Doch es verging Woche um Woche, ohne dass eine Friseuse gesucht wurde. Ruth würde die Hoffnung nicht aufgeben, das war nicht ihre Art, aber ihre Zuversicht schwand mit jeder weiteren Woche. Bis sie schließlich begann, sich damit zu arrangieren, vorerst im elterlichen Salon zu bleiben.
Wer weiß, wofür es gut war? Auch das war einer ihrer Leitsätze, der sie bisher durchs Leben getragen hatte.
Eines Nachts träumte sie, sie säße in einem roten Ford Taunus und brauste durch die Straßen, das Seitenfenster heruntergekurbelt, während im Radio Peggy March ›Mit siebzehn hat man noch Träume‹ sang.
Als sie an einer Ampel halten musste, war plötzlich das Bremspedal verschwunden. Weg, es war einfach weg! Wie konnte das sein? Ihr Fuß trat ins Leere, und sie umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad, während der Wagen auf die Bäckerei an der Ecke zusteuerte. Sie schrie auf, als eine Frau aus dem Geschäft kam und die Augen vor Schreck aufriss.
Sie versuchte gegenzusteuern, doch es funktionierte nicht. Auch das Lenkrad ließ sich plötzlich nicht mehr bewegen.
Als der Taunus näher und näher auf die Frau vor der Bäckerei zufuhr, erkannte Ruth sie. Es war ihre Schwester.
Mit einem spitzen Schrei fuhr sie aus dem Bett hoch. Nur ein Traum, Gott sei Dank! Um ein Haar hätte sie Gisela umgefahren.
Erleichtert sank sie zurück aufs Kissen, setzte sich aber gleich wieder auf, als ihr einfiel, dass heute ihre Fahrprüfung war.
Ruth schwang die Beine aus dem Bett, spritzte sich am Waschbecken eiskaltes Wasser ins Gesicht, um wach zu werden, und betrachtete sich im Spiegel. »Du schaffst das, Ruth Fellbach«, sagte sie laut. »Du wirst die Prüfung bestehen. Und mach dir keine Sorgen, der Wagen wird drei funktionierende Pedale haben.«
Fahrlehrer Kornau saß wie immer auf dem Beifahrersitz, der Prüfer, ein älterer Herr mit Ziegenbart und mürrischem Gesichtsausdruck, auf dem Rücksitz. »Guten Morgen, junges Fräulein«, begrüßte er sie und nickte ihr zu, bevor er den Blick auf das Klemmbrett auf seinem Schoß richtete.
Auch Kornau nickte ihr zu und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
Ruth atmete tief durch, stellte Sitz und Spiegel ein und fuhr los.
Die ersten Minuten lief alles wie am Schnürchen, und ihr Fahrlehrer sah sehr zufrieden aus.
»Und jetzt fahren wir auf den Osterdeich, Fräulein Fellbach«, wies er sie an.
Sie setzte den Blinker. Schulterblick nicht vergessen!
In Höhe des Weserstadions musste sie scharf bremsen, weil eine alte Dame die Straße überquerte, ohne nach rechts und links zu schauen. Fahrlehrer und Fahrprüfer wurden nach vorn gedrückt, das Klemmbrett fiel unter den Beifahrersitz.
»Gut gemacht«, raunte Kornau ihr zu, während der Fahrprüfer nach dem Klemmbrett fischte.
Ruth hatte nicht mal den Motor abgewürgt, sondern geistesgegenwärtig auf die Kupplung getreten. Aber sie war sehr erschrocken, ihr Herz klopfte bis zum Hals.
Nur noch ein paar Straßen, gleich hast du’s geschafft.
Sie sah, wie ein Radfahrer einen Mann mit einem Hund an der Leine überholen wollte, der auf der Weserseite spazieren ging. Sie war wachsam, Radfahrer machten häufig einen großen Bogen und fuhren dabei halb auf die Straße.
In diesem Augenblick riss der Hund sich los und sprang auf die Fahrbahn. Im selben Moment trat sie auf die Bremse, und ein weiteres Mal wurden Fahrlehrer und Fahrprüfer erst nach vorn und dann wieder zurückgeworfen. Das Klemmbrett landete erneut unter dem Sitz.
Der Wagen stand, Ruths Knie zitterten. »Hab ich ihn überfahren?«
»Nein, ich glaube nicht.« Kornau stieg aus und sprach mit dem Mann, der mit seinem Hund schimpfte. Offenbar war der quicklebendig.
»Donnerwetter«, sagte der Fahrprüfer hinter ihr. »Das hab ich nicht kommen sehen, Sie aber offenbar schon. Sehr schön, junges Fräulein.« Er hatte das Klemmbrett wieder auf dem Schoß und schrieb etwas.
Ruth bemerkte, wie der Mann zu ihr herübersah. Er machte einen zerknirschten Eindruck. Ob sie aussteigen und sich erkundigen sollte, ob dem Hund auch wirklich nichts passiert war? Oder wäre sie dann durchgefallen, weil sie den Wagen nicht verlassen durfte? Immerhin stand sie auf der Straße, auch wenn sie ein wenig nach rechts gefahren war. Sie war selbst ganz verblüfft, wie umsichtig und schnell sie reagiert hatte.
Der Hundebesitzer kam zu ihr und klopfte an die Scheibe.
Ruth kurbelte sie herunter. »Geht es Ihrem Hund gut?«
Er nickte. »Tut mir sehr leid, er hat sich einfach losgerissen. Ihnen ist doch hoffentlich nichts passiert?«
»Nein, nein, ich habe mich nur erschrocken.«
Er hob die Augenbrauen. »Sind Sie nicht Cornelia Froboess?«
Ruth schüttelte den Kopf. Es war nicht das erste Mal, dass sie für die Schauspielerin und Sängerin gehalten wurde. Sie selbst konnte keine große Ähnlichkeit entdecken.
»Dann bitte ich um Verzeihung. Aber Sie sehen ihr erstaunlich ähnlich.« Der Mann entschuldigte sich ein weiteres Mal, nahm seinen Hund auf den Arm und überquerte die Straße.
Kornau war wieder eingestiegen und sah Ruth fragend an. »Alles in Ordnung, Fräulein Fellbach?«
»Ja, alles gut.«
»Können Sie weiterfahren?«
Sie nickte, auch wenn sie nicht sicher war, ob sie es konnte.
»Sie dürfen sich entspannen, junges Fräulein«, sagte der Fahrprüfer und beugte sich zu ihr vor. »Sie haben bestanden.«
Als sie wenig später in den Salon kam, hörte sie Marianne rufen: »Ist Onkel Kurt schon da? Herr Klingeling wartet!«
Sie blieb stehen, eine Hand auf dem Mund, weil sie um ein Haar laut losgelacht hätte. Schnell zog sie ihren Mantel aus und schlüpfte in ihren Kittel.
Herr Meierdierks saß im Wartesessel, die Tageszeitung auf dem Schoß und grinste übers ganze Gesicht. »So nennt ihr mich hier also.«
Nach dem ersten Streik der Türklingel hatte er sich angewöhnt, beim Eintreten laut »Klingeling!« zu rufen, und Ruth hatte ihm den Spitznamen Herr Klingeling gegeben.
»Tut mir leid, Herr … ähm … Meierdierks«, stammelte Marianne mit hochrotem Gesicht. »Es ist mir so rausgerutscht.«
Der alte Herr hatte einen Riesenspaß, das war ihm anzusehen. Vergnügt rieb er sich die Hände und schlug die Seite mit dem Kreuzworträtsel auf. »Musst dich nicht entschuldigen, Mädchen. Alles gut.«
Marianne kam zu Ruth gelaufen. »Und?«
»Bestanden!«
»Gratuliere!«
Ruth begrüßte den alten Herrn. »Moin, Herrn Meierdierks. Brauchen Sie noch eine Kopfbedeckung mit drei Buchstaben?«
Er schaute auf und grinste. »Sie sind mir eine. Aber sagen Sie mir doch mal eine Kopfbedeckung mit fünf Buchstaben.«
»Kappe?«
»Kappe geht auch. Was ich aber meinte, ist Haare.«
»Na, darauf hätte ich auch kommen können.«
Aus dem Augenwinkel sah Ruth Gisela hereinkommen. Und sie sah alles andere als fröhlich aus. »Marianne?« Sie winkte ihre Tochter zu sich.
»Autsch«, raunte Ruth und hörte, wie Gisela auf Marianne einredete.
Die stand wie ein begossener Pudel da, ihr Gesicht glühte.
Herr Meierdierks hatte sich zu den beiden umgedreht. Die Situation schien ihm unangenehm zu sein. »Frau König!«, rief er Gisela zu. »Nicht schimpfen, dafür gibt’s keinen Grund!« Er sah ganz bestürzt aus.
Gisela verzog das Gesicht zu einem flüchtigen Lächeln und sprach weiter mit Marianne.
Herr Meierdierks widmete sich wieder seinem Kreuzworträtsel, und seine Frau, die soeben zur Tür hereinkam, rief ihm zu, er solle den anderen Kunden auch noch etwas übrig lassen. »In Wahrheit willst du doch nur zeigen, wie schlau du bist«, neckte sie ihn, und er hob den Kopf und zwinkerte ihr zu.
Kurt kam um die Ecke, murmelte eine Begrüßung und bat Herrn Meierdierks ans Waschbecken.
Gleich hinter ihm kam Frau Zimmermann. »Guten Morgen zusammen! Warum sehen Sie mich so überrascht an, Fräulein Ruth?«
»Haben Sie einen Termin?«
»Aber natürlich.«
»Verzeihung.« Ruth schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich war gerade … etwas abgelenkt.«
»Ist was passiert?«
»Nein, nein. Nehmen Sie doch schon mal Platz.«
Ihre Kundin setzte sich ans mittlere Waschbecken, stellte die Handtasche zu ihren Füßen ab und blickte sich im Salon um.
»Schlechte Stimmung?«, fragte sie dann leise.
»Nur ein kleines Missverständnis.« Ruth legte ihr den Umhang an. »Wie immer, Frau Zimmermann?«
Ihre Kundin nickte.
Ruth reichte ihr einen Waschlappen und wartete, bis die richtige Wassertemperatur erreicht war. Heute schien es besonders lange zu dauern. »Meine Güte, das dauert ja wieder.« Sie seufzte verhalten.
»Haben Sie schon gehört? Ihr schrecklicher Nachbar will die Stadt verklagen, weil der Müll nicht rechtzeitig abgeholt wurde.«
Ruth verdrehte die Augen. Hermann Plön, der drei Häuser weiter wohnte, war pensionierter Beamter und litt unter notorischer Langeweile. Um sich die Zeit zu vertreiben, verbrachte er den Großteil des Tages damit, im Fenster auf der Lauer zu liegen und Verstöße gegen weiß der Teufel was aufzuschreiben und anzuzeigen. Kurt hatte bereits zwei Anzeigen kassiert, weil er angeblich mit dem Auto die Mülltonne umgefahren und sich aus dem Staub gemacht hatte. Plön wollte ihn eindeutig erkannt haben. Andere wurden angezeigt, wenn sie ihr Fahrzeug falsch abstellten – falsch seiner Ansicht nach –, und Nachbarn bekamen Ärger, wenn ihre Kinder zu laut waren. Spielten die Kinder auf der Straße, kam er aus dem Haus gestürmt und verscheuchte sie. Hermann Plön war ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse.
»Er behauptet, er wäre über etwas gestolpert, das aus einer vollen Mülltonne gefallen war. Na, mir scheint, er ist wohl schon zu oft hingefallen und hat sich am Kopf verletzt.«
Ruth gluckste. »Sie sprechen das aus, was hier wohl viele denken.«
»Verklagt die Stadt, ist das zu fassen.«
»Damit wird er nicht durchkommen«, meinte Ruth. »Stellen Sie sich vor, jeder würde die Stadt verklagen, wenn ihm etwas nicht passt. Da hätten die Anwälte viel zu tun.«
»Da sagen Sie was. Ach, bevor ich’s vergesse: Wir haben bildschöne Miniröcke aus Wildleder hereinbekommen. Das wäre doch bestimmt was für Sie. Und wissen Sie, welche Farben man im Sommer tragen wird? Bonbonfarben.«