Ruth war am Samstagmorgen die Stellenanzeigen durchgegangen, aber kein Salon war auf der Suche nach einer Friseuse. Dabei war sie fest entschlossen, so entschlossen wie nie zuvor. Gisela hatte sehr deutlich gemacht, dass sie wunderbar ohne sie auskäme.
»Lass uns heute Abend ins Kino gehen«, schlug Marianne vor, als sie nach Salonschluss den Fußboden fegten. »Es läuft Doktor Schiwago .«
»Den hab ich bestimmt schon …« Ruth winkte ab. » … ein halbes Dutzend Mal gesehen. Ich glaube, ich kann die Dialoge inzwischen mitsprechen. Du doch auch.«
»Ich hätte trotzdem Lust. Komm schon. Oder hast du was anderes vor?«
»Was sollte ich denn vorhaben?« Ruth seufzte. Außer in meiner winzigen Wohnung zu sitzen und von einer größeren zu träumen. Aber wovon sollte sie die bezahlen? Sie hatte lausig verdient in den letzten Jahren, und jeder Groschen, den sie irgendwie irgendwo abzwacken konnte, hatte sie für den Führerschein auf die Seite gelegt. Vielleicht war es vollkommen verrückt, dass sie unbedingt selbst Auto fahren wollte. Aber sie hatte es sich schon vor der Volljährigkeit in den Kopf gesetzt.
»Und vorher machen wir einen Bummel zum Wall und sehen uns den neuen Salon an«, sagte Marianne.
Am Nachmittag spazierten die beiden durch die Wallanlagen. Marianne hatte sich bei Ruth eingehakt. Sie trug ein niedliches Schulmädchenkleid mit großem, weißem Kragen und Manschetten, dazu hohe Stiefel, das lange blonde Haar fiel offen und glatt über ihre Schultern.
Ruth hatte sie bewundernd angeschaut, als sie sie abgeholt hatte. Wie hübsch sie aussah!
Sie blieben stehen, als eine Entenfamilie über den Weg watschelte. Eine nach der anderen sprang mit einem »Platsch« ins Wasser, und Ruth lachte. »Elf Küken. Stell dir vor, du hättest elf Kinder.«
»Um Himmels willen. Ich kann mir schon eins nicht vorstellen.«
Ruth wäre gern Mutter, sie hatte sich immer Kinder gewünscht. Ihr fehlte nur der richtige Mann dazu.
Nur . Sie seufzte verhalten. Als wäre es ein Klacks, den Mann fürs Leben zu finden.
Marianne zog sie weiter. »Wie gut erinnerst du dich eigentlich noch an deine Mutter?«
»Nicht sehr gut.« Die Erinnerung verblasste mehr und mehr. Manchmal schreckte sie nachts aus einem Traum hoch, in dem ihre Mutter vorgekommen war. Je mehr sie versuchte, sich ihr Gesicht, ihren Geruch, ihre Stimme vorzustellen, desto verschwommener, vager wurde der Traum.
Ruth besaß ein paar wenige Fotos, und wann immer sie sie anschaute, überkam sie das Angst einflößende, beklemmende Gefühl, sich schon bald gar nicht mehr erinnern zu können.
Bei ihrem Vater war es anders, er war viele Jahre nach ihrer Mutter gestorben und hatte noch eine Stimme und eine Präsenz. Nur wie lange noch?
Früher hatte Gisela ihr viel von den Eltern erzählt, kleine Anekdoten und Familiengeschichten. Sie wusste noch viel, Ruth beneidete sie um ihre Erinnerungen.
»Tut mir leid«, sagte Marianne leise. »Ich wollte dich nicht traurig machen.«
»Ist schon gut.« Ruth tätschelte ihren Arm. »Komm, wir wollen mal sehen, was den neuen Salon so besonders macht.«
Kurz darauf standen sie vor einem der zwei Schaufenster. Beide waren nicht verhängt, und so konnte Ruth die schicken Waschbecken und die modernen Spiegel bewundern, den großen Raum, der offenbar nur für weibliche Kundschaft bestimmt war. Die männliche hatte einen Raum für sich, auf der anderen Seite des Eingangs.
»Sieh dir das an«, raunte sie. »Ist das nicht eine Wucht?«
Marianne ging weiter zum zweiten Schaufenster, und sie folgte ihr. Ein Mann stand mit dem Rücken zu ihnen. Er unterhielt sich mit einer Frau, gestikulierte, und die Frau lächelte.
»Ob das die Inhaber sind?«, flüsterte Marianne.
»Ich weiß nicht. Möglich.« Ruth warf einen Blick auf das dunkelgrüne Schild über der Eingangstür: Salon Kronewinkel .
Neben der Tür war ein kleines Schild angebracht, darauf der Name des Inhabers Rainer Kronewinkel und die Öffnungszeiten.
»Schick, oder?« Marianne hakte sie unter.
Ruth nickte. »Das kannst du laut sagen.«
»Sprich’s aus, Ruthchen.«
»Was meinst du?«
»Hier müsste man arbeiten. Das hast du doch gerade gedacht, oder?« Marianne schien keine Antwort zu benötigen.
Während sie in Richtung Viertel schlenderten, dachte Ruth darüber nach, wann und vor allem warum Gisela und sie sich entfremdet hatten. Wann hatte sie etwas Falsches gesagt, wann sich falsch verhalten? Wie oft schon hatte es ein Missverständnis zwischen ihnen gegeben, das sie nicht aus dem Weg geräumt hatten?
Sie empfand Mitleid, Mitgefühl für ihre Schwester. Es war nicht leicht, so jung Witwe zu werden. Wenn Gisela doch nur darüber sprechen, wenn sie sich trösten lassen würde!
Stattdessen war sie in sich gekehrt und ungerecht geworden.
Besonders Ruth behandelte sie unfair, und das ganz offenbar mit voller Absicht. Als wollte sie sie etwas büßen lassen. Aber warum? Und wofür?
»Wollen wir nach dem Kino noch irgendwo was trinken gehen?«, riss Marianne sie aus ihren Gedanken.
»Hast du nichts Aufregenderes vor, als mit deiner Tante auszugehen?«
»Nein.«
»Dann sage ich Ja.«
Als sie aus dem Kino kamen und auf der Straße standen, hoben beide den Kopf und betrachteten den Himmel, der mit unzähligen Sternen wie mit kleinen Lichtern betupft war. Es war überwältigend.
»Schön, oder?«, flüsterte Marianne.
»Himmlisch!«
»Du findest immer die richtigen Worte.« Marianne zeigte nach rechts. »Wollen wir in die Lila Eule? Jack ist heute Abend an der Bar. Er macht die besten Cocktails der ganzen Stadt.«
»Stellst du dir auch manchmal vor, wie es wäre, wenn du ein völlig anderes Leben führen würdest?« Marianne zog die grüne Olive vom Stäbchen und kaute darauf herum.
»Natürlich, das macht doch jeder hin und wieder.« Ruth hatte ein Glas Weißwein bestellt, nachdem sie einen Dirty Martini getrunken hatte und sich davon ein wenig beschwipst fühlte. »Wie sähe dein Leben denn aus?«, fragte sie.
Marianne zog den Glasrand mit dem Zeigefinger nach. »Ich weiß nicht, anders.«
»Anders?« Sie lachte. »Eine sehr klare Vorstellung scheinst du nicht zu haben. Wie soll man sein Leben ändern, wenn man gar nicht weiß, wie es aussehen soll?«
Sie nahm eine kleine Handvoll gesalzene Nüsse aus dem Schälchen vor ihnen.
Marianne ließ wieder den Finger über den Glasrand kreisen. »Mir fehlt Papa. Oft denke ich, er sitzt auf der Couch, wenn ich heimkomme. Oder morgens am Frühstückstisch. Er sitzt da, die Zeitung neben ihm und die Tasse Kaffee, die schon wieder kalt geworden ist, weil ein Artikel ihn so gefesselt hat.« Sie verzog das Gesicht zu einem traurigen Lächeln. »Ich kann mir in diesen Momenten gar nicht vorstellen, dass er nicht mehr da ist, dass er nie mehr da sein wird. Es fühlt sich … grässlich an.«
Ruth strich über ihren Arm. »Ich weiß. Gisela kommt auch nicht darüber hinweg, aber immer, wenn ich sie trösten will, schiebt sie mich weg.«
»Sie schiebt jeden weg. Sie kann nicht anders, Ruth. Ich wünschte, sie würde wenigstens mit mir darüber sprechen, aber selbst das tut sie nicht. Sie igelt sich ein und schließt alle anderen aus. Auch mich. Dabei fehlt er mir doch auch.«
Es war voll im Club, aber die Musik war noch nicht ganz so laut, wie sie später noch werden würde. Dann würden die Bässe so dröhnen, dass einem das Zwerchfell wehtat.
Einige tanzten auf der viel zu kleinen Tanzfläche in der Mitte, andere saßen an Tischen oder an der langen Theke, hinter der drei junge Männer damit beschäftigt waren, Cocktails zu mixen und Wein, Bier und Schnaps auszuschenken.
Ruth überlegte, ob sie Marianne erzählen sollte, dass sie ernsthaft darüber nachdachte, sich eine neue Stelle zu suchen. War das das richtige Thema für einen ungezwungenen Abend?
»Ich kann mir übrigens vorstellen, mir was Neues zu suchen«, setzte sie an und wartete Mariannes Reaktion ab. Doch die sagte nichts, machte nicht mal einen überraschten Eindruck, und so redete sie weiter: »Ich glaube, es wäre gut, wenn Gisela und ich nicht mehr tagtäglich zusammenglucken. Ich glaube, wenn wir ein bisschen Abstand hätten … Vielleicht kommen wir uns dann wieder etwas näher.«
»Ich wundere mich, dass du nicht schon längst gekündigt hast.«
»Ich dachte, ich kann sie nicht im Stich lassen, aber sie hat sehr deutlich gemacht, dass sie nicht auf mich angewiesen ist.«
»Das bereut sie bestimmt schon wieder.«
Ein junges Paar stürmte an ihnen vorbei zur Tanzfläche. Die Frau riss Ruth dabei fast vom Stuhl und entschuldigte sich nicht mal. Ruths Handtasche war zu Boden gefallen, und sie kniete sich hin, um alles wieder einzusammeln. Dabei entdeckte sie den Lippenstift, den sie schon gesucht hatte.
»Weißt du, was mir manchmal durch den Kopf geht?«, sagte Marianne, als sie wieder hochkam. »Dass es vielleicht nur mal eine Gelegenheit, einen Moment geben muss …« Sie verstummte, und Ruth schaute sie fragend an.
»Und?«
»Und dann bin auch ich weg.«
Ruth musste lachen. »Moment, noch bin ich nicht weg.«
»Ich sehne mich nach einem neuen Leben, einem anderen.«
»Das verstehe ich gut, aber könntest du das? All das hier hinter dir lassen?«
Marianne sah sie nachdenklich an, dann sprang sie plötzlich auf und zog Ruth mit sich. »Komm, lass uns tanzen!«
Sie tanzten ausgelassen mehrere Stücke hindurch. Als ein langsames Lied kam, kehrten sie zum Tisch zurück.
»Hast du den Mann mit den längeren dunklen Haaren gesehen?«, fragte Marianne und stieß sie an. »Er sieht gut aus.«
»Welcher Mann? Hier gibt’s viele Männer mit dunklen Haaren.«
»Na, der, der dich die ganze Zeit anstarrt.«
Ruth wollte sich umdrehen, aber Marianne hielt sie zurück. »Nicht hingucken! Er starrt immer noch.« Sie legte den Kopf schief. »Aber er sieht wirklich gut aus.«
In diesem Moment kam ein Mann mit Schnauzbart und dunklem Haar an ihren Tisch und sah Ruth an. »Haben Sie Lust zu tanzen?«
Sie blinzelte, wollte eine Ausrede erfinden, doch er sah so freundlich aus, dass sie nickte und aufstand.
Auf der Tanzfläche versuchte er, ihren Namen herauszufinden, was schwierig war, weil sie ganz in der Nähe der großen Boxen tanzten.
»’tschuldigung, wie heißen Sie, sagten Sie?«, brüllte er.
»Ruth.«
Er tippte sich an die Brust. »Helmut!«
Plötzlich ging die Musik aus, und beide schauten sich verdutzt an. Ob es einen Kurzschluss gegeben hatte?
Oder eine Polizeirazzia? Marianne hatte einmal eine miterlebt. Ruths Tanzpartner zuckte die Schultern und begleitete sie zurück zum Tisch. »Danke für den Tanz, Ruth.« Er lächelte sie an und ging wieder.
»Enttäuscht?«, fragte Marianne, die noch etwas zu trinken für sie beide bestellt hatte.
»Wieso sollte ich enttäuscht sein?«
»Weil er wieder gegangen ist.«
»Nein.«
»Habt ihr euch nett unterhalten?«
»Na, und ob. Es ist schön, sich auf der Tanzfläche anbrüllen zu müssen. Den Schnauzbart hast du übrigens unterschlagen.«
»Wieso? Ach, ich verstehe. Das war nicht der Mann, der dich angestarrt hatte. Sieht so aus, als hättest du mindestens zwei Verehrer hier.« Marianne spähte an ihr vorbei. »Aber ich kann ihn nicht mehr sehen.«
»Dann wohl doch nur ein Verehrer. Na, besser als nichts.«
»Du magst doch eh blonde Männer viel lieber, oder?«
Ruth lächelte anstatt einer Antwort.
»Woran denkst du gerade?«
»Jedenfalls weder an blonde noch an dunkelhaarige Männer.«
Marianne wurde mit einem Mal ernst. »Ich verstehe gut, dass du dich nach einer neuen Stelle sehnst, Ruthchen. Aber ehrlich gesagt graust es mir allein bei dem Gedanken, dass ich allein mit Mama und Onkel Kurt zurückbleibe.«
Ruth hätte gern behauptet, darüber müsse sie sich keine Gedanken machen, doch das wäre gelogen. Die Wahrheit war: Sie würde künftig jede Woche die Stellenanzeigen studieren und hoffen, dass etwas dabei war. Und dann darauf vertrauen, dass sich zwischen Gisela und ihr alles wieder einrenkte.