Bremen im Winter 1966
Ruth
Es war kalt an diesem Morgen, und Ruth Fellbach war froh, unter dem Mantel noch eine Strickjacke zu tragen. Offenbar hatte es die ganze Nacht geschneit, und es sah aus, als würde es noch mehr Schnee geben. Der Himmel war dunkelgrau und voller tief hängender Wolken.
Sie schlitterte den Weg entlang und schob sich den letzten Bissen ihres Marmeladenbrots in den Mund. Für ein Frühstück in aller Ruhe hatte es nicht mehr gereicht, nur für einen schnellen Kaffee zwischen Anziehen und Frisieren. Wobei sich das Frisieren auf ein rasches Bürsten und Toupieren beschränkt hatte.
Ruth nahm die Handschuhe aus der Manteltasche, zog sie über und kuschelte sich in ihren Wollmantel.
Als sie die Ellhornstraße entlangkam, und der Rosenplatz in Sichtweite war, sah sie ihre Nichte Marianne in der Tür des Frisiersalons stehen und ihr zuwinken.
Ruth ging vorsichtig etwas schneller. Ob etwas passiert war?
»Kannst du nach Onkel Kurt sehen?«, rief Marianne. »Er ist noch nicht da!«
Ruth nickte und hob die Hand. Sie überquerte die Straße und bog in die nächste Seitenstraße ein. Bis zur Wohnung ihres Bruders waren es nur ein paar Schritte.
Ihr Vater hatte Salon Fellbach nach dem Krieg eröffnet. Ruth und ihre beiden älteren Geschwister waren praktisch darin groß geworden. Während andere Mädchen ihre Puppen an- und auskleideten und im Puppenwagen umherkutschierten, hatte Ruth ihre frisiert. Etwas anderes als Friseuse zu werden war ihr nie in den Sinn gekommen. Kurt war ebenfalls Friseur geworden, wenn auch nicht unbedingt aus Leidenschaft. Ruth nahm an, dass er es einerseits dem Vater recht machen wollte und es ihm andererseits an Antrieb und eigenen Ideen gefehlt hatte. Kurt war ein Ausbund an Trägheit und stoischem Gleichmut.
Auch Gisela, die Älteste von ihnen, hatte eine Friseurlehre beim Vater gemacht, verstand sich aber mehr auf Zahlen. Sie hatte nie gern im Salon gestanden und frisiert, sondern lieber im Büro gesessen und sich um die Finanzen gekümmert.
Bevor ihr Vater gestorben war – er war lange krank gewesen und hatte genug Zeit gehabt, all die Dinge zu regeln, um die man nicht herumkam –, hatte er Gisela den Friseursalon überschrieben und dafür gesorgt, dass Ruth und Kurt nicht auf der Straße stehen würden.
Ruth war das Nesthäkchen der Familie, der Nachzögling, mit dem niemand mehr gerechnet hatte. Sie wurde in diesem Jahr sechsundzwanzig, Kurt war vierzehn und Gisela fünfzehn Jahre älter.
Sie blieb vor dem Altbremer Haus stehen, in dem sich die Wohnung ihres Bruders befand. In dem winzigen Vorgarten schoben sich wacker ein paar Schneeglöckchen aus der Erde, und in dem Vogelhäuschen, das jemand aufgestellt hatte, balgten sich Spatzen und Meisen um die Körner. Als Ruth kam, stoben sie zeternd auseinander.
Bevor Ruth auf die Messingklingel drückte, hob sie den Kopf und schaute nach oben, ob ihr Bruder am Fenster stand. Doch er war nicht zu sehen, also klingelte sie.
Ob Kurt verschlafen hatte? Das war in all den Jahren so selten vorgekommen, dass sie es an einer Hand abzählen konnte.
Im Haus blieb es still, und sie klingelte erneut.
Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und Kurt eilte ohne Gruß an ihr vorbei. »Schietwetter!«
»Dir auch einen guten Morgen, Kurt. Vorsicht, die Stufen sind glatt!«
Er schaffte sie ohne große Schwierigkeiten, dafür rutschte er auf dem Bürgersteig aus und landete auf seinem Hinterteil.
Ruth musste lachen und schlug hastig die Hand vor den Mund.
Ihr Bruder stand so schnell wieder, dass sie gar nicht dazu kam, ihn zu fragen, ob er sich wehgetan hatte. »Verflucht! Warum hat hier niemand gestreut!«
Ruth hakte ihn unter. »Falsche Frage, Kurt. Wieso hast du nicht gestreut?«
»Ist Gisela sauer?«, fragte er, ohne sich um ihre Bemerkung zu kümmern.
»Sie wird wahrscheinlich noch gar nicht mitbekommen haben, dass du zu spät bist.« Bestimmt saß sie wie jeden Morgen in ihrem verqualmten Büro. Man musste die Luft anhalten, wenn man es betrat. Gisela hatte zu rauchen begonnen, als sie und ihr Mann sich kennengelernt hatten. Dietmar war schon damals starker Raucher gewesen. Seit seinem Tod rauchte sie wie ein Schlot, man traf sie im Grunde nie ohne Zigarette an.
»Hoffen wir’s«, murmelte Kurt.
Ruth hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Meine Güte, wieso rennst du denn so? Auf die paar Minuten kommt es doch auch nicht mehr an.«
Er blieb kurz stehen und sah sie stirnrunzelnd an. Dann ging er zügig weiter in Richtung Rosenplatz.
»Hattest du Streit mit Heidelinde?«
Heidelinde war seine Verlobte. Ruth und Marianne hatten bereits Wetten abgeschlossen, wann oder ob die Hochzeit überhaupt stattfinden würde. Beide konnten sich Kurt nicht so recht als Ehemann vorstellen.
Erna Jansen, die schräg gegenüber wohnte, lehnte im offenen Fenster. »Moin, Frollein Fellbach, Herr Fellbach! Kalt heute, was?«
»Moin, Frau Jansen! Das können Sie laut sagen.« Ruth kannte jeden in der näheren Nachbarschaft, viele waren seit Jahren Stammkunden im Salon.
»Hab für nächste Woche einen Termin!« Wie üblich trug Erna Jansen eine dicke hellbraune Strickjacke mit Zopfmuster, darüber ein Schultertuch und auf dem grauen Haarschopf, der sich mehr wie die Mähne eines Pferdes anfühlte, eine Mütze in Erbsengrün.
»Fein, bis dann!«
»Als ob sie sonst nichts zu tun hat«, brummte Kurt, als sie vor dem Salon ankamen.
»Freu dich doch, dass sie regelmäßig herkommt«, raunte Ruth.
»Das meinte ich nicht. Ich meinte, sie sitzt da im Fenster und …« Er winkte ab. »Egal. Komm.« Er hielt ihr die Tür auf.
Die blieb stumm, kein »Klingeling«, und beide hoben den Kopf und sagten wie aus einem Mund: »Schon wieder kaputt.«
Gisela stand am Tresen, die Brille auf dem Nasenrücken, und blickte auf. »Wo kommt ihr denn her?« Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie ein Vorwurf.
Seit Dietmars plötzlichem Tod hatte sie sich sehr verändert. Natürlich, niemand blieb derselbe Mensch, wenn er jemand Geliebtes, Vertrautes verlor. Noch dazu so unerwartet.
Aber Gisela ließ niemanden, nicht mal ihre einzige Tochter, in ihr Herz, ihre Seele blicken. Sie hatte sich vollkommen in sich selbst zurückgezogen und sich allem und jedem verschlossen, um mit ihrer Trauer allein zu sein.
Ruth wollte improvisieren, vor allem wollte sie sich vor ihren Bruder stellen.
Doch er war schneller – und überraschend ehrlich. »Ich hab verschlafen. Ruth hat mich geholt.«
»Verschlafen, soso.« Giselas Blick war missbilligend.
Kurt hob die Hand. »Ich weiß, was du sagen willst, Gisela. Lass gut sein.«
»Woher willst du wissen, was ich sagen wollte?«
»Weil ich dich kenne.«
Bitte kein Streit am frühen Morgen , flehte Ruth.
»Die Klingel ist übrigens schon wieder kaputt.« Kurt hängte seinen Mantel an die Garderobe.
»Ich weiß, ich habe den Handwerker bereits angerufen.«
Er schlüpfte in seinen Kittel. »Das hätte ich doch tun können.«
»Was? Herrn Brandes anrufen oder die Klingel reparieren?«
»Ich bin nicht so ungeschickt, wie du vielleicht glaubst.«
»Darf ich dich an die Trockenhaube erinnern, an der du so lange rumgeschraubt hast?«
Er hob die Hand und verdrehte die Augen. »Das musste ja kommen. Konnte ich ahnen, dass es am Stecker lag?«
Gisela drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, der offenbar nicht ausgeleert worden war. Sie konnte unmöglich schon so viel geraucht haben.
Ruth verzog angewidert das Gesicht, hatte sich aber nicht rechtzeitig zur Seite gedreht.
»Was soll denn dieser Blick?«, fragte ihre Schwester.
»Schon gut«, murmelte sie, zog rasch Mantel und Strickjacke aus und den Kittel an. Dann nahm sie vorsichtig das Kopftuch ab und warf einen Blick in den Spiegel hinter Gisela.
»Ich weiß selbst, dass ich zu viel rauche. Nicht jeder kann so ein Ausbund an Tugend sein.«
Ruth schluckte eine Erwiderung herunter. Sie und ihre Schwester gerieten häufig aneinander, das war nichts Neues, es war aber nicht immer so gewesen. Ihre Mutter war gestorben, als sie sieben Jahre alt gewesen war. Und weil ihr Vater hoffnungslos überfordert gewesen war, hatte Gisela sie bei sich und ihrer eigenen Familie aufgenommen und ihr wieder ein Zuhause gegeben.
»Menschenskinder, müsst ihr euch schon am Morgen angiften?«, knurrte Kurt kopfschüttelnd.
Gisela zupfte am Kragen ihrer weißen Bluse. Selbst das wirkte missbilligend. Mehr als ein Jahr hatte sie Schwarz getragen und Marianne erschüttert zurechtgewiesen, als die nach einem Dreivierteljahr ein helles Kleid angezogen hatte.
An diesem Tag trug Gisela ein graues Kostüm, dazu die weiße Bluse und Pumps mit Pfennigabsätzen. Man hörte sie immer schon von Weitem kommen. Das blondierte Haar – eigentlich war es dunkelblond – kämmte sie streng aus dem Gesicht und steckte es am Hinterkopf zu einer Art Rolle fest. Seit Neuestem benötigte sie eine Brille, was sie noch etwas strenger erscheinen ließ. Gisela wirkte immer unnahbar und kühl und ein bisschen wie aus der Zeit gefallen. Als wäre sie in den frühen Fünfzigern stecken geblieben, einer Zeit, die sie sehr geliebt hatte und von der sie stark geprägt worden war.
Ruth knöpfte ihren Kittel zu. Er kam frisch aus der Wäscherei und roch nach Sprühstärke.
Wie lange wohl noch, bis wir unsere Kittel selbst waschen müssen, dachte sie betrübt.
Dem Friseursalon ging es nicht gut, seit es modernere, flottere gab, die sich mehr der jüngeren Kundschaft annahmen. Wenn Gisela sich nicht so sträuben würde, könnten sie auch ihren Salon ein bisschen aufmöbeln. Mit ein paar neuen Spiegeln und schicken Tapeten und vielleicht sogar neuen Waschbecken. Aber das Geld war knapp, sehr knapp.
Ruth hatte es zwei-, dreimal gewagt und war mit Vorschlägen vorgeprescht. Doch Gisela hatte alle mit einer einzigen Handbewegung abgeschmettert. »Und was heißt überhaupt, unser Salon sei altbacken?«, hatte sie gemeint. »Er ist nicht altbacken, sondern ein Traditionssalon.« Und sie hatte das Sagen. Immerhin war ihnen die Stammkundschaft geblieben, ohne sie gäbe es wohl Salon Fellbach längst nicht mehr.
Ruth richtete ihr Haar. Sie hatte nicht geschafft, es noch hier und da aufzudrehen, wie sie es normalerweise morgens machte. Das Kopftuch hatte ihrer Frisur den Rest gegeben.
»Gott noch mal«, fluchte sie leise und zupfte an ein paar Strähnen.
»Frau Berthold kommt heute zum Färben«, sagte Gisela.
»Ich weiß.« Ruth hatte den Termin selbst angenommen. »Ist Frau Zimmermann schon da?«, fragte sie.
Gisela schüttelte den Kopf und blätterte im Terminkalender, der auf dem Holztresen lag. Im Eingangsbereich gab es außer dem Tresen noch ein Regal mit Haarpflegeprodukten.
Ruth ging nach rechts in den Frisierbereich, einen etwa fünf mal fünf Meter großen Raum. An zwei gegenüberliegenden Wänden befanden sich drei beziehungsweise zwei eckige Waschbecken, darüber ovale, furchtbar unmoderne verschnörkelte Spiegel, die noch aus der Anfangszeit stammten. Was man ihnen ansah.
In der Ecke standen drei Trockenhauben, die einen Höllenlärm machten, auch sie gehörten seit einer halben Ewigkeit zum Inventar.
Es gab auch einen Kinderstuhl, der auf die Größe des jeweiligen Kindes eingestellt werden konnte; ein Relikt aus vergangenen, besseren Tagen. Inzwischen verirrten sich kaum noch junge Frauen mit Kindern hierher. Leider. Die Kinderhaarschnitte hatte Ruth immer ganz besonders gern übernommen. Auch wenn es oft eine Herausforderung gewesen war. Viele Kinder mussten überredet und sogar bestochen werden, wenigstens eine halbe Stunde halbwegs still zu sitzen.
An einer der Wände hingen Fotos von Senta Berger. Kurts Augen bekamen immer einen ganz besonderen Glanz, wenn er sie betrachtete. Er hatte eine Schwäche für die bildhübsche rothaarige Schauspielerin, die mit Heidelinde genauso wenig Ähnlichkeit hatte wie Ruth mit Claudia Cardinale.
Apropos Heidelinde , dachte Ruth. »Was ist denn nun mit Heidelinde?«, fragte sie ihren Bruder, der an ihr vorbei in den kleinen, abgetrennten Herrenbereich wollte.
»Was soll mit ihr sein?«
»Na, hattet ihr Streit?«
Er zuckte mit den Schultern und ging zu Herrn Sievers, der im Wartebereich saß und die Tageszeitung las. »Moin, Herr Sievers. Wie immer?«
Der alte Herr sah auf und legte die Zeitung weg. »Wie immer, Herr Fellbach.«
Und wie immer hatte er seine Anzugjacke ausgezogen und die Hemdsärmel bis zum Ellbogen aufgekrempelt.
»Es ist ein Wunder, dass er sich nicht auch noch die Schuhe auszieht«, hatte Kurt irgendwann gemeint.