»Irren heißt, sich in einem Zustande befinden,
als wenn das Wahre gar nicht wäre;
den Irrtum sich und andern entdecken,
heißt rückwärts erfinden.«
Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen
Als wir die Wohnung des Mannes verließen, den wir irrtümlich für den gesuchten Markus Berlinger gehalten hatten (siehe Vorwort), konnten wir immer noch nicht recht glauben, was gerade passiert war. Erst einige Tage später sollten wir über diese letztlich glimpflich verlaufene Verwechslung schmunzeln können. Nichtsdestotrotz war unsere Aufgabe noch nicht erledigt. Wir postierten uns also wieder in unserem Streifenwagen vor dem Haus und warteten. Stunde um Stunde verging, doch Markus Berlinger ließ sich nicht blicken. In den späten Nachmittagsstunden gaben wir die Observation schließlich auf.
Wir kontaktierten daraufhin unseren Zeugen, der uns mit dem »heißen Tipp« versorgt hatte. Der gab sich nun kleinlaut und erklärte: »Markus Berlinger hat mich wohl gezielt falsch informiert – wahrscheinlich hat er mich schon länger verdächtigt, dass ich ihn an die Polizei verraten könnte. Dieser Gedanke ist mir aber erst später gekommen, nachdem ich von einem Bekannten erfahren habe, dass Berlinger sich nicht mehr in Deutschland aufhält.«
Und so waren wir in dieser Sache binnen weniger als 24 Stunden bereits zum wiederholten Mal Opfer eines – diesmal eher unvermeidbaren – Kriminalirrtums geworden. Besser erging es unseren niederländischen Kollegen knapp drei Monate später, als sie Markus Berlinger am Flughafen Schiphol in Amsterdam verhaften konnten.
»Wer einen Fehler begeht und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten«, sagt Konfuzius. Bei Kriminalirrtümern ist es nicht anders. Die falsche Vorstellung vom Täter und seiner Tat führt zu einer folgenreichen Kettenreaktion, sofern der Irrtum unerkannt bleibt und wuchern kann wie ein Krebsgeschwür, das neue Zellen streut. Waren es in den Anfängen der Verbrechensbekämpfung mangels Erfahrung und Alternativen insbesondere unwahre Zeugenaussagen und falsche oder erzwungene Geständnisse, die Irrtümer hervorriefen, so sorgten später vermehrt missverstandene Indizien für Irritationen und Ermittlungsfehler. Die Jahrzehnte darauf folgende Favorisierung des Sachbeweises war auch eine Konsequenz der modernen, naturwissenschaftlich orientierten Kriminalistik: Fingerabdrücke spielten nun eine bedeutsame Rolle, Toxikologen wiesen Fremdstoffe in den Körpern der Opfer nach, Faserspuren konnten einem bestimmten Kleidungsstück zugeordnet werden, und schließlich entwickelte Mitte der 1980er-Jahre ein britischer Genetiker die kriminalistische Wunderwaffe DNA-Analyse. Mehr und mehr dominierten schließlich die Sachverständigen das Ermittlungsverfahren und die Beweisführung. Allerdings ist es trotz dieser beachtlichen Fortschritte und neuer Qualitätsstandards bis zum heutigen Tage nicht gelungen, die Zahl der Kriminalirrtümer zu verringern – denn jede neue Methode generiert zwangsläufig auch neue Fehlerquellen. Das Geflecht der Kriminalirrtümer ähnelt darum einer Hydra: Verliert es einen Kopf, wächst an dieser Stelle ein neuer. Mindestens. Und solange Menschen mit all ihren Unzulänglichkeiten und Unfertigkeiten maßgeblich an der Verbrechensbekämpfung beteiligt sind, wird sich an diesen Verhältnissen nichts ändern.
Stephan Harbort
Düsseldorf, im Sommer 2011