Marianne
Während Frau Zimmermann die verrückte Geschichte von dem unglücklich verliebten Mann erzählte, hatte Marianne am Nebenwaschbecken gestanden und zugehört. Ein Mann, der sich aus lauter Liebeskummer ins Bett legt und jahrzehntelang nicht mehr aufsteht? Im Leben nicht!
Sie teilte einzelne Strähnen ab und toupierte weiter.
»Ich schlafe neuerdings auf Wicklern«, erzählte ihre Kundin mit einem Seufzen. »Mein Mann sagt, es käme ihm manchmal vor, als läge ein Marsmensch neben ihm.«
Marianne lachte, trat einen Schritt zurück und legte den Kopf schief, um den Hinterkopf der Kundin zu betrachten.
Sie nahm die Schere aus der Kitteltasche, schnitt am Nacken etwas nach und reichte Frau Rollnick eine Illustrierte, ehe sie ihr Haar mit reichlich Haarspray fixierte. Anschließend nahm sie ihr den Umhang ab und war beim Aufstehen behilflich.
Sie bedankte sich für die Münze, die Frau Rollnick ihr in die Kitteltasche steckte.
»Dann bis in vier Wochen, Marianne.«
Sie begleitete sie zum Tresen und wartete, bis ihre Mutter die Kasse geschlossen hatte und Frau Rollnick gegangen war. »Ich habe Frau Schuster dazwischengenommen und vergessen, sie einzutragen.«
Ihre Mutter schaute in den Terminkalender. »Richtig, du hast es wieder vergessen.«
Wieder. Das war typisch, ständig musste sie übertreiben.
»Wie viel Trinkgeld hast du bekommen?«
Marianne biss sich auf die Unterlippe. Diesmal gar nichts , könnte sie sagen, stattdessen nahm sie das Geldstück und ließ es demonstrativ auf den Tresen fallen. Es waren zwanzig Pfennig.
Ihre Mutter nahm es und steckte es in das Porzellansparschwein, das im Regal hinter ihr stand. »Bist du heute Abend zum Essen da? Ich wollte mal wieder Toast Hawaii machen.«
»Nein, ich bin verabredet.« Sie hatte weder Lust auf Toast Hawaii noch auf das miesepetrige Gesicht ihrer Mutter.
Dabei verstand Marianne sie ja. Sie selbst hatte der Tod des Vaters auch furchtbar getroffen, und sie vermisste ihn jeden Tag. Wenn sie wenigstens mit ihrer Mutter darüber sprechen könnte. Sie sollten sich gegenseitig trösten, sich zuhören. Doch sobald ihre Mutter nur die Worte »Papa« und »Tod« hörte, blockte sie ab. Sie schottete sich regelrecht ab, gegen alles und jeden.
Sagte man nicht: Geteiltes Leid ist halbes Leid?
Von wegen. Marianne hatte den Eindruck, als beanspruche ihre Mutter das Leid ganz allein für sich, und schloss sie damit aus.
Die Tür ging auf, und Michael Brandes, der Handwerker, kam herein. Ein junger, gut aussehender Bursche mit langen Koteletten und dunklem Haar, in das sie liebend gern gegriffen hätte. Sie musste sich jedes Mal beherrschen.
»Tag, die Damen.« Er lupfte seine Schiebermütze und zwinkerte ihr flüchtig zu.
»Die Klingel ist schon wieder kaputt«, begrüßte ihre Mutter ihn mit vorwurfsvollem Unterton. »Marianne? Kümmere dich um die Kunden, ja?«
»Es sind gerade keine da.« Und sag mir nicht dauernd, was ich tun oder lassen soll!
Ihre Mutter verzog den Mund, wie sie es gern tat, wenn sie ärgerlich oder verdrossen war. Und eins von beidem war sie leider viel zu oft.
Brandes brachte sich mit einem vernehmlichen Räuspern wieder in Erinnerung. »Dann will ich mal.« Er stellte die Trittleiter auf, die er mitgebracht hatte, und stieg die drei Sprossen hoch.
Während er an der Türglocke hantierte, die weiterhin keinen Mucks von sich gab, sah Marianne ihm zu. Ein bisschen erinnerte er sie an den Schauspieler Thomas Fritsch, beide hatten dieses jungenhafte, freche und unbekümmerte Lächeln.
»Reichen Sie mir mal den kleinen Hammer?«, bat er.
»Meine Tochter ist nicht Ihr Handlanger, Herr Brandes«, wies ihre Mutter ihn zurecht.
Da hatte Marianne sich bereits gebückt und einen Hammer aus dem Werkzeugkoffer genommen.
»Nicht den, den anderen gleich daneben.«
Ohne von ihrer Mutter Notiz zu nehmen, reichte sie ihm den anderen Hammer.
»Besten Dank auch.«
»Gern geschehen.«
Der Blick, den sie sich zuwarfen, war elektrisierend, und Marianne spürte, wie ihr Gänsehaut die Wirbelsäule hochkroch. Sie flirteten gern miteinander, wenn er hier war, und seit die Klingel so störrisch war, kam er regelmäßig. Es machte ihr Spaß, so ungeniert zu flirten, weil es unverbindlich war. Aus ihr und Michael Brandes würde in hundert Jahren kein Paar werden. Sie war auch gar nicht auf einen festen Freund aus, sie genoss ihre Freiheit und das fröhliche, unbeschwerte Leben inmitten ihrer Clique.
Ihre Mutter schnaubte und verschwand im Büro, das links vom Frisierbereich lag. Von dort ging es in eine Art Nebentrakt mit einer Treppe, die in die obere Wohnung führte, in der sie und ihre Mutter wohnten.
Marianne wünschte, sie könnte endlich ausziehen, ein eigenes Leben führen, selbst bestimmen. Doch erstens fehlte ihr dazu das Geld und zweitens leider auch der Antrieb. Seit dem Tod ihres Vaters konnte sie sich oft kaum aufraffen, morgens aufzustehen und hinunter in den Salon zu gehen. Sie war ein Papa-Kind gewesen, und es kam ihr vor, als hätte sein Tod sie in zwei ungleiche Teile zerrissen, die nicht mehr zusammenpassen wollten. An den Wochenenden musste sie oft von ihrer Freundin überredet werden, mit in den Club oder in eine Kneipe zu kommen. Wenn sie dann erst mal dort war, konnte sie sich sogar amüsieren, tanzte ausgelassen und hatte Spaß. Sobald sie aber wieder heimkam und ihr allein beim Blick auf die Schuhe im Flur wieder bewusst wurde, dass ihr Vater nicht mehr da war, sackte sie in sich zusammen. Als entweiche auf einen Schlag alles Leben aus ihr. Sie brauchte jedes Mal eine Weile, um wieder aus diesem Tal herauszufinden.
Ihrer Mutter schien das nach wie vor nicht zu gelingen.
Ruth kam um die Ecke und bremste mit einem »Huch!« abrupt ab. Um ein Haar hätte sie die Trittleiter samt Brandes umgelaufen.
»Herr Brandes. Sie schon wieder.« Sie schenkte ihm ein reizendes Lächeln.
»Ja, ich schon wieder.« Er lächelte zurück.
»Ob Sie es irgendwie hinbekommen, dass das Ding ein Weilchen hält?«
»Ich tue mein Bestes, Frau Fellbach.«
»Weiß ich doch. Und bitte ›Fräulein‹. Ich bin nicht verheiratet.« Mit einem weiteren Lächeln beugte Ruth sich über den Terminkalender, murmelte etwas und seufzte dann.
Sie gehörte zu der Sorte junger Frauen, die vermutlich nicht den Hauch einer Ahnung hatten, welche Wirkung sie auf andere Menschen und vor allem auf Männer ausübten. Ruth besaß eine unglaubliche Ausstrahlung, sprühte vor Lebensfreude und Temperament. Das wirklich Wunderbare an ihr aber waren ihre grenzenlose Herzenswärme und Fürsorge. Und wenn sie lachte, musste man mitlachen.
Marianne hatte schon oft gedacht, dass sie nicht hierher in diesen verstaubten, altmodischen Salon gehörte, in dem die ältere Schwester das Sagen hatte und der Bruder mit gelangweiltem Desinteresse alles über sich ergehen ließ. Ruth sollte in einem schicken Salon mit Laufkundschaft arbeiten. Bei Dollmann zum Beispiel, den es zwar auch schon länger gab, der aber immerhin den Staub und Mief der vergangenen Jahre abgelegt hatte.
»Ich habe heute nur noch Frau Weber. Und morgen sind nur Frau Klagenfurt und Frau Stelter angemeldet.« Wieder seufzte Ruth.
»Die laufen jetzt alle zu Dollmann«, meinte Marianne und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. Ob sie ihn verstand?
»Wenn Gisela sich wenigstens auf neue Spiegel einlassen würde«, sagte Ruth. »Und auf ein Radio. Stell dir vor, den ganzen Tag könnten wir flotte Musik hören.«
»›Modischer Tinnef‹ wird sie sagen, du kennst sie doch.«
»Vielleicht sollte ich sie einfach vor vollendete Tatsachen stellen«, überlegte Ruth und betrachtete ihre unlackierten Fingernägel. »Zeig mal.« Sie nahm Mariannes Hand und begutachtete deren Nagellack. »Schicke Farbe.«
»Himbeerrosa.«
»Für mich sieht das eher wie Kirschrot aus.«
Sie sahen sich an und lachten.
»Ich hab mir übrigens überlegt, dieses Jahr meinen Geburtstag nicht zu feiern«, sagte Ruth dann.
»Was? Kommt ja gar nicht infrage«, erwiderte Marianne empört.
Ruth legte die Hand auf ihren Arm. »Im Ernst, Marianne, ich hab dieses Jahr keine Lust.«
Brandes stieg von der Trittleiter. »So, jetzt müsste’s wieder gehen.«
Ruth lief zur Tür und öffnete sie schwungvoll. Als ein helles »Klingeling« erklang, klatschte sie erfreut in die Hände. »Na also!«
Er räumte den Werkzeugkoffer wieder ein. »Kleiner Tipp.« Er zeigte nach oben zur Klingel. »Wenn’s mal wieder klemmt, müssen Sie nur hochsteigen und einmal dranklopfen.«
»Oder einfach eine neue Klingel anschaffen«, entgegnete sie trocken.
Mit einem Grinsen klappte er die Leiter zusammen, nahm den Werkzeugkoffer und nickte ihnen zu. »Schönen Tag noch, die Damen. Rechnung kommt.«
Er war kaum aus der Tür, als Ruth sagte: »Kann es sein, dass er dir ziemlich gut gefällt?«
»Wie bitte?«
»Na, so wie ihr euch immer anseht.«
»Er ist irgendwie … niedlich, ja.«
»Niedlich, aha.« Ruth lachte. »Deshalb haben deine Augen gerade so geleuchtet.«
Sie scherzten häufig so miteinander, zogen sich gegenseitig auf, warfen sich Worte wie Jonglierbälle zu.
Marianne wusste, dass ihre Mutter sich in diesen Momenten ausgeschlossen fühlte. Aber schloss sie sich nicht selbst ständig aus, weil sie niemanden an sich heranließ?