Kapitel 1

Jane legte den Federhalter beiseite und preßte die Finger an ihre brennenden Augen. Ihr Kopf schmerzte. Das hatte sie davon, stundenlang beim matten Schein der Lampe über den unverständlichen Zahlenreihen zu brüten.

Wenn sie nur mehr Zeit hätte! Aber die Kontobücher mußten vor Morgengrauen wieder zurück in der Buchhaltung sein. Hätte sie nicht vergessen, Edmund ihre Zweitschlüssel auszuhändigen, wäre sie gar nicht an die Unterlagen herangekommen.

Jane war überzeugt davon, daß Mr. Gorm, der neue Betriebsleiter, Geld unterschlug. Doch ihre Prüfung der Bücher brachte keinen eindeutigen Beweis. Gorms Buchungssystem war ihr neu – außerdem hatte sie Buchführung nie richtig gelernt, nur die alte Methode, mit der sich ihr Vater zufriedengegeben hatte.

Als Edmund erwähnte, er habe Bert Osborne durch einen neuen Mann ersetzt, hatte sie scharf dagegen protestiert. Bert war jahrelang in der Firma. Sie konnte sich das Büro ohne seine lange, dürre Gestalt, über den Schreibtisch gebeugt, gar nicht vorstellen. Zugegeben, in letzter Zeit war er ein wenig zerstreut, aber Ehrlichkeit und Einsatz waren seltene Qualitäten, wie Edmund eines Tages noch erfahren sollte.

Vergeblich hatte sie versucht, Gorms Gegenüberstellung von Einkünften und Ausgaben zu begreifen; die Zahlen des letzten Quartals schienen völlig zu fehlen. Aber die Fabrik mußte wohl Gewinn abwerfen, denn Edmund gab das Geld mit vollen Händen aus. Sie seufzte bei dem Gedanken an die Zeiten, in denen sie auf den Pfennig genau wußte, wieviel Geld sie ausgeben konnte, und woher es kam.

Es hatte keinen Sinn. Sie hatte weder die Zeit noch das Fachwissen. Außerdem fehlten Edmunds Privatkonten, die Ertragsrechnungen des Guts und die Lohn- und Gehaltslisten; an diese Unterlagen kam sie nicht heran, und ohne sie war sie hilflos. Sie hatte die nagende Gewißheit, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, obwohl die Gesamtsumme der bezahlten Löhne im letzten Jahr die höchste war, an die sie sich erinnern konnte.

Sie war der Fabrik ferngeblieben, seit Edmund sie übernommen hatte. Es war ein Fehler, ihm ihre Mitarbeit anzubieten. Sie hätte wissen müssen, daß ihr Vorschlag seinen männlichen Stolz verletzen würde. Doch sie hatte ständigen Kontakt mit Sam aufrechterhalten, und einiges von dem, was er berichtete, beunruhigte sie sehr. Natürlich machte sie Abstriche hinsichtlich Sams Urteilsfähigkeit; er war in letzter Zeit ein feuriger Radikaler geworden. Sie sympathisierte zwar mit der Bewegung, doch über einige Thesen, die er verkündete, war sie erschrocken. Sie fürchtete, Mr. Knightly hatte seinem Musterschüler einige gefährliche Literatur empfohlen. Dieser Mann – Engels, zum Beispiel … Und woher hatte Sam nur seine Ideen von den Gewerkschaften? Sie waren zwar nicht mehr verboten, doch so mancher Arbeitgeber würde einen Mann, der seine Arbeitskollegen versuchte zu organisieren, sofort entlassen.

Nun war auch diese dürftige Informationsquelle versiegt. Sam hatte die Gegend vor einigen Monaten verlassen, ohne ein Wort des Abschieds. Er arbeitete in Birmingham, hieß es. Seine Abwesenheit verstärkte Janes Gefühle der Isolation und hilflosen Unkenntnis. Die Verzweiflung hatte sie schließlich gezwungen, den entwürdigenden Diebstahl – man konnte es kaum anders bezeichnen – zu begehen.

Der Winter kratzte mit eisigen Fingern am Fenster. Es würde kein angenehmer Ritt bei dem Wetter werden. Sie mußte es bald hinter sich bringen, doch anstatt aufzustehen, verkroch sie sich nur tiefer in ihrem Sessel. Die bittere Kälte hatte sich schwer auf ihr Gemüt gelegt. Man mochte kaum glauben, daß der April im Lande war.

Vor einem Jahr, beinahe auf den Tag genau, war sie oben auf dem Hügel gestanden und hatte gesehen, wie der schwarze Regenbogen sich über Grayhaven spannte. »Ein völlig normales Naturereignis, sagen die Wissenschaftler …« Aber der dunkle Glanz hatte sie merkwürdig berührt, und als die schlanke Gestalt des Mädchens so plötzlich aus der Nacht aufgetaucht war, hatte sie ein abergläubisches Entsetzen gepackt. Die geheimnisvollen Bewohner der Berge brachten Glück oder Unglück, hieß es in den alten Volksmärchen. Megans Ankunft war ein Signal für das Ende von Frieden und Glück auf Grayhaven.

Jane verdrängte ihre bösen Gedanken. Sie liebte ihre Schwägerin aufrichtig und mißbilligte jegliches gehässige Geschwätz von mittellosen Mädchen, die sich einen wohlhabenden Mann angelten. Megan vergötterte ihren Mann – manchmal übertrieben, fand Jane. Sie war entzückt, als Edmund ihr eröffnete, er wolle das Mädchen heiraten. Damit war nicht nur die Gefahr der Astleys gebannt, sein Entschluß bewies auch, daß er nicht durch Hochmut verdorben war, er heiratete aus Liebe. Aber trotzdem … erst gestern war Megan tränenüberströmt zu ihr gekommen. Wieder einmal hatten sich ihre Hoffnungen, Mutter zu werden, zerschlagen. Jane nahm sie tröstend in die Arme und streichelte sie. »Aber meine Liebste, du hast doch noch so lange Zeit.«

»Glaubst du das wirklich?«

Megan wischte sich die Augen. Die Tränen verunstalteten ihr Gesicht nicht wie andere Menschen; sie bekam keine geschwollenen Augen und keine rote Nase. Ihre Augen wirkten nur noch größer und durchsichtiger. »Du bist ein solcher Trost, Jane. Nur – Edmund wünscht sich so sehr einen Sohn.«

Das wußte Jane. Er hatte bereits kurz nach der Hochzeit mit ernsthafter Überzeugung Pläne für seinen ungeborenen Sohn geschmiedet, was Jane reichlich amüsierte. Der Wunsch nach einem Sohn und Erben paßte nur zu gut zu Edmunds harmlosem Snobismus. Aber in der Einsamkeit und Stille des dunklen, frühen Morgens schien selbst dieser harmlose Vorfall ein Unglücksbote zu sein. Der Wind hatte sich zu einem ständigen leisen Wimmern gelegt, das sie an Megans verzweifeltes Weinen erinnerte.

Jane zwang sich, aufzustehen. Es blieb nur noch wenig Zeit. Die Fabrik begann die Arbeit um sechs Uhr. Sie verstaute die Kontobücher in eine Ölzeugtasche, damit sie nicht feucht würden. Edmund hätte einen Entsetzensschrei getan, wenn er seine Schwester so gesehen hätte: Sie trug eine seiner alten Hosen, die sie eigenhändig gekürzt hatte; das Haar verbarg sie unter einer Mütze, wie sie die Fabrikarbeiter trugen und sah aus wie ein kleiner Junge.

Es war kaum zu glauben, daß es innerhalb eines einzigen Jahres soweit gekommen war, daß sie sich wie eine Diebin, zur Unkenntlichkeit verkleidet, mit klopfendem Herzen aus ihrem eigenen Haus schleichen mußte.

In der folgenden Woche sprengte der Frühling endlich seine Ketten und befreite das Land von der Winterkälte. Einige von Edmunds neuen exotischen Pflanzen hatten den harten, mittelenglischen Winter nicht überstanden, doch die heimischen Frühlingsboten, Schneeglöckchen, Krokus und Schlüsselblumen spitzten bald aus der Erde. Und Jane fand das Leben nicht mehr gar so düster und grau wie in den letzten Wochen. Sie litt noch unter den Folgen einer starken Erkältung, beschloß jedoch, dem Dorf einen Besuch abzustatten.

Der strenge Winter hatte sie alle wochenlang im Haus festgehalten, und als Lina bettelte, mitkommen zu dürfen, willigte Jane ein. Edmund hatte keine Anstalten gemacht, eine neue Erzieherin für das Kind zu engagieren, und Jane hatte keinen derartigen Vorschlag gemacht. Doch das Kind vermißte Megans Aufmerksamkeit. Nicht daß Megan unfreundlich zu ihr war – im Gegenteil. In letzter Zeit hatte sie Lina jedoch geradezu gemieden, als würde ihre Anwesenheit sie an etwas erinnern, worüber sie nicht nachdenken wollte.

Nach ihrer Rückkehr aus dem Dorf lieferte Jane Lina im Kinderzimmer ab und suchte sofort Edmund auf. Sie fand ihn an seinem neuesten Lieblingsplatz, der Bibliothek. Hier verbrachte er viele Stunden des Tages, machte sich Notizen und studierte Bücher, deren Titel sie nicht einmal interessierten. Normalerweise respektierte Jane seinen Wunsch nach Ruhe und Abgeschiedenheit, doch jetzt stürmte sie ins Zimmer, ohne anzuklopfen.

»Ich komme eben aus St. Area zurück«, verkündete sie.

»Wie interessant.« Edmund klappte das Buch zu. »Natürlich habe ich keineswegs erwartet, daß du mir diese wichtige Neuigkeit verschweigst.«

Jane haßte es, wenn er in diesem gedehnten, sarkastischen Tonfall sprach, und jetzt wirkte seine Art wie Salz auf eine offene Wunde.

»Das Dorf hat sich so sehr verändert, daß ich es kaum glauben würde, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Die neuen Lagerhallen, die gräßlichen, schäbigen Baracken neben dem Bahnhof, die über Nacht wie Pilze aus dem Boden geschossen sind –«

»Du tust, als hätte ich sie eigenhändig dorthin gestellt. Was geht es mich an, was im Dorf geschieht?«

»Es ist dein Grund und Boden. Und für die Arbeitersiedlung bist du verantwortlich. Die Leute klagen über undichte Dächer und zerbrochene Fensterscheiben –«

»Du hast dir also von dem Gesindel die Ohren volljammern lassen. Danke für deinen Loyalitätsbeweis, Jane.«

Die kalte Wut seiner Stimme, die hochnäsige Feindseligkeit seiner Augen trafen Jane wie ein Schlag. Es war nicht das erste Mal, daß seine Worte eine solche Wirkung auf sie hatten. Sie ließ sich in ihrer gerechten Empörung jedoch nicht einschüchtern.

»Ich habe dich nicht vor den Arbeitern schlecht gemacht, Edmund. Ich habe nur zugehört.«

»Dadurch werden sie nur ermuntert. Ich will dir nicht zu nahe treten, Jane – aber du hast mir keinen guten Dienst geleistet, wie du die Fabrik und das Gut geleitet hast. Zugegeben, es ist nicht allein deine Schuld. Vater hat ebenfalls große Fehler gemacht. Aber du hast Mißstände einreißen lassen, weil du auf jeden Taugenichts gehört hast, und ich muß nun damit fertig werden. Es ist höchste Zeit, daß die Arbeiter eine starke Hand zu spüren bekommen. Sollen sie doch ihre Häuser selbst reparieren. Sie bezahlen ohnehin nur eine geringe Pacht –«

»Die du kürzlich erhöht hast.«

»Hättest du die Freundlichkeit zu fragen, warum ich es getan habe, statt hier herumzutoben wie ein Drache, würde ich dir vielleicht erklären, warum ich zu diesem Schritt gezwungen war. Unter diesen Umständen sehe ich leider keine Veranlassung dazu.« Er vertiefte sich wieder in sein Buch.

Es lag einige Berechtigung in seinem Tadel. Zerknirscht sah Jane ihren Fehler ein. Mit ihrem Wutanfall hatte sie den Leuten, denen sie helfen wollte, nur geschadet. Edmund hätte vielleicht auf Bitten und Schmeicheleien reagiert. Nun würde jede weitere Diskussion die Sache nur verschlimmern. Langsam verließ sie den Raum, den Kopf gesenkt, mit zögernden Schritten, ein Bild des Gehorsams.

Mit den geringen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, ließ Jane die nötigsten Reparaturarbeiten ausführen. Sollte Edmund dies bemerkt haben, so enthielt er sich jeglichen Kommentars. Aber vermutlich waren ihm die Veränderungen gar nicht auf gefallen, denn er fuhr selten ins Dorf. Sie war froh, daß er nicht danach fragte, denn dann hätte sie gestehen müssen, daß ihre Hilfe nicht mit Dank belohnt worden war, sondern die Leute sich verdrossen darüber beklagten, daß nicht mehr getan wurde. Eine unsichtbare Mauer war zwischen dem Dorf und dem Herrenhaus entstanden.

Zumindest oberflächlich waren die Beziehungen zwischen den Geschwistern wieder normal geworden. Gerechterweise mußte Jane zugeben, daß er sie immer freundlich und aufmerksam behandelte – es sei denn, sie tat etwas, was ihm nicht paßte. Um sein Wohlwollen zu erwidern, fragte sie ihn nach seiner Lektüre und erfuhr zu ihrem Erstaunen, er habe sich entschlossen, sein Wissen in Kultur- und Kunstgeschichte zu vertiefen. Bald wurde Jane klar, daß Edmund eine Beschäftigung suchte, die seiner Meinung nach einem wahren Gentleman anstand. Mußevolles, amateurhaftes Vertiefen eines Wissenszweiges war genau die richtige Tätigkeit – solange dies keinerlei praktischen Sinn und Nutzen brachte.

Der Friedensvertrag zwischen Rußland und den Alliierten beendete den Krimkrieg Ende März 1856, doch die offiziellen Feierlichkeiten waren auf den 29. Mai, der zum Nationalfeiertag erhoben wurde, verschoben. Im ganzen Land feierte man mit Freudenfeuern, Leuchtraketen und Feuerwerken. Doch Edmund weigerte sich, an den Festlichkeiten im Dorf teilzunehmen, wo man wochenlang einen Holzstoß für das Freudenfeuer errichtet hatte.

»Der Frieden sollte mit Gebeten begrüßt werden und nicht mit heidnischen Gebräuchen. Mr. Higgins muß uns ja für Barbaren halten.«

Der so angesprochene Herr war der neue Pastor, der mit ihnen zu Abend aß. Der alte Mr. Jones war im Januar verstorben, und Edmund hatte unter den Anwärtern für die Pfarrei Mr. Higgins ausgewählt, da dieser zur gleichen Zeit wie er seine Universität besucht hatte. Jane mochte Mr. Higgins; er war der einzige unter Edmunds neuen Freunden, der die Manieren eines Herrn mit dem Wissensdurst eines Studenten verband. Seine kleine Gestalt mit den plötzlichen, flinken Bewegungen und den vorstehenden Vorderzähnen erinnerte sie an ein Eichhörnchen; auch hatte er die nicht enden wollende Neugier dieser possierlichen Tierchen. Er schätzte Jane ebenfalls, nicht nur, weil sie eine der wenigen Frauen in seiner Umgebung war, die ein gutes Stück kleiner war als er.

Mr. Higgins war ein häufiger Besucher geworden, und er sollte es auch sein, der die Nachricht der schrecklichen Katastrophe, die über sie hereingebrochen war, überbrachte. Eines Nachmittags kam er und wollte Edmund sprechen, der eine seiner häufigen Unterredungen mit dem Gutsverwalter hatte. Jane lud ihn ein, sich das Warten mit ihr und Megan im Salon zu verkürzen. Doch er zog es vor, in der Halle zu bleiben. Sein sonst so freundliches Gesicht war ernst, und sie fragte ihn, ob etwas nicht in Ordnung sei.

»Ich weiß nicht, ob ich diese Sache den Damen anvertrauen kann«, erklärte er düster.

Jane wollte schon aufbrausen, denn nichts haßte sie so sehr, wie ein Kind – oder eine Frau – behandelt zu werden. Glücklicherweise tauchte Edmund in diesem Augenblick auf. Und Mr. Higgins hielt Jane im Beisein ihres Bruders für stark genug, um die schlechte Nachricht zu ertragen.

»Die Cholera ist in der Arbeitersiedlung ausgebrochen. Eines der Kinder aus der Fabrik … Ich wollte Sie gleich verständigen, Edmund. Vermutlich werden mehr Krankheitsfälle auftreten.«

Die Cholera war eine tragische Selbstverständlichkeit in den Großstädten, doch bisher war St. Area von der Seuche verschont geblieben, nicht einmal die schreckliche Epidemie von 1848 war bis hierher gekommen. Damals hatte sich die heilige Area den Ruf einer Schutzpatronin gegen Krankheit erworben, denn die Dorfbewohner hätten jeden ausgelacht, der behauptete, der Fluß, aus dem sie ihren Wasserbedarf deckten, habe etwas damit zu tun.

Jane wußte es besser. Es bedurfte nicht mehr als ein bißchen gesunden Menschenverstand, um einen Zusammenhang zwischen beengten, unhygienischen Lebensbedingungen und dem Ausbrechen von Epidemien wie Cholera und Typhus festzustellen. Erst vor einem Jahr hatte sie einen Artikel eines Londoner Arztes namens Snow gelesen – im Eigenverlag herausgegeben, da sich keines der medizinischen Fachblätter bereit fand, den Artikel zu drucken –, der einwandfrei bewies, daß das Auftreten der Cholera in einem Teil von Soho von einem einzigen, verseuchten Brunnen verursacht wurde. Daß der erste Krankheitsfall in der Grafschaft in der Arbeitersiedlung mit ihren abfallübersäten Gassen und der unzulänglichen Kanalisation festgestellt wurde, bestätigte erneut diesen Verdacht. Die sofortige Verbesserung der Lebensbedingungen würde mit Sicherheit zukünftige Epidemien verhindern – ja die Seuche jetzt noch eindämmen. Wenn sie Edmund und die anderen Unternehmer in der Umgebung nur davon überzeugen könnte … Aber es bestand wohl kaum eine Chance, wenn die fundierten Berichte von Dr. Snow nicht einmal die eigenen Kollegen davon überzeugen konnten.

Sie war so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, daß ihr die Bedeutung eines Wortes von Mr. Higgins erst jetzt in den Sinn kam. Sie unterbrach das Gespräch: »Haben Sie gesagt, ein Kind, das in der Fabrik arbeitet? Wie alt ist es?«

Mr. Higgins machte ein erstauntes Gesicht, aber er antwortete ohne Zögern: »Neun oder zehn, denke ich … aber als Junggeselle –«

»Sei still, Jane«, befahl Edmund knapp. »Higgins, heißt das, daß Sie in dem befallenen Haus waren, bevor Sie hierher kamen?«

»Man hat mich gerufen.« Zum erstenmal war keine Entschuldigung, weder in Tonfall noch Haltung, nur Erstaunen über die Frage. Jane liebte ihn beinahe in diesem Moment; doch der arme Mr. Higgins sollte ihre Gefühle nie erfahren. Er fuhr fort: »Natürlich habe ich gebadet und die Kleider gewechselt, bevor ich Sie aufsuchte. Dies ist eine ernste Angelegenheit, und wir sollten etwas tun.«

»Der Meinung bin ich auch. Kommen Sie mit in die Bibliothek. Nein, Jane –«, denn sie war instinktiv gefolgt, »ich werde mit dir und Megan später darüber sprechen.«

Als sich die beiden Männer entfernten, beobachtete Jane, daß Edmund einen auffallend großen Abstand zum Pastor hielt. Sie ging in den Salon und erzählte Megan von der Cholera. Sie diskutierten darüber, als Edmund eintrat.

»Wo ist Mr. Higgins?« fragte Jane.

»Er ist gegangen und wird auch nicht wiederkommen.«

»Warum, Edmund?«

»Niemand aus dem Dorf wird das Schloß betreten. Unsere Lebensmittel holen wir aus Warwick oder Birmingham. Das Personal, das zu seiner Familie möchte, soll gehen, wird aber nicht zurückkehren. Keiner von uns wird das Schloß verlassen, bevor ich es erlaube. Das gilt besonders für dich, Jane. Ich kenne deine romantischen Vorstellungen und lasse es nicht zu, daß du mit Körben voller Medizin die Krankenschwester spielst.«

»Aber wir können uns doch nicht von der ganzen Welt abschließen. Mit ein paar Vorsichtsmaßnahmen –«

»Ich warne dich, Jane. Wenn du meine Befehle mißachtest und ins Dorf gehst oder einen Krankenbesuch machst, lasse ich dich nicht mehr ins Haus. Ich gehe nicht das geringste Risiko ein, die Infektion hier einzuschleppen. Das ist meine Pflicht als Ehemann und Vater meiner Kinder – obwohl mir die Vaterfreuden offensichtlich verwehrt bleiben.«

Megans Kopf fuhr herum, als hätte er sie geschlagen. Jane war so entsetzt, daß sie zuerst nicht antworten konnte.

»In Ordnung, Edmund«, sagte sie nach einer Weile gedehnt. »Ich tue, was du von mir verlangst.«

»Ich freue mich, daß du das einsiehst.« Mit einem liebevollen Lächeln wandte er sich an Megan, »du siehst, meine Liebe, wir haben nichts zu befürchten. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, ein paar Wochen zurückgezogen zu leben. Wir werden uns die Zeit angenehm vertreiben, das verspreche ich dir.«

Jane entschuldigte sich und zog sich übereilt zurück. Wie konnte Edmund so freundlich zu seiner Frau sprechen, nachdem er sie kurz vorher so grob und ungerecht verletzt hatte? Es war, als erinnere er sich gar nicht seiner Worte – als habe ein Fremder sie formuliert.

Sie floh in ihr Zimmer und warf sich aufs Sofa. Es war nicht das erste Mal, daß sie hier Zuflucht suchte; der verwaschene Chintzbezug war oft genug von ihren Fäusten traktiert, von ihren Tränen benetzt worden. Es gab keine Entschuldigung für Edmunds böse Worte, doch vielleicht eine Erklärung, in welchem Gemütszustand sie ihm entschlüpft waren. Er war voller Panik, beinahe wahnsinnig vor Angst. Seine Maßregeln machten das deutlich, so ruhig und überlegt er sie auch vorgebracht hatte. Ihren Plan, ihn zu überzeugen, das Wasser des Arbeiterviertels untersuchen zu lassen und die schmutzigen Abwässer zu kanalisieren, mußte sie aufgeben. Vernunft und Sachlichkeit konnten einen Mann nicht erreichen, dem es nur ums eigene Überleben ging. Aber warum hatte er solche Angst? Die Antwort dämmerte ihr allmählich.

Seuchen hatten im Krimkrieg mehr Männer dahingerafft als Feindeskugeln. Die Lazarette waren Pesthöhlen mit einer Sterberate von 42 Prozent, bevor Florence Nightingale die Bedingungen verbessern konnte. In den überfüllten Krankensälen und den Korridoren lagen die Soldaten wie die Heringe nebeneinander. Edmund kannte die Cholera – hatte das Grauen miterlebt, wie Männer direkt neben ihm die furchtbaren Stadien der Krankheit durchlitten – Erbrechen, Durchfall, die entsetzlichen Muskelkrämpfe bis zum letzten Kollaps. Sie hatte darüber schaudernd einen Bericht gelesen; wie schrecklich mußte es erst sein, die Wirklichkeit mit eigenen Augen zu erleben.

Jane setzte sich auf und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Sie mußte mehr Verständnis für ihn aufbringen. Sie hatte kein Recht, andere zu verurteilen, die schwer gelitten hatten, während sie geborgen zu Hause saß.

Doch wieder schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf. Ein

Kind von neun oder zehn arbeitete in der Fabrik. Das bedeutete nicht nur eine Verletzung der Prinzipien ihres Vaters, es war gegen das Gesetz … Doch es hatte keinen Sinn, Edmund in seiner gegenwärtigen Stimmung Vorwürfe darüber zu machen. Für jede Anschuldigung hatte er eine Antwort – logisch, sarkastisch und unwiderlegbar.