Gisela hatte wie erwartet reagiert, als Ruth mit dem Radio angekommen war. »Du willst nicht wirklich den ganzen Tag dieses Gedudel haben.«
»Das Gedudel, wie du es nennst, ist Musik, Gisela.«
»Und wenn die Kunden sich beschweren?«
»Werde ich’s wieder wegbringen, versprochen.«
So waren sie verblieben.
Doch niemand beschwerte sich, im Gegenteil. Das Radio lief den ganzen Tag, und bei einem Schlager, den Ruth besonders gern mochte, lief sie hin und stellte lauter. Sie war schlagerverrückt, wie Marianne es nannte.
Kurt hatte sich den Nachmittag freigenommen. Er wollte mit Heidelinde einen neuen Wohnzimmerschrank kaufen. Wenige Tage zuvor hatten sie wieder gestritten, und Kurt hatte fürchterlich über Heidelinde geschimpft. Inzwischen bezweifelte Ruth, dass es eine Hochzeit geben würde. Die beiden waren wohl doch zu verschieden. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass Kurt Einzelgänger und eingefleischter Junggeselle war. So hatte er sich selbst bezeichnet, ehe Heidelinde in sein Leben getreten war.
An diesem Nachmittag blätterte Ruth in einer neuen Illustrierten. Sie hatte erst in einer Stunde wieder eine Kundin.
Marianne ging zum Radio, als Nancy Sinatra lief, und tanzte durch den Raum. Es waren niemand außer ihr und Ruth da. »Ist das nicht ein schönes Lied? Gehst du eigentlich zum Beatles-Konzert?«
»Nein, außerdem ist es bestimmt längst ausverkauft.«
Sie und Rosemie hatten kurz überlegt, hinzugehen, sich dann aber umentschieden, nachdem sie gehört hatten, dass auf einem Beatles-Konzert so laut gekreischt wurde, dass von der Musik kaum etwas zu verstehen war.
Marianne stieß mit der Hüfte an ihre. »Komm, tanz mit, Ruthchen.«
»Lieber nicht. Wenn Gisela uns sieht, muss ich mir wieder den Rest des Tages ihr Gemecker anhören. Sie hasst das Radio sowieso schon.«
Seit Rosemie mit Manfred ging, waren ihre gemeinsamen Samstage im Tanzclub leider immer seltener geworden. Ob sie das, was sie vor Jahren in der Tanzschule gelernt hatte, überhaupt noch konnte? Den Cha-Cha-Cha zum Beispiel, den sie so liebte?
Die Türglocke erklang.
»Kundschaft!« Sie stellte das Radio leiser.
»Ich geh’ schon.« Marianne lief nach vorn, und Ruth hörte sie mit einer Frau sprechen, deren Stimme ihr entfernt bekannt vorkam.
Als sie mit Frau Schneider um die Ecke kam, die schon eine ganze Weile nicht mehr bei ihnen gewesen war, lächelte Ruth erfreut. »Frau Schneider! Wie schön, Sie hier zu sehen.«
»Ich dachte, ich komme mal wieder vorbei, Fräulein Fellbach.«
Ob sie in der Zwischenzeit zu Dollmann gegangen war? Nun, Ruth konnte sie schlecht fragen.
Marianne bat sie, am ersten Waschbecken Platz zu nehmen, und Ruth ging mit der Illustrierten nach vorn zum Tresen und blätterte dort weiter darin.
Kurt kam herein, und sie hob verwundert den Kopf. »Ich dachte, du hast frei.«
»Ich habe mein Portemonnaie in meiner Jacke vergessen. Und die hängt hier.« Er zeigte zur Garderobe.
»Frau Schneider ist gerade gekommen«, flüsterte sie, während er seine Jackentaschen durchsuchte und »Ah ja« murmelte, als er die Geldbörse in der Innentasche fand.
»Frau Schneider?« Er drehte sich zu ihr um. »Die war ja ewig nicht mehr hier. Ich dachte, sie geht jetzt zu Dollmann.« Er räusperte sich. »Ähm, ich weiß nicht, ob du’s schon gehört hast, aber da macht jetzt ein Salon am Wall auf.«
»Was?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es von Herrn Sievers, und der weiß es von …« Er winkte ab. »Ist ja auch egal.«
»Und wo genau am Wall?«
»Gleich neben dem Modegeschäft.«
»Weißt du, wann sie eröffnen?«
»Du stellst Fragen, Ruth.«
»Findest du das nicht wichtig, Kurt? Immerhin bedeutet ein neuer Salon weitere Konkurrenz.«
Er seufzte anstelle einer Antwort, nickte ihr zu und verließ den Salon.
Wenn man sich doch nur ein einziges Mal vernünftig mit ihm austauschen könnte, dachte Ruth verstimmt. Aber er tat immer so, als ginge ihn das alles nichts an. Dabei war es doch auch sein Salon.
Vielleicht sollte sie sich eine neue Stelle suchen. Ab und an hatte sie bereits darüber nachgedacht, es aber jedes Mal wieder verworfen. Sogar geschämt hatte sie sich allein für die Überlegung. Sie konnte ihre Geschwister doch nicht im Stich lassen.
Auf der anderen Seite aber wäre es vielleicht sogar gut, wenn sie ginge. Weil sie und Gisela dann nicht mehr Tag für Tag zusammen wären. Möglicherweise würde das ihrer Beziehung guttun, und sie hätten die Chance, sich wieder einander anzunähern.
Außerdem wusste Gisela seit einiger Zeit kaum, wie sie alle bezahlen sollte. Sie selbst lebte von ihrer Witwenrente.
Ruth blätterte weiter in der Illustrierten, während ihre Gedanken nun bei dem neuen Salon waren, von dem Kurt erzählt hatte.
Am Wall war eine schöne Gegend mit lauter hübschen Geschäften. Es war klug und sehr geschickt, dort einen Frisiersalon zu eröffnen.
Dann erregte ein Artikel ihre Aufmerksamkeit. Es ging um einen britischen Friseur, der einen neuen, den geometrischen Haarschnitt erfunden hatte. Unkompliziert und praktisch sollte der sein. Schluss mit Nächten auf Lockenwicklern.
Der Friseur hatte den klassischen Bob, der völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten war, zu neuem Leben erweckt. Ruth erinnerte sich kaum, wann sie zuletzt einen geschnitten hatte.
Sie drehte sich zu dem Spiegel um, der hinter ihr hing, und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr Haar war kinnlang nachgewachsen, sie hatte lediglich den Pony nachschneiden lassen.
Ein Bob. Das wäre doch was für mich.
Er musste nur regelmäßig nachgeschnitten werden, mehr Pflege benötigte er nicht. Sogar Frauen mit lockigem Haar konnten ihn tragen.
Ruth nahm die Illustrierte und steckte sie in ihre Handtasche, um zu Hause in Ruhe weiterzulesen.
Sie hier im Salon auszulegen war überflüssig. Wer sollte sie lesen?
»Ein Bob?« Marianne sah Ruth überrascht an, nachdem sie ihr von dem Friseur und ihrer Idee erzählt hatte.
»Kein ständiges Aufdrehen, kein Toupieren mehr, klare Formen, gerade Schnitte. Ich träume schon lange von unkomplizierteren Frisuren, bei denen man ruhig den Kopf bewegen darf, du etwa nicht?«
Als Marianne nickte, redete sie weiter. »Ich wette, wenn ich einen Bob habe, wollen die Kundinnen auch einen.«
Eine Stunde später betrachtete Ruth sich zufrieden im Spiegel.
»Genauso hab ich mir das vorgestellt. Ich werde den Pony nachwachsen lassen, dann ist es perfekt.«
Marianne nickte. »Er steht dir wirklich gut.«
»Ich glaube, jeder Frau steht ein Bob. Keine Lockenwickler, kein Glätteisen, man braucht nicht mal Haarspray. Herrlich! Ach, ich hab dir noch gar nicht von dem Salon erzählt, der am Wall eröffnet wird.«
Marianne verzog das Gesicht. »Ach herrje, noch mehr Konkurrenz.«
Elfriede Zimmermann war die erste Kundin, die ebenfalls einen Bob wollte. Die anderen Kundinnen waren verhaltener, was vermutlich daran lag, dass sie sich zu alt, zu gediegen dafür fühlten.
Dabei wurde Ruth nicht müde, zu betonen, dass auch ältere Damen einen Bob tragen konnten.
Bis Gisela sich einschaltete. Es war Abend, kurz nach Salonschließung, und Ruth und Marianne waren damit beschäftigt, die Waschbecken zu putzen. »Ruth? Auf ein Wort?« Sie nahm Ruth beiseite. »Ich habe mir das jetzt lange genug angehört.«
»Wovon sprichst du?«
»Von deinem Bob-Gequassel.«
Ruth verstand immer noch nicht recht. Sie sah, wie Kurt zu ihnen herüberblickte und eine Grimasse zog. Dann drehte er ihnen den Rücken zu und säuberte Pinsel und Kämme.
Gisela verschränkte die Arme. »Du gehst unseren Kundinnen auf die Nerven.«
»Hat sich jemand beschwert?«
»Das nicht, aber ich habe Augen im Kopf.«
»Ich versuche nur, unserem Salon ein bisschen auf die Beine zu helfen. Das kannst du mir nun wirklich nicht vorhalten.«
»Wieso klingt das für mich schon wieder so, als würde ich dir dauernd irgendwas vorwerfen?«
»Warum sagst du mir nicht einfach, was dir an mir nicht passt, Gisela?« Sie sagte es sanft und ohne jeglichen Vorwurf.
Bevor Gisela etwas erwidern konnte, schob Kurt sich an ihnen vorbei und murmelte: »Schönen Feierabend.«
»Was soll die Frage, Ruth?« Gisela sah sie verständnislos an.
Als wäre das, was sie gesagt hatte, völlig hanebüchen.
Sie überlegte noch, wie sie es formulieren sollte, als Marianne sich zu ihnen gesellte. »Ruth will wirklich nur helfen, Mama.«
Gisela seufzte. »Marianne. Es war zu erwarten, dass du dich auf ihre Seite schlägst.«
»Hast du dir mal überlegt, dass Ruth sich auch eine neue Stelle suchen könnte? Aber das tut sie nicht, stattdessen versucht sie, hier alles …« Sie schien nach passenden Worten zu suchen.
»Tue ich das nicht?«, fragte Gisela mit auffällig hoher Stimme. So klang es, wenn sie ungehalten war und jeden Augenblick laut und wütend werden würde.
»Das hab ich nicht gesagt, Mama. Ich meinte nur, dass wir froh und auch dankbar sein sollten, dass Ruth sich so viel Mühe gibt.«
Es war ungewöhnlich, dass sie sich überhaupt einmischte, und noch ungewöhnlicher war, dass sie es so auf den Punkt brachte. Ruth jedoch wäre es lieber gewesen, wenn sie den Mund gehalten hätte. Nun stand sie genau zwischen den beiden, was Ruth immer unbedingt hatte vermeiden wollen.
Gisela schien ebenfalls überrascht zu sein. »Auch ich tue mein Bestes.«
»Das weiß ich«, sagte Ruth. »Das wissen wir alle. Aber ich finde, du könntest ein bisschen offener für Veränderungen sein. Wir müssen mit der Zeit gehen.«
»Wir sind ein Traditionssalon«, erwiderte Gisela, und Ruth seufzte innerlich, weil sie genau damit gerechnet hatte.
»Unser Vater hat ihn mir überschrieben, weil er wusste, dass ich ihn in seinem Sinne weiterführen werde.«
»Aber die Zeiten ändern sich. Uns sind nur die Stammkunden geblieben«, sagte Ruth mit einem Anflug von Verzweiflung.
»Kann es sein, dass du neidisch bist, weil du den Salon nicht führen darfst?«
»Was?« Ruth schluckte. Sie war noch keine Sekunde auf diesen Gedanken gekommen, im Gegenteil, sie war froh gewesen, die Verantwortung und Belastung nicht tragen zu müssen.
»Mama, also wirklich!« Marianne schnaubte.
»Es steht dir frei, dir eine neue Stelle zu suchen, Ruth.«
Sie starrte ihre Schwester fassungslos an. Ehe sie die Beherrschung verlieren würde – und sie konnte nicht ausschließen, dass es passieren würde –, ließ sie Gisela stehen und ging zum Eingangstresen. Ihre Hand zitterte, als sie ihre Handtasche nahm. Sie war aufgebracht, wütend – und maßlos enttäuscht.
Gisela war ihr gefolgt. »Ich werde dir keine Steine in den Weg legen.«
Ohne ein weiteres Wort ging Ruth zur Tür, den Kiefer aufeinandergepresst, die Handtasche umklammert. Heftiger als nötig ließ sie die Tür hinter sich zufallen.