung einer Pfählungsverletzung – wie im vorliegenden Fall – durch ein zweijähriges Kind hält dieser Gutachter ebenfalls für ausgeschlossen.
Demnach besteht Einigkeit darüber, dass Lukas als »Täter« ausscheidet. Und diese Feststellung muss von den Ermittlungsbehörden als weiteres Indiz gegen Michaela Krüger gewertet werden, die nach wie vor in Untersuchungshaft gehalten wird, obwohl sie gebetsmühlenartig wiederholt, ihre Tochter nicht verletzt zu haben.
Ein halbes Jahr später wird die Kripo darüber informiert, dass Mia wegen eines Abszesses, der sich im rechten Nasenloch gebildet hat, in der neurochirurgischen Klinik operiert werden muss. Nachdem der Eingriff vorgenommen wurde, erfahren die Ermittler von einer drei Millimeter großen Öffnung in der Siebbeinplatte – ein Knochengebilde am Ende der Nasenhöhle –, die man bei der Operation entdeckt hat. Somit besteht eine Verbindung vom rechten Nasenloch zum Gehirn.
Diese Nachricht stellt den Fall auf den Kopf. Sofort kontaktieren die Ermittler den Kinderarzt, der in diesem Fall als erster Sachverständiger fungiert hat. Und der erklärt nun, es bestehe – entgegen seiner bisherigen Annahme – doch die Möglichkeit, dass Mia durch das Einführen einer Stricknadel in das rechte Nasenloch verletzt worden sei. Auch könne nicht ausgeschlossen werden, dass der zweijährige Bruder die Stricknadel benutzt habe. Mit dem Gutachten des Neurochirurgen konfrontiert, gibt der Kinderarzt zu bedenken, er habe von vornherein nicht nachvollziehen können, wie die Verletzung durch ein Messer herbeigeführt worden sein sollte. Er habe insbesondere die Luftsichel, die der neurochirurgische Sachverständige in seinem Gutachten erstmals erwähnt habe, auch bei einer erneuten Prüfung der Röntgenaufnahmen nicht feststellen können.
Offenkundig haben sich alle Experten geirrt. Ein dringender Tatverdacht kann gegen Michaela Krüger nicht weiter begründet werden, die Frau darf das Untersuchungsgefängnis wieder verlassen.
Anderthalb Monate nach der Hirnoperation stirbt Mia in der Wohnung ihrer Eltern. Bei der Obduktion des Mädchens bestätigt sich der kollektive Irrtum der Sachverständigen, als Folgendes festgestellt wird: »An der Schädelbasis befindet sich in der rechten Siebbeinplatte eine knapp reiskorngroße Perforation. Diese kann durch eine Stricknadel oder ein ähnliches Instrument vor einigen Monaten verursacht worden sein. Unmittelbar über dieser Perforation befindet sich ein älterer Defekt im Gehirn. Von der Perforation aus gelangt man mit einer Sonde ohne Weiteres in und durch die Nase. Eine andere Verlaufsrichtung lässt sich nicht rekonstruieren. Insbesondere ist keine Verbindung zu der alten Platzwunde im linken Augenoberlid festzustellen.«
Auch wenn die Ursache für Mias letztlich tödliche Verletzungen feststeht und der große Bruder nun doch von den Ermittlungsbehörden als Verursacher favorisiert wird, muss mangels Beweises offenbleiben, ob sich dieses Drama tatsächlich so ereignet hat.