6.

Ruth


Sie war die Erste an diesem Morgen gewesen, was selten vorkam. Frau Meierdierks hatte bereits vor der Tür gestanden, eine Regenhaube auf dem Kopf. »Haben Sie das scheußliche Wetter bestellt, Fräulein Ruth?«

»Nein, meine Bestellung war ganz viel Sonne und Wärme.« Ruth hatte die alte Dame hereingelassen und ihr eine Illustrierte angeboten. »Ich schließe nur schnell die Kasse auf und hole die Zeitungen herein. Ich bin gleich bei Ihnen.«

»Nur keine Eile. Ich mach’s mir solange gemütlich.«

Die alte Dame kam immer mit ihrem Mann, der im Wartebereich der Herren Platz nahm und sich dem Kreuzworträtsel in der aktuellen Tageszeitung widmete.

Ruth steckte den Schlüssel in die Kasse, legte Wechselgeld hinein, ordnete die Broschüren auf dem Tresen und warf einen kurzen Blick in den Terminkalender. Dabei kannte sie ihre Termine an diesem Tag auswendig, es waren ja auch nur drei Kundinnen.

Anschließend holte sie das kleine Bündel Zeitungen und Zeitschriften, löste den Bindfaden und verteilte sie auf dem Tischchen im Wartebereich.

»Fahren Sie dieses Jahr in den Urlaub?«, fragte Frau Meierdierks, während sie ihr den Umhang umlegte.

»Das kann ich mir nicht leisten. Sie wissen doch, ich spare auf ein Auto.«

Marianne kam herein, und sie drehte sich zu ihr um. »Morgen, Marianne.« Gleich hinter ihr Kurt, der sie mit einem Nicken begrüßte.

Herr Meierdierks legte sichtlich enttäuscht die Zeitung auf den Stapel und stand auf.

»Er und seine Kreuzworträtsel.« Frau Meierdierks schüttelte mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf.

»Jeder braucht eine Leidenschaft.«

»Da sagen Sie was, Fräulein Ruth.«

»Wie immer?« Ruth kämmte ihr graues Haar und sah sie im Spiegel an.

Die alte Dame nickte. »Wie immer.«


Kurz nachdem das Ehepaar Meierdierks gegangen war, kam eine Frau in den Salon, die weder Ruth noch Marianne kannten.

Eine neue Kundin , dachte Ruth erfreut und ging zu ihr. »Was können wir für Sie tun?«

»Ich habe keinen Termin, aber vielleicht können Sie mich irgendwo dazwischenschieben?«

»Das dürfte kein Problem sein. Wenn Sie dort drüben am ersten Waschbecken Platz nehmen würden?«

Ruth nahm ihr den Mantel ab und brachte ihn zur Garderobe.

Im Vorbeigehen raunte sie Gisela zu, die am Tresen stand: »Wir haben eine neue Kundin, ist das nicht schön?«

Rasch griff sie in ihre Kitteltasche und legte die zwanzig Pfennig Trinkgeld von Frau Meierdierks auf den Tresen. »Das hätte ich fast vergessen. Hier. Du siehst müde aus, Gisela.«

»Ich schlafe zurzeit nicht sehr gut.«

Ruth lag etwas wie »Kann ich irgendwas für dich tun?« auf den Lippen, aber wie meistens schluckte sie es wieder herunter.

Und so nickte sie nur mitfühlend und ging zurück in den Frisierbereich.

Sie stellte sich hinter die Frau und lächelte sie im Spiegel an. »Wie hätten Sie es denn gern, Frau …?«

»Bohnekamp. Ich glaube, ich hätte es gern so kurz wie Sie. Mir gefällt Ihre Frisur.«

Ruth berührte das hellbraune, lockige Haar der Frau.

»Oder glauben Sie, dass mein Haar dafür zu kraus ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, bestimmt nicht. Soll es gewaschen werden?«

»Ja, bitte.«

Sie reichte der Frau einen Waschlappen und stellte das Wasser an.

»Sie sind heute zum ersten Mal hier«, ließ sie wie nebenbei fallen, während sie das Haar shampoonierte. »Wir freuen uns immer über neue Kunden. Ist das Wasser gut so?«

»Ja, vielen Dank. Arbeiten Sie schon lange hier?«

»Ich habe meine Lehre hier gemacht. Der Salon gehörte früher meinem Vater.« Ruth spülte das Shampoo zweimal hintereinander aus und nahm ein frisches Handtuch aus der Ablage neben dem Waschbecken.

»Hoffentlich habe ich das widerspenstige Haar nicht meiner Tochter vererbt.«

Ruth wickelte das Handtuch wie einen Turban. »Wie alt ist Ihre Tochter?«

»Ein Jahr.«

»Süßes Alter. Vielleicht bringen Sie die Kleine beim nächsten Mal mit?« Es war recht direkt, aber einen Versuch wert.

Die Kundin lächelte sie im Spiegel an. »Das mache ich.«

»Wie heißt Ihre Tochter?«, fragte Ruth, während sie das Haar vorsichtig kämmte.

»Harriet.«

»Ein ungewöhnlicher Name. Klingt sehr hübsch.«

Aus dem Augenwinkel sah Ruth eine weitere Frau hereinkommen. Auch sie hatte sie noch nie hier gesehen.

Ob heute ein Glückstag war?

»Könnten Sie mich dazwischennehmen?« Sie ließ den Blick schweifen, erst zu Ruth, dann zu Marianne, die ein Waschbecken sauber machte, um sich die Zeit zu vertreiben, und schließlich zu Kurt, der damit beschäftigt war, die Pinsel ordentlich aufzustellen.

»Natürlich können wir.« Marianne bat sie, am zweiten Waschbecken Platz zu nehmen.

»Ich bin Ihnen wirklich dankbar. Bei Dollmann war die Hölle los.«


Am frühen Nachmittag, nachdem Ruth und Marianne aufgeräumt und sauber gemacht hatten, gingen sie nach vorn, um sich umzuziehen. Gisela stand am Tresen und nahm das Geld aus der Kasse. »Wenn bei Dollmann zu viel los ist, sind wir gut genug.«

»Wir sollten froh sein, dass sie zu uns gekommen sind«, meinte Ruth und zog ihren Kittel aus. »Vielleicht kommen beide wieder, weil es ihnen bei uns gefallen hat.«

»Deinen Optimismus möchte ich haben.«

Das wäre hin und wieder bestimmt nicht schlecht , dachte Ruth. »Das klingt, als würdest du nicht glauben, dass sich jemand bei uns wohlfühlen kann.«

Gisela sah sie an. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Es klang aber so.«

»Fang jetzt bloß nicht wieder an zu streiten.« Gisela schloss mit einem lauten »Pling« die Kasse.

Als wäre ich diejenige, die ständig Streit suchen würde ! »Ich will ganz bestimmt nicht streiten, Gisela.«

»Wie du schon wieder das ›Ich betonst!«

Kurt, der ebenfalls gekommen war, um sich umzuziehen, blieb in der Tür stehen und verdrehte die Augen. »Ihr beide seid wirklich …« Er stöhnte auf. »Wie Hund und Katze.«

Er hängte seinen Kittel an den Haken und drehte sich dann zu Gisela um. »Du wolltest mir mein Geld geben.«

Sie wurde erst blass, dann rot. »Müssen wir das jetzt und hier besprechen, Kurt?«

»Wieso besprechen?«, fragte er zurück. »Du hast gesagt, dass ich am achtzehnten mein Geld kriege. Oder meintest du den achtzehnten im nächsten Monat?«

Gisela schnappte nach Luft, sagte jedoch nichts.

»Bevor du gleich wieder hochgehst: Das war ein Witz, Gisela, ein kleiner Scherz.«

»Sehr lustig.«

Marianne warf Ruth einen flüchtigen Blick zu, den sie mit einem Schulterzucken quittierte. Am besten, sie würden jetzt gehen, alle.

Gisela stützte sich mit einer Hand am Tresen ab. »Du weißt, dass es diesen Monat knapp ist, Kurt.« Und an Ruth und Marianne gewandt sagte sie: »Vielleicht geht ihr beide schon mal.«

»Nein, bleibt nur.« Kurt verschränkte die Arme und sah sie herausfordernd an. Ungewöhnlich herausfordernd und direkt für seine Verhältnisse. »Es ist immer knapp, Gisela, jeden Monat. Ich hab schon oft auf mein Geld verzichtet, diesen Monat geht das aber nicht.«

»Vielleicht solltest du dir nicht so eine kostspielige Freundin anlachen.«

Jetzt schnappte er nach Luft. »Ich höre wohl nicht recht. Lass bloß Heidelinde aus dem Spiel.«

»Hast du nicht selbst gesagt, sie würde dauernd neue Kleider kaufen? Und ständig rumnörgeln, weil ihr deine Einrichtung nicht passt?«

Kurt und Heidelinde wohnten nicht zusammen, zumindest nicht offiziell.

»Sie verdient ihr eigenes Geld«, erwiderte er ruhig.

»Ach ja, sie ist Sekretärin .« Gisela sprach das Wort langsam und gedehnt aus, als handelte es sich um ein Fremdwort.

»Wie lange muss ich noch auf mein Geld warten?«

»Ich weiß es nicht, Kurt.« Plötzlich klang sie verzweifelt, niedergeschlagen. »Ich weiß doch auch nicht, wie es weitergehen soll.«

Ruth schluckte. Es stand schlecht um den Salon, das wusste sie natürlich, aber wie schlecht, wurde nun deutlich.

»Vielleicht sollten wir doch darüber nachdenken, den Salon zu verpachten.«

Ruth war verblüfft, dass ausgerechnet Marianne es war, die den Vorschlag machte. Normalerweise mischte sie sich nie ein, hielt sich grundsätzlich zurück und vor allem aus Streitereien zwischen den Geschwistern heraus.

Gisela sah sie fassungslos an. »Und dann, Marianne? Willst du anderswo arbeiten?«

»Warum nicht?«

»Und ich? Was ist mit mir?«

»Du könntest auch woanders arbeiten, Mama«, sagte Marianne sanft.

»Vielleicht als Sekretärin.« Kurt schnaubte, schnappte sich seine Jacke und verließ grußlos den Salon.

Die drei Frauen blieben mit betretener Miene zurück.

»Geld, Geld, immer geht’s nur ums Geld«, murmelte Gisela.

»Aber von irgendwas müssen wir leben«, sagte Ruth mit leiser Stimme.

Gisela funkelte sie an. »Wer musste denn unbedingt eine eigene Wohnung haben? Und den Führerschein machen?«

»Willst du damit sagen, ich hätte wieder zu dir und Marianne ziehen sollen, nachdem Dietmar …?«, setzte Ruth an und verstummte wieder.

Gisela winkte ab. »Lass gut sein, Ruth.«

»Hältst du mir wirklich vor, dass ich den Führerschein mache? Das Geld habe ich jahrelang eisern zusammengespart.« Wieso rechtfertigte sie sich überhaupt? »Wenn andere tanzen oder ins Kino gegangen sind, bin ich zu Hause geblieben. Ich hab immer davon geträumt, selbst Auto fahren zu können.«

»Schon gut, Ruthchen«, raunte Marianne und legte die Hand auf ihren Arm.

Doch für Ruth war es nicht gut. »Du kannst mir doch nicht vorwerfen, dass ich nicht wieder zu euch gezogen bin, Gisela. Ich dachte, du bist froh, wenn du dich um dich selbst und um Marianne kümmern kannst. Ich dachte …« Sie holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Es ist egal, wie ich’s mache, nicht wahr? Falsch ist es auf jeden Fall.« Sie ging zur Garderobe, hängte ihren Kittel auf und nahm ihren Mantel.

Ohne ein Wort verließ auch sie den Salon.