5.

Gisela


Am Abend hatte Gisela es sich auf der Couch gemütlich gemacht und ferngesehen. Freitagabends lief ihre Lieblingsserie, und wie immer hatte sie sich etwas zu trinken geholt und Knabbersachen hingestellt, damit sie nicht aufstehen musste, während Dr. Kimble auf der Suche nach dem einarmigen Mann war.

Bei der anschließenden Sportsendung musste sie eingedöst sein und war wieder hochgeschreckt, als sie ein Geräusch hörte.

Kam Marianne heim?

Sie warf einen Blick auf die Wanduhr, eine Kuckucksuhr, die sie und Dietmar aus einem ihrer Urlaube im Schwarzwald mitgebracht hatten. Es war erst kurz nach elf, und ihre Tochter kam selten vor Mitternacht nach Hause.

Gisela blieb liegen, obwohl sie eigentlich gern ins Bett gegangen wäre. Sie fühlte sich seit Langem matt und wie erschlagen, konnte sich zu kaum etwas außer ihrer Arbeit im Salon aufraffen. Selbst die fiel ihr oft entsetzlich schwer.

Manchmal kam es ihr vor, als wäre Dietmar schon viele Jahre nicht mehr bei ihr. Dann wieder war es, als wäre er erst wenige Wochen zuvor gestorben. Als hätte sie nach und nach jegliches Zeitgefühl verloren, als spielte Zeit gar keine Rolle mehr. Weil sie sich jeden Tag grauenvoll fühlte. Weil es keine Bedeutung mehr hatte, ob Sommer oder Winter, morgens oder abends war. Weil es ihr vorkam, als hätte es sie nur zusammen mit Dietmar gegeben. Ohne ihn war sie unvollständig, durchsichtig, unsichtbar, eine leere Hülle.

Er hatte ihrem Leben einen Sinn und ihr selbst Halt gegeben. Er hatte sie aufgefangen, zum Lachen gebracht und mit seinem Elan angesteckt. Dass er zu viel davon besaß, viel zu viel arbeitete und nie stillstand, hatte sie zu spät begriffen. Sie hätte viel früher an seine Vernunft appellieren müssen. »Lass es ruhiger angehen, Dietmar, denk an deine Gesundheit.« Aber er war ihr stets so kräftig und unverwüstlich vorgekommen.

Das letzte Mal, dass sie ausgegangen war, lag eine ganze Weile zurück. Sie und ihre Freundin Hannelore waren zur Tausendjahrfeier gegangen. Die Sögestraße war festlich geschmückt, und es waren so viele Menschen unterwegs gewesen, dass ein entsetzliches Gedränge und Geschiebe geherrscht hatte. Während Hannelore an einem Stand etwas zu trinken holte, war Gisela völlig unvorbereitet in Tränen ausgebrochen. Mitten auf der Straße. Von allen Seiten wurde sie angerempelt, und manche fuhren sie barsch an, sie solle nicht im Weg herumstehen. Sie konnte sich nicht rühren, stand nur da, die Handtasche umklammernd, und weinte. Dietmar fehlte ihr so! Sie wären zusammen zur Feier gegangen, hätten getanzt und sich amüsiert. Er war ein so guter Tänzer gewesen.

Hannelore war ganz bestürzt, wollte sie sogar zum Arzt bringen. »Nein, Lore«, hatte sie schluchzend gebeten. »Ich will nur nach Hause.« Ein waschechter Nervenzusammenbruch.

Noch heute träumte Gisela davon, wie das Telefon klingelte und eine Krankenschwester sagte: »Ihr Mann ist mit einem Herzinfarkt eingeliefert worden.« Sie sah sich wieder auf dem Flur stehen, die Telefonschnur so fest um die Finger gewickelt, dass sie weiß und fast taub geworden waren. Es konnte nicht sein, dass er einen Infarkt gehabt hatte. Das war vollkommen unmöglich.

Am Morgen hatte er über Unwohlsein und Übelkeit geklagt, und sie hatte ihn geneckt, dass er wohl wieder zu viel Süßkram genascht hätte. Sie hatte ihm einen Kuss gegeben, sein Mittagessen in seine Tasche gepackt und ihn zur Tür gebracht. »Heute Abend sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, Schatz«, hatte sie gesagt und ihm noch einen Kuss gegeben.

Und dann am Abend der Anruf. Dietmar war im Büro zusammengebrochen, und eine Kollegin hatte sofort einen Krankenwagen gerufen.

Wieder und wieder hatte Gisela überlegt, was sie zu der Zeit gemacht hatte. Hatte sie über der Buchhaltung gesessen oder mit Herrn Konrad, dem Vertreter, geplaudert? Hatte sie dagesessen und aus dem Fenster geschaut, während ihr Mann um sein Leben kämpfte? Hatte sie daran gedacht, dass sie am Abend zusammen fernsehen und dazu vielleicht ein paar Cognacbohnen essen würden, die Dietmar so liebte? Hätte sie nicht irgendwie spüren müssen, dass etwas nicht in Ordnung war, dass ihm etwas passiert war?

Lange nach dem Telefonat mit der Krankenschwester hatte sie noch wie betäubt dagestanden, unfähig zu begreifen, was sie gehört hatte. Dann hatte sie ihre Handtasche genommen und nach ihrer Tochter gerufen, die noch unten im Salon gewesen war. »Papa ist im Krankenhaus! Er hatte einen Herzinfarkt.«

Zu zweit waren sie in die Straßenbahn gestiegen, das Krankenhaus war ganz in der Nähe. Sie waren ins Gebäude gelaufen. Gisela wollte so schnell wie möglich bei ihm sein, seine Hand halten und ihm versichern, dass alles gut werden würde. Er würde wieder gesund werden, natürlich, er würde in Zukunft nur besser auf sich achtgeben müssen. Ich werde besser auf ihn achtgeben , hatte sie gedacht.

Was danach geschehen war, wusste sie bis heute nicht. Sie erinnerte sich nur an Mariannes Weinen, ihr verzweifeltes Wimmern. Erst da hatte sie begriffen, dass Dietmar tot war, dass er bereits tot gewesen war, als man sie angerufen hatte. Sie hatte es nur nicht verstanden.

Seitdem sortierte Gisela alles in vor und nach Dietmars Tod.

Wenn sie Drafi Deutschers ›Marmor, Stein und Eisen bricht‹ im Radio hörte, schaltete sie es sofort aus. Sie konnte es einfach nicht ertragen, weil es sie schmerzvoll daran erinnerte, dass auch sie und Dietmar sich ewige Liebe geschworen hatten.

Gisela setzte sich auf. Ihr Kopf brummte. Schon wieder Kopfweh. Das wievielte Mal in dieser Woche?

Sie schwang die Beine von der Couch und schob die Füße in ihre Pantoffeln. Auf dem Tisch lagen die aufgeschlagene Tageszeitung und das Halstuch, das sie getragen hatte. Daneben standen eine halb volle Schale mit Knabberzeug, ein leeres Weinglas und der Aschenbecher, in dem sich mehrere Zigarettenkippen befanden. Sie hatte viel geraucht an diesem Abend. Unter dem Tisch lagen das Feuerzeug, ihr beigefarbener Rock, den sie ausgezogen hatte, weil er so unbequem war, und ihre umgekippte Handtasche, deren Inhalt daneben verstreut war. Hatte sie diese Unordnung angerichtet?

Sie stand auf, nahm ihren Rock und taumelte aus dem Zimmer. Himmel, war sie müde!

In Unterrock und Strumpfhose legte sie sich ins Bett und schlief sofort ein.


Früher war samstags immer Hochbetrieb im Salon Fellbach gewesen. Oft hatte Gisela schon um sieben aufgeschlossen, um alle Anmeldungen bewältigen zu können. Doch seit ein paar Jahren wurde der Terminkalender immer leerer.

Es brauchte eine neue Strategie, behauptete Ruth, neue Tapeten, schicke Spiegel, vielleicht ein paar neue Möbel.

»Unser Salon muss mithalten können. Wir haben bereits den Anschluss verpasst und sollten uns ins Zeug legen.«

Sie hatte gut reden. Aber sie hatte ja auch noch ein Leben, eine Zukunft. Manchmal war Gisela wütend auf sie, so wütend. Auf ihre Fröhlichkeit, ihren unerschütterlichen Optimismus, ihre Energie und ihren Glauben an das Gute.

Der Schlaf hatte Gisela an diesem Samstagmorgen lange festgehalten und ihr noch im Morgengrauen einen eigenartigen Traum geschenkt: Sie und Dietmar am Meer, Arm in Arm und so fest aneinandergeschmiegt, dass es aussehen musste, als seien sie zu einer Person verschmolzen. Sie waren barfuß gewesen, und der Sand war wunderbar warm gewesen.

»So kann es doch immer sein, oder?« Dietmar hatte sie lange geküsst. Und sie hatte seinen Geruch eingeatmet, bis sie glaubte, nur noch daraus zu bestehen.

Als sie aufgewacht war, hatte sie gelächelt.

»Morgen, Mama.« Marianne kam in die Küche und küsste sie flüchtig auf die Stirn. »Gut geschlafen?«

»Ja«, schwindelte sie. »Und du?«

»Einigermaßen. Bin spät nach Hause gekommen, und wie meistens schlafe ich dann schlecht ein.« Marianne schenkte Kaffee ein und setzte sich ihr gegenüber.

Gisela wünschte, sie könnte sich alles von der Seele reden, über Dietmar sprechen und darüber, wie sehr er ihr fehlte, wie verloren sie sich vorkam und wie gern sie die Zeit zurückdrehen würde.

Alles auf Anfang und alles besser machen.

Aber sie wollte Marianne nicht traurig machen, noch trauriger. Sie wollte auch nicht, dass sie beide am Ende dasitzen und heulen und sich noch elender fühlen würden.

Der Schmerz saß wie ein Stachel in ihrer Brust, und wenn man ihn herausziehen würde, wäre da nichts als ein großes, tiefes Loch, aus dem unablässig Lebenskraft tröpfeln würde.

Gisela war davon überzeugt, dass der Stachel sie am Leben hielt und sie ihn brauchte.

»Alles in Ordnung, Mama?« Marianne sah sie besorgt an. »Du isst ja gar nichts.«

Sie lächelte verkrampft. »Doch, doch. Eine Kleinigkeit aber nur, ich habe keinen Appetit.«

Was für eine auffallend hübsche Tochter ich doch habe, dachte Gisela voller Stolz. Auch Dietmar war immer so stolz auf Marianne gewesen. »Von wem hat sie nur diese Augen?«, hatte er oft gesagt. »Und diese unglaublich langen Beine?«

Marianne hielt ihr den Brotkorb hin und wedelte damit. »Komm schon, Mama, du musst was essen.«

Gisela nahm eine Scheibe Brot und legte sie in Zeitlupe auf ihren Teller.

»Und jetzt Butter und Marmelade.«

Gisela schluckte. Wann hatte sie Marianne das letzte Mal gesagt, wie lieb sie sie hatte?

Das war auch etwas, das sie quälte: Sie wusste nicht mehr, wann sie Dietmar zuletzt gesagt hatte, dass sie ihn liebte. Sie erinnerte sich einfach nicht mehr. Manchmal war es, als hinge ihr Leben davon ab, dass sie sich erinnerte.

Marianne seufzte kopfschüttelnd, nahm die Scheibe Brot von ihrem Teller, bestrich sie mit Butter, gab einen Klecks Marmelade darauf und reichte sie ihr. »Und jetzt brav essen, Mama.«

Gisela musste lachen, es klang heiser, wie das Krächzen eines Wellensittichs.

Sie hatten damals einen gehabt, einen blauen. Dietmar hatte ihn nicht haben wollen, aber Marianne und Ruth hatten so lange gebettelt, bis er nachgegeben hatte. Als Piet gestorben war, hatte Dietmar ihn morgens in eine Schachtel gelegt.

»Wo bringst du ihn jetzt hin, Papa?«, hatte Marianne gefragt, als er sich aus dem Haus stehlen wollte.

»An einen Ort, an dem alle toten Tiere sind«, hatte er geschwindelt.

»Im Tierhimmel?«

»Ganz genau, mein kleines Mädchen.«

Gisela biss in ihr Brot und kaute sorgfältig. Sie sehnte sich nach einer Zigarette. Nach wenigen Bissen wurde ihr übel, und sie legte die Scheibe wieder weg.

»Du bist viel zu dünn, Mama.« Marianne trank ihren Kaffee und betrachtete sie über den Rand der Tasse.

»Als wärst du nicht genauso dünn. Das liegt in der Familie, das weißt du doch.«

Sie standen gemeinsam auf, räumten den Tisch ab und stellten das Geschirr in die Spüle.

Marianne ging auf den Flur. »Frau Klagenfurt wartet bestimmt schon.«

Wie so oft überkam Gisela eine urplötzliche niederschmetternde Traurigkeit, die sich in einer Enge in der Brust, krampfartigen Magenschmerzen und einer kurzfristigen Lähmung äußerte. Es würde vorübergehen, wie immer.

Sie blinzelte die Tränen weg und schluckte, bis das Gefühl nachließ. Dann nahm sie ihre Strickjacke von der Garderobe und folgte ihrer Tochter nach unten in den Salon.