4.

Marianne beneidete Ulrich glühend um seine eigene Bude.

Er war gleich mit einundzwanzig ausgezogen, hatte erst bei seinem älteren Bruder gewohnt und sich wenig später eine bezahlbare Einzimmerwohnung im Viertel gesucht.

Wenn die Clique sich traf, dann meistens bei ihm. Sie redeten, diskutierten, machten Pläne, die sie schnell wieder verwarfen, tranken billigen Wein und Schnaps und knabberten Salzstangen und Erdnüsse. Doris, Micha und Bernd philosophierten auch gern, fragten nach dem Sinn des Lebens und warfen Zitate von Schopenhauer und Nietzsche in den Raum. Marianne hatte sich noch nie zur Philosophin berufen gefühlt, für sie waren die ausschweifenden Reden und tiefsinnigen Überlegungen ihrer Freunde kaum nachvollziehbar. Ihr ging es wie Ulrich, der diese Art von Unterhaltung als Geschwafel bezeichnete.

Auch mit Politik hatte sie nichts am Hut. Das Gefasel der Politiker waren doch bloß Phrasen, leere Worthülsen.

Das, was in Vietnam passierte, ging ihr nahe, aber nicht nahe genug, um sich an einer der Demonstrationen zu beteiligen, die seit einiger Zeit im Gange waren. Vietnam war so weit weg, und was konnten sie hier in Deutschland schon ausrichten? Die Stimme erheben war ja gut und schön, aber mehr fürs eigene Ego. Was sollte das schon bringen?

Marianne saß im Schneidersitz auf Ulrichs ausgeleierter, schmuddeliger Couch, eine Schale Salzbrezeln im Schoß. Die langen Haare fielen ihr ins Gesicht, was gut war, so konnten die anderen nicht sehen, dass sie weder zuhörte noch irgendein Interesse heuchelte.

Manchmal hatte sie ihr Leben satt, so sehr, dass sie ernsthaft darüber nachdachte, etwas verändern zu wollen. Nur, wo sollte sie anfangen? Sie war gerade einundzwanzig geworden, endlich volljährig und alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Doch immer, wenn sie begann, einen zunächst vagen Plan aufzustellen, der schließlich konkreter wurde, zögerte sie und warf alles wieder über den Haufen.

Mit ihrem Vater hätte sie über all das reden können, er hätte sie nicht nur verstanden und ernst genommen, sondern ihr auch Mut gemacht und zugeredet. »Von allein geht gar nichts, das weißt du doch. Wenn du etwas schaffen, erreichen willst, musst du einen ersten Schritt machen oder wenigstens einen Plan.«

Als sie die Schule beendet hatte, hatten sie oft zusammengesessen und darüber geredet, wie es weitergehen sollte. Marianne hatte nicht unbedingt Friseuse werden wollen, sie wäre gern Verkäuferin in einem Damenbekleidungsgeschäft geworden. Aber sie wusste, dass ihre Mutter enttäuscht gewesen wäre. »Du sollst doch mal den Salon übernehmen, Marianne. Deinen Großvater hätte das so stolz gemacht.«

Also hatte sie eine Lehre im Salon gemacht und sich eingeredet, später immer noch als Verkäuferin arbeiten zu können.

Inzwischen befürchtete sie, dass es Salon Fellbach nicht mehr lange geben würde und sie sich früher oder später ohnehin eine neue Stelle suchen müsste. Es sei denn, ihre Mutter könnte sich doch noch dazu durchringen, dem altmodischen Salon etwas Frische einzuhauchen.

Doris stupste sie in die Seite. »He, Träumerin.«

Sie hob den Kopf und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich träume nicht.«

»Sondern?«

»Ich denke nach.«

»Und wo ist da der Unterschied?«

Micha mischte sich ein. »Genau.« Er zeigte mit dem Finger auf sie, offenbar schon wieder betrunken. »Was ist der Unterschied zwischen Träumen und Grübeln?« Sein Gesicht war erhitzt, sein Haar strähnig und fettig.

Wie oft schon hatte Marianne ihm gesagt, er solle es entweder richtig wachsen oder endlich schneiden lassen. »Und nicht von deiner Schwester, die dir eine Puddingschüssel auf den Kopf stülpt. Komm zu uns in den Salon, und ich mache dir einen Freundschaftspreis.« Selbst das hatte ihn nicht gelockt. Es war ihm schlicht und ergreifend schnuppe, wie er aussah.

Micha hob sein leeres Glas und fuchtelte damit in der Luft herum. »Leute …« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Wie lange er es wohl nicht gewaschen hat ?, überlegte sie.

»Träume sind klasse, jeder muss Träume haben, oder?«

Die anderen nickten zustimmend, und er redete weiter. »Aber wir sollten unsere Träume irgendwann in die Tat umsetzen, oder?« Wieder einhelliges Nicken. »Grübeln bringt einen nicht weiter, weil sich alles im Kreis dreht. Die Gedanken, meine ich. Oder seht ihr das anders?«

Alle außer Marianne schüttelten den Kopf.

Er betrachtete sein Glas, als stünde eine weitere Frage darin oder aber eine Antwort auf alle Fragen dieser Welt.

Manchmal hatte sie auch ihre Clique satt, die Menschen, die sie doch eigentlich mochte und mit denen sie ungeheuer viel Spaß hatte. Lag es an ihr? Stimmte vielleicht mit ihr etwas nicht?

»Tja …« Micha ließ das Wort im Raum stehen und sah auf.

»Wenn man traurig ist, grübelt man auch viel«, meinte Doris und legte den Arm um Marianne. »Ist doch so, Herzchen, oder?«

»Seit wann nennst du mich Herzchen?«

»Seit heute.«

»Mach doch mal was anderes an«, sagte Bernd zu Ulrich. »Ich kann das Gequäke nicht mehr hören.«

»Wie bitte?« Doris schnappte nach Luft. »Was hast du gegen Chris Andrews?«

»Gar nichts. Nur sein Gesang geht mir auf die Nerven.« Er zwickte sie ins Bein, und sie wand sich.

Vielleicht wird aus den beiden ja doch noch was , überlegte Marianne und fragte sich im selben Moment, warum sie sich darüber überhaupt Gedanken machte. Es war ihr vollkommen egal, ob aus Doris und Bernd ein Paar wurde. Von mir aus können auch gern Micha und Bernd miteinander gehen, dachte sie und unterdrückte ein Prusten.

Ulrich rutschte auf Knien zum Plattenspieler, nahm die Nadel von der Platte und drehte sich halb zu ihnen um. »Was wollt ihr hören?«

»Beatles!«, rief Doris.

»Die kommen nicht auf diesen Plattenteller. Das könnt ihr vergessen.«

»Dann leg halt was von Bob Dylan auf«, schlug Bernd vor.

»Och, komm, nicht Bob Dylan.« Doris stöhnte auf. »Der klingt immer, als hätte er einen Waschlappen im Mund.«

Marianne musste so lachen, dass sie sich an einer Salzbrezel verschluckte. Doris klopfte ihr den Rücken.

»Hier.« Micha schenkte ihr großzügig Rotwein nach.

Sie tat so, als würde sie daran nippen, und stellte das Glas auf den Beistelltisch. Sie würde den Wein später, wenn er es nicht sah, in den armen Gummibaum gießen.

Ich sollte gehen , dachte sie. Doch selbst dazu konnte sie sich nicht aufraffen. Wahrscheinlich würde sie hier sitzen bleiben und ihren Gedanken nachhängen, bis die anderen aufbrachen.


Von Ulrichs Bude bis zum Rosenplatz war es ein ordentlicher Fußmarsch. Normalerweise nahmen Marianne und Doris die Straßenbahn, heute Abend jedoch wollte Marianne laufen. Sie brauchte dringend frische, kühle Luft.

Am Himmel stand ein milchiger Vollmond, und es nieselte.

Sie kuschelte sich in ihren langen Mantel. Trotzdem kroch die feuchte Kälte ihre Beine hinauf. »Brr.« Sie schüttelte sich.

Doris, ebenfalls in kurzem Rock und Stiefeln, hakte sie unter. »Selbst schuld, du wolltest ja unbedingt zu Fuß gehen.«

»Frische Luft ist gut für den Teint.«

»Wie findest du eigentlich Micha?«

»Wie kommst du jetzt auf Micha?«

»Nur so.«

Doris fragte nie »nur so«. »Stehst du etwa auf ihn?«

»Ich? Nein!«

Marianne grinste in sich hinein. »Natürlich nicht.«

»Was?«

»Gar nichts.«

»Du hast gerade ›natürlich nicht‹ gesagt, ich hab’s genau gehört.« Doris blieb stehen und trat von einem Bein aufs andere. »Er ist ganz … süß, ja, aber mehr …« Sie verstummte und sah aus, als hätte sie das gar nicht sagen wollen.

»Sag bloß, du willst mir gerade beichten, dass du in ihn verknallt bist.«

»Ganz bestimmt nicht!« Doris lief weiter.

Marianne folgte ihr und legte den Arm um sie. »Du würdest mit ihm gehen?«

»Das hab ich mit keiner Silbe gesagt, Marianne.« Wieder bremste Doris und schaute sie eine Weile nachdenklich an. Ein Blick, der sie verwirrte.

»Du willst mit ihm gehen, aber er nicht mit dir

Doris ging wieder weiter und beschleunigte den Schritt. »Er ist so doof«, hörte Marianne sie murmeln.

»Nun warte doch mal!« Marianne holte sie ein und hielt sie am Arm fest. »Er hat dich abblitzen lassen?«

Sie nickte und sah mit einem Mal ganz unglücklich aus.

»Wieso sagst du erst jetzt, dass du auf ihn stehst?«

»Weil … weil es mir irgendwie komisch vorkam, schließlich kennen wir uns schon ewig. Also Micha und ich.«

»Na und? So was kommt vor.« Marianne zuckte mit den Schultern. Ja, so etwas kam natürlich vor, nur nicht bei ihr, da war sie ganz sicher. Sie würde, sie könnte sich nie in jemanden verlieben, den sie schon länger kannte. Bei ihr müsste es romantischer ablaufen, sie würde jemandem begegnen und sich Knall auf Fall in ihn vergucken. Und bei ihm müsste es natürlich genauso sein.

Sie überquerten schlitternd die Straße und kicherten, als sie gleichzeitig ausrutschten und mit den Armen ruderten.

»Ich weiß, dass er manchmal ziemlich doof ist«, sagte Doris nach einer ganzen Weile, in der sie nebeneinanderher gegangen waren. »Aber ich finde ihn eben süß.«

»Die Liebe geht oft seltsame Wege«, sinnierte Marianne und musste lachen.

»Ist der Satz von dir?«

»Von meiner Mutter.« Erst jetzt spürte sie den Alkohol im Blut wabern und in ihrem Kopf rauschen. Ein schwindelerregendes, nicht unangenehmes Gefühl.

Sie schaute ihre Freundin von der Seite an und musste wieder lachen, weil ihr Gesicht im milchigen Vollmond etwas gruselig aussah.

»Warum lachst du?«

»Du siehst aus wie ein Geist.«

»Besten Dank auch, liebste Freundin.«

Marianne zeigte zum Himmel. »Wegen des Vollmonds.« Sie zog Doris weiter. »Komm, lass uns etwas schneller gehen. Mir ist kalt.«

Sie waren in der Ellhornstraße angekommen, die ruhig und friedlich vor ihnen lag. Nirgendwo brannte Licht, und kein einziges Auto war unterwegs.

Vor dem Salon umarmten sie sich.

»Schlaf schön.«

»Du auch.« Marianne ließ sich von Doris auf die Wange küssen.

»Und träum von Micha.«

»Du erzählst es jetzt aber nicht überall rum, oder?«

»Wofür hältst du mich?« Sie gab ihrer Freundin einen leichten Klaps auf den Oberarm. »Nacht, du Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe.«

Doris winkte ihr zu und lief in Richtung Wallanlagen.

Tagsüber war das Parkgelände sehr hübsch und gut besucht, mit sattgrünen, hügeligen Rasenflächen und hohen Bäumen. An dem breiten Wassergraben, der sich hindurchschlängelte, spielten Kinder mit Booten, während die Eltern auf den Bänken saßen und ihnen zuschauten. Nachts jedoch war der Park unübersichtlich mit seinen schmalen verschlungenen Wegen. Die Blätterkronen der Bäume rauschten und flüsterten, und im Mondlicht konnte man die Windmühle auf dem Hügel sehen, deren weißer Anstrich gespenstisch leuchtete.

Marianne käme nicht im Traum darauf, nachts durch die Wallanlagen zu laufen. Ich bin eben nicht nur eine Trantüte, sondern auch ein Angsthase.

In diesem Augenblick schoss ihr etwas Merkwürdiges und zugleich Erschreckendes durch den Kopf. Schob sie ihre Lethargie auf den Tod ihres Vaters? War es ihr im Grunde sogar ganz recht, dass sie einen Vorwand hatte?

Doris wackelte übertrieben mit den Hüften und sang laut: ›Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett.‹

Bestimmt ging gleich irgendwo ein Fenster auf und jemand würde brüllen, sie sollten still sein.

Doch es blieb ruhig, bis auf Doris’ Geträller.

Marianne wartete, bis sie nicht mehr zu sehen war, dann schloss sie die Nebentür auf und huschte auf leisen Sohlen ins Haus. Diesmal schaute sie ganz bewusst nicht auf den Platz, an dem seine Schuhe immer gestanden hatten. Sie stellte sich auch nicht vor, wie sein Schnarchen aus dem Schlafzimmer zu hören war, meistens gefolgt von einem Pfeifton. »Manchmal glaube ich, du komponierst nachts ein Lied«, hatte ihre Mutter eines Morgens gesagt, und sie hatten am Frühstückstisch zu dritt laut gelacht.

Das Leben ging weiter, musste weitergehen.

Und ich kann nicht länger so tun, als hätte ich keins mehr.