11.

Das feste Vorhaben, sich eine neue Stelle zu suchen, hatte Ruth vorerst auf Eis gelegt. Zwischen ihr und Gisela lief es wieder besser, was nicht bedeutete, dass es durchweg harmonisch zuging. Gelegentlich kam es zu Situationen, bei denen Ruth sich sehr zurückhalten musste. Wenn Gisela ihr wieder mal über den Mund gefahren war, zum Beispiel, oder wenn einer ihrer latenten Vorwürfe in der Luft hing und Ruth sich angesprochen fühlte. Aber sie hatte sich angewöhnt, stets einzulenken und für Frieden zu sorgen.

An diesem Vormittag stand sie am Tresen und hatte soeben erfreut festgestellt, dass sich Frau Bohnekamp angemeldet hatte. Wie schön, dann war ihr Besuch doch keine Eintagsfliege gewesen.

Ruth blickte auf, als Vertreter Peter Konrad schwungvoll hereinkam. Wie meistens sah er abgehetzt aus. Er stand eigentlich ständig unter Zeitdruck. »Guten Morgen, Fräulein Fellbach. Ist das nicht ein Wetter wie Speck?«

»Oh ja.« Sie war bereits von Sonnenstrahlen geweckt worden, die sie durch einen Gardinenspalt geblendet und in der Nase gekitzelt hatten. Wer wurde nicht gern so geweckt?

»Ist Ihre Schwester da? Ich möchte ihr eine neue Haarpflegeserie vorstellen.«

Schon wieder eine neue, dachte Ruth. Ihre fast durchgehend ältere Kundschaft würden sie damit vermutlich nicht beglücken können.

»Tut mir leid, sie hat einen Termin bei der Bank.« Es ging um einen kleinen Kredit, sehr hoffnungsvoll war Gisela aber nicht gewesen.

Konrad runzelte die Stirn. »Tja, dann muss ich wohl morgen oder übermorgen wiederkommen.«

»Oder Sie nehmen mit mir vorlieb.«

»Vorliebnehmen wäre die falsche Bezeichnung, Fräulein Fellbach.« Er schenkte ihr ein Lächeln, öffnete seinen Koffer und stellte drei Fläschchen und eine Tube vor sie hin.

»Speziell für angegriffenes Haar. Das Shampoo reinigt besonders mild, und das hier«, er zeigte auf eine braune Flasche, »benutzt man zwischen Shampoo und Festiger. Es handelt sich um eine Spülung.«

Ruth hob interessiert die Augenbrauen. Für die Kunden wäre das wohl nichts, aber für sie.

»Erst das Shampoo – und das ist neu: Sie müssen nur einmal shampoonieren –, dann die Spülung«, sprach Konrad weiter. »Sie wird leicht einmassiert und wieder ausgespült, und dann der Festiger.«

»Interessant.« Sie nahm jedes Fläschchen abwechselnd in die Hand. Dann deutete sie auf die Tube. »Und was ist das?«

»Eine Haarcreme.«

»Also für die Herren. Dann sollte ich vielleicht meinen Bruder dazuholen.«

»Nicht nur für die Herren, Fräulein Fellbach. Das ist der Clou an der neuen Serie. Die Haarcreme ist auch für die Damen. Sie ersetzt oder unterstützt den Festiger.«

»Oh, tatsächlich?«

Konrad hatte den Bestellschein bereits in der Hand. »Wie viel darf ich aufschreiben?«

»Ich weiß nicht … Ich würde gern meine Schwester …«

»Ich mache Ihnen ein unschlagbares Angebot, Fräulein Fellbach.«

»Na schön, dann nehme ich von jedem Fläschchen drei.«

»Und drei Haarcremes?«

Sie nickte. »Wir können ja mehr nachbestellen, wenn es nötig sein sollte.«

Konrad hob den Kopf und sah sie an. Dann seufzte er mitfühlend. »Die Konkurrenz ist groß, ich weiß.«

»Ja, jetzt, wo auch am Wall noch ein neuer Salon aufgemacht hat.«

Er notierte ihre Bestellung und gab ihr den Bestellschein zum Quittieren. Anschließend räumte er Fläschchen und Tube wieder ein und klappte seine Tasche zu. »Dann bis zum nächsten Mal. Und Grüße an Frau König.«

Als Ruth in den Frisierbereich kam, hörte sie Marianne und Erna Jansen miteinander sprechen. Ihre Nachbarin sah ganz erhitzt aus, dabei war sie noch gar nicht unter der Trockenhaube gewesen. Sie reichte Marianne einen Wickler. »Das stell sich mal einer vor: Da wohnen Männer und Frauen zusammen, ohne dass irgendwer mit irgendwem verheiratet ist. Wie es da zugeht, kann ich mir lebhaft vorstellen. Wie bei Hempels unterm Sofa, ich sag’s dir, Marianne. Freie Liebe nennen sie das. Pah! Jeder steigt zu jedem ins Bett, was hat das bitte schön mit Liebe zu tun?«

»Mit Liebe wohl nicht, nur mit Geschlechtsverkehr.«

Sie lief puterrot an. »Also, wie du das so sagst, Marianne …«

»Die Kommune Eins lebt das, was sich wahrscheinlich viele wünschen, aber nie trauen würden, Frau Jansen.«

»Willst du damit etwa sagen, dass es … schick ist, mit jedem … du weißt schon?«

Marianne nahm den nächsten Wickler entgegen. »Sie leben einfach das, was sie wollen, ohne sich um die Meinung der anderen zu scheren. Sie tun, was sie wollen. Verwerflich finde ich das nicht.«

Erna Jansen musterte sie im Spiegel. »Sag bloß, für dich wäre das auch was.«

Sie lachte. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Diese jungen Leute heutzutage … Wenn man uns damals gesagt hätte, zieht doch in eine Wohnung mit anderen und sucht euch aus, zu wem ihr ins Bett steigen wollt … Na, für mich wäre das nichts gewesen.«

»Sie sind eben monogam, Frau Jansen. Geben Sie mir noch einen Wickler, bitte?«

»Monowas?«

»Monogam. So nennt man Menschen, die nur mit einem Geschlechtspartner leben.«

»Geschlechtspartner«, wiederholte sie erschüttert. »Zeiten sind das.«

»Moderne, Frau Jansen.«


Am Abend wischte Ruth das letzte Waschbecken trocken und zog danach die neueste Illustrierte aus ihrer Handtasche. Sie zeigte auf das Titelbild. »Schon wieder Twiggy. Aber sie ist wirklich süß, oder?«

»Und superschlank.«

»Also ich finde sie zu dünn. Als würde sie jeden Moment in der Mitte durchbrechen.« Ruth zwickte Marianne in die Seite. »Und du bist doch nun wirklich auch sehr schlank.«

Sie steckten die Köpfe zusammen, und Ruth blätterte langsam weiter. Nach wie vor war der Minirock sehr angesagt, und die Oberteile waren ebenfalls figurbetont und trugen auffällige Ziernähte.

Ruth deutete auf ein Mannequin mit Krawatte. »Sieh dir das an. Die Männer verfluchen ihre Krawatten, und die Frauen tragen sie freiwillig.« Sie blätterte um. »Frau Zimmermann hat erzählt, dass sie schicke Miniröcke aus Wildleder bekommen haben. Ich glaube, ich gehe nächste Woche mal hin. Komm doch mit.«

»Mal sehen.«

Ruth kam auf das Gespräch zwischen Marianne und Erna Jansen zurück, das sie ungeniert belauscht hatte. »Du findest die freie Liebe also zeitgemäß.«

Marianne holte den Besen und stützte sich auf den Stiel. »Ja, wieso auch nicht? Ich war ehrlich gesagt etwas in Sorge, dass Frau Jansens Kopf platzt, so rot ist sie geworden.« Sie begann zu fegen. »Ich kann verstehen, dass es Menschen gibt, die so leben wollen.«

»Und du? Würdest du auch so leben wollen?«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Du?«

Ruth musste lachen. »Nein.«

»Ich glaube, ich bin eine ziemlich treue Seele.« Marianne holte Handfeger und Kehrblech.

»Ziemlich?«, hakte Ruth nach.

»Ach, du weißt doch, dass ich bisher überhaupt keine Erfahrungen mit so was habe.«

Auch Ruths Erfahrungen mit Männern waren bislang sehr überschaubar. Sie hatte natürlich dann und wann einen Freund gehabt, und einmal war sie fast verlobt gewesen, doch nachdem sie zwei-, dreimal bei Günther übernachtet hatte, hatte sie der Mut verlassen, eine Ehe mit ihm einzugehen. »Wenn ich noch daran denke, wie es damals mit Günther war …«

Marianne sah sie interessiert an. »Und wie war es?«

»Er war so einfallslos und langweilig.«

»Du meinst im Bett?«

Ruth errötete und ärgerte sich darüber. Sie konnte einfach nicht so locker wie Marianne über diese Dinge sprechen. »Ähm, ja.«

»Mehr willst du nicht verraten? Ach, komm schon, Ruth, ich will ein paar Einzelheiten.«

Ruths Gesicht glühte. »Er hat das Licht immer gleich ausgemacht.« Was ihr sehr angenehm gewesen war, aber das musste Marianne nicht wissen.

»Aber du wirst ihn doch nackt gesehen haben, oder?«

»Ja, schon. Als ich das erste Mal bei ihm übernachtet habe, hatte mein Unterrock ein Loch, außerdem passten Schlüpfer und BH nicht zusammen.«

Marianne lachte, was sie anstachelte, doch mehr preiszugeben. »Seine Küsse waren immer wie feuchte Umschläge.«

Marianne bog sich vor Lachen.

Gisela kam aus ihrem Büro. Wie erwartet, hatte die Bank den Kredit nicht gewährt. »Was ist denn so lustig?«

»Wir sprachen gerade über kaputte Unterröcke und falsche Schlüpfer«, sagte Ruth. »Und über feuchte Umschläge.«

»Feuchte Umschläge?«

»Na ja, beim Küssen.«

Gisela grinste. »Ach, du liebe Güte.« Sie sah Ruth an, als wäre ihr soeben etwas eingefallen. »War heute nicht deine Fahrprüfung?«

»Gestern.«

»Und?«

»Ich hab bestanden.«

Und dann lagen sie sich plötzlich zu dritt in den Armen, herzten und küssten sich auf die Wangen. Als wären sie ein eingeschworenes Dreigespann, ein unzertrennliches Kleeblatt.

Im Hintergrund lief leise das Radio.

Ruth lauschte. »Oh, hört nur! Sie spielen Conny Francis!« Sie lief hin und stellte lauter. »Dein Lieblingslied, Gisela!« Sie umfasste die Handgelenke der Schwester und tanzte mit ihr durch den Salon. Bis das Lied zu Ende war.

Dann begann Drafi Deutscher zu singen, und Gisela erstarrte.

»Weine nicht, wenn der Regen fällt – dam-dam – dam-dam … «

Ruth wollte rasch ausstellen, doch da war Gisela schon aus dem Salon gelaufen.

»Ach je«, sagte sie traurig. »So schnell kann es gehen. Eben noch tanzen wir, und dann …«

Marianne ging zum Radio und stellte es aus. » … hat uns das Leben wieder.«