Endlich war der Winter vorbei, und an diesem Morgen lag zum ersten Mal so etwas wie Frühling in der Luft.
Ruth war sehr früh aufgestanden, hatte den Fensterflügel geöffnet und die klare, frische Luft eingeatmet. So wie es aussah, würde es ein schöner Tag werden, bestes Wetter für eine Fahrstunde.
Pünktlich auf die Minute hielt Fahrlehrer Justus Kornau wenig später vor dem Haus und drückte einmal kurz auf die Hupe.
Ruths Wohnung lag nur wenige Straßen vom Salon entfernt, sie war damals froh gewesen, jeden Morgen zu Fuß gehen zu können. Dafür hatte sie in Kauf genommen, dass es nur ein Zimmer mit einer Kochnische war und mit einem Bad, das so winzig war, dass man ständig irgendwo anstieß. Aber es war ihre eigene Wohnung, die sie mit niemandem teilen musste. Sie konnte kommen und gehen, wann sie wollte, ohne das Gefühl zu haben, Gisela Bescheid geben zu müssen.
Sie verließ das Haus, begrüßte den herrlichen Morgen mit einem raschen Blick in den Himmel, und stieg in den hellblauen VW Käfer. »Morgen, Herr Kornau. Der Frühling ist da.«
»Morgen, Fräulein Fellbach, Sie sagen es.« Er hatte bereits auf dem Beifahrersitz Platz genommen.
Ruth stellte Sitz und Rückspiegel ein und drehte den Zündschlüssel. Ein Blick in den Rückspiegel, ein weiterer über die Schulter, und los.
Am Ende der Fahrstunde fuhr Ruth wie mit Kornau besprochen nach Schwachhausen, wo ihre Freundin Rosemie wohnte.
Er stieg aus und hielt ihr die Fahrertür auf. »Das war doch schon sehr schön, Fräulein Fellbach. Dann sehen wir uns heute in einer Woche.« Er schüttelte ihr die Hand, stieg ein und fuhr weiter.
Ruth war aufgekratzt wie nach jeder Fahrstunde. Beschwingt öffnete sie die schmiedeeiserne Pforte der Villa.
Als sie und Rosemie sich vor vier Jahren angefreundet hatten, hatte Gisela gemeint: »Ob das gut geht? Eine Tochter aus so wohlhabendem Haus und eine Friseurtochter?«
»Hast du etwa einen Dünkel? Warum sollte das nicht gut gehen? Wir verstehen und mögen uns. Mehr ist doch gar nicht wichtig«, hatte Ruth verständnislos erwidert.
Rosemie stammte zwar aus einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie, aber sie hatte keinerlei Dünkel oder Allüren. Sie war herzlich und uneigennützig und das genaue Gegenteil von verzogen und eingebildet.
Ruth betätigte den Messingtürklopfer und schaute in den Himmel. Das Wetter war angenehm mild, sie könnten im Bürgerpark spazieren gehen.
Die Haushälterin öffnete die Tür. »Fräulein Ruth, wie schön, Sie zu sehen. Fräulein Rosemarie erwartet Sie.« Sie trat beiseite, und Ruth schlüpfte an ihr vorbei.
Rosemie erschien oben an der breiten, geschwungenen Treppe. »Ruthchen! Komm!« Sie hatte einen rosafarbenen Frotteeturban auf dem Kopf.
Ruth lief zu ihr, und sie begrüßten sich mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange.
»Gut siehst du wieder aus.« Rosemie hielt sie etwas von sich. »Die Fahrstunde hat Spaß gemacht, nehme ich an.«
»Und ob. Und du siehst aus, als wartest du sehnsüchtig darauf, dass ich dir die Haare mache.«
Rosemie lachte. »Wie gut du mich kennst. Komm, wir gehen in mein Zimmer.«
Das hatte einen entzückenden Balkon mit einem ebenfalls schmiedeeisernen verzierten Geländer und einem beneidenswerten Ausblick auf den Bürgerpark. Bei schönem Wetter hielten sich die beiden meistens dort auf. Rosemie hatte ein Händchen für Blumen, und im Sommer, wenn alles blühte, wimmelte es von Bienen und Hummeln.
Ruth stellte sich ans Fenster und seufzte sehnsüchtig. »Du bist wirklich zu beneiden, Rosi. Wenn doch bloß schon Sommer wäre.«
»Hoffentlich blüht mein Husarenknöpfchen auch dieses Jahr wieder so schön. Erinnerst du dich?«
Ruth nickte, auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie das Husarenknöpfchen ausgesehen hatte. Sie konnte gerade eine Nelke von einer Rose unterscheiden, aber sie liebte Blumen und deren Düfte.
Rosemie nahm das Handtuch vom Kopf und fuhr sich durchs feuchte Haar. »Drehst du mir die Haare auf, Ruthchen?«
»Wie viele Fahrstunden brauchst du noch, was meinst du?«, fragte Rosemie wenig später, als sie auf dem Hocker vor Ruth saß und ihr einen Wickler reichte.
»Herr Kornau ist schon ganz zufrieden, aber ein paar werden es wohl noch sein müssen. Es macht so viel Spaß, durch die Stadt zu brausen, Rosi, vor allem bei diesem herrlichen Wetter. Und ich glaube, ich stelle mich gar nicht so blöd an. Wenn nur die vielen Verkehrsschilder nicht wären!«
Rosemie lachte. »Mein Vater schimpft auch immer, dass es viel zu viele davon gibt.«
Eine Zeit lang schwiegen sie, nur das Rascheln der Wickler und Klemmen war zu hören. Sie plauderten nie unablässig, wenn sie zusammen waren. Ruth musste im Salon viel reden, und ihrer Freundin ging es als Schulsekretärin nicht anders.
Sie genossen es, wenn sie einfach mal nur schweigen durften.
Nach einer ganzen Weile, Ruth kam es wie eine Stunde vor, streckte Rosemie sich und gähnte herzhaft. »Wollen wir durch den Bürgerpark bummeln?«
Die beiden Freundinnen schlenderten durch den Park, vorbei am Emmasee, und setzten sich auf eine der Bänke. Um lange sitzen zu bleiben, war es noch zu kühl, aber es war herrlich, den lauen Wind im Gesicht zu spüren und das feuchte Gras zu riechen. Das angenehme und trockene Wetter hatte halb Bremen nach draußen gelockt.
Ruth hob das Gesicht und schaute blinzelnd in den Himmel. »Wie geht’s Manfred?«
»Gut.«
»Du bist doch sonst nicht so einsilbig.« Ruth knuffte sie in die Seite.
Sie war seit einem halben Jahr mit Manfred liiert, und ihre Eltern hofften auf eine baldige Verlobung. »Darauf können sie lange warten. Ich denke ja gar nicht daran, mich jetzt schon zu verloben«, hatte sie Ruth anvertraut. »Wir müssen doch erst mal wissen, ob wir wirklich zusammenpassen.«
»Ach, ich weiß auch nicht …«, sagte sie nun mit einem Seufzen. »Er ist so … langweilig.«
Ruth unterdrückte ein Lachen. Langweilig traf es recht gut.
»Es ist ja nicht so, dass ich ihn nicht mag. Aber was ist mit Liebe? Verliebtheit? Mögen reicht doch nicht, oder?«
»Mir musst du das nicht sagen.«
»Meine Eltern machen ganz schön Dampf, das sag ich dir. ›Du bist jetzt fast siebenundzwanzig, Rosemie, und die Männer, die noch nicht verheiratet sind, liegen nicht auf der Straße. Willst du etwa als alte Jungfer enden?‹ Als müsse man als Jungfer enden, bloß weil man nicht heiraten will. Ich denke manchmal darüber nach, ob ich die Verlobung wieder lösen soll.« Sie verzog das Gesicht. »Aber wenn ich das tue, wird mein Vater mich enterben.«
»Das glaubst du doch selbst nicht, Rosi.«
»Nein, so schlimm wird es wohl nicht werden, aber meine Eltern verstehen das nicht. Sie glauben, es genügt, wenn man sich sympathisch ist und mag. Ich will meinen zukünftigen Ehemann aber nicht nur ein bisschen mögen.« Rosemie verschränkte die Arme im Nacken. »Ich will fürchterlich verliebt sein. Ich will verrückt vor Sehnsucht sein, wenn ich nicht bei ihm sein kann. Und ich will jede Minute an ihn denken.«
Ruth lächelte, sagte jedoch nichts. Ihr ging es genauso, nur hatte sie mit dem Thema Liebe möglicherweise bereits abgeschlossen. So recht wusste sie es selbst nicht. Die meisten Frauen in ihrem Alter waren längst verheiratet und hatten Kinder. Sie hatte schlicht und ergreifend den Anschluss verpasst – und es war ihr nicht mal aufgefallen.
Zwei Frauen mit Kinderwagen spazierten an ihnen vorbei, und beide blickten ihnen nach.
Rosemie schlug die Beine übereinander. »Weißt du, was ich mir manchmal vorstelle? Wie es sein würde, wenn wir verheiratet sind. Manfred und ich, meine ich. Ich stelle mir dann vor, wie wir morgens zusammen am Frühstückstisch sitzen und uns anschweigen. Vielleicht sind wir froh, wenn das Radio läuft, damit die Stille nicht so schrecklich ist.« Sie seufzte wieder. Dann setzte sie sich auf. »Mensch, Ruthchen, apropos Radio. Das hätte ich ja beinahe vergessen! Ich hab ein Radio für dich. Du wolltest doch eins für den Salon.«
»Ich möchte schon, aber das erlaubt Gisela nie.«
»Brauchst du etwa ihre Erlaubnis?« Rosemie stupste sie an und hob die Augenbrauen.
»Du hast ja recht.«
»Manfred wollte seinen Eltern eins schenken, aber sein Vater hatte schon eins gekauft. Willst du es haben?«
Ruth überlegte, aber nur kurz. »Na, und ob!«
»Weißt du was? Wenn wir zwei keinen Mann mehr abkriegen, gründen wir einen Club. Den Club der Übriggebliebenen.«