12.

Gisela


Im stickigen Büro war es kaum auszuhalten. Sie hatte das Fenster geöffnet und war hinausgegangen. Sie rauchte zu viel, sie sollte es sich endlich abgewöhnen. Aber wie oft hatte sie es schon versucht? Zusammen mit Dietmar und auch allein, wenn er wieder schwach geworden war.

Gisela ging zum Tresen und schlug den Terminkalender auf. Was unnötig war, sie wusste auch so, dass es nur drei Anmeldungen für diesen Tag gab.

Sie blickte überrascht auf, als ihre Freundin Hannelore hereinkam. Die beiden hatten sich eine Weile nicht gesehen. Sie kannten sich seit der Schulzeit, waren beide in Bremen geblieben, hatten geheiratet und sich nie aus den Augen verloren.

Hannelore hatte ein gestreiftes Kopftuch umgebunden, das sie nun losmachte und abnahm, nachdem sie Gisela begrüßt hatte. »Ich traue mich kaum noch unter Leute. Hast du Zeit, mir die Haare zu machen?«

»Ich?« Gisela verzog das Gesicht. »Besser, das macht Marianne. Aber sie ist gerade beschäftigt. Und danach hat sie noch eine Kundin, die schon wartet.« Es hörte sich an, als wäre der Salon belebt, so wie früher, viel früher. Doch es war reiner Zufall, dass Marianne zwei Kundinnen hintereinander hatte.

Hannelore winkte ab. »Dann frage ich Ruth.« Sie sah Gisela prüfend an. So sah sie sie an, seit Dietmar nicht mehr da war. »Wie geht es dir, Gisela?«

»Gut. Danke. Und dir?«

»Schwindelst du auch nicht?«

»Nein, ich würde dich nie anschwindeln.«

»Würdest du doch. Damit ich mich besser fühle und mir keine Vorwürfe mache, dass ich mich nicht genug um dich kümmere.«

»Unsinn.«

»Du weißt, dass es so ist.« Hannelore schaute sich das Regal an und nahm eins der Fläschchen in die Hand. »Ist das für trockenes Haar?«

Gisela nickte, zuckte dann aber die Schultern. »Wenn es draufsteht …« Beide neigten dazu, sich gegenseitig vorzuspielen, dass ihre Welt in Ordnung war. Dabei war nicht nur Giselas Welt aus den Fugen geraten, auch Hannelore hatte es nicht leicht. Ihr Mann betrog sie mit seiner Sekretärin und gab sich nicht mal die Mühe, es zu leugnen.

»Da fällt mir ein, Ruth hat einen Zahnarzttermin, aber danach sollte sie Zeit haben. Nur waschen und legen? Oder möchtest du auch einen neuen Schnitt?«

»Und ob. Und bitte auch nachfärben. Wilfried soll doch eine ansprechende Gattin haben, nicht wahr?« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. »Damit seine Arbeitskollegen beim nächsten Geschäftsessen, das bei uns stattfindet, wieder sagen, wie gut er es doch hat.«

Gisela hatte Wilfried noch nie sonderlich gemocht. Er war ein Aufschneider und Schürzenjäger vor dem Herrn.

Sie folgte ihrer Freundin in den Frisierbereich.

Dort winkte Hannelore Marianne zu. »Du siehst fantastisch aus, Schätzchen.«

»Du auch, Tante Lore.« Marianne nannte sie von jeher so.

»Schmeichlerin.«

Gisela ahnte, was sie gerade dachte, wie gern sie noch mal jung wäre, jung wie Marianne und das ganze Leben noch vor sich. Sie würde alles anders machen, einen anderen Mann heiraten, Mutter werden. Wilfried wollte keine Kinder, und sie hatte sich einige Jahre belogen, dass es ihr nichts ausmache. Er verdiente sehr gut, und das war vermutlich der einzige Grund, warum sie überhaupt noch bei ihm war.

»Ich setze mich einfach hierher und warte, bis Ruth wieder da ist«, sagte sie und nahm in einem der Wartesessel Platz. »Und vertreibe mir die Zeit mit Klatsch und Tratsch.«

»Tu das.« Giselas Blick fiel auf Kurt, der dabei war, die Rasierer und Pinsel zu säubern. Er sah so gelangweilt aus, wie er sich vermutlich auch fühlte.

Was nur mit ihm war? Sie fragte sich das nicht zum ersten Mal. Früher, vor vielen Jahren, waren sie und Kurt ein Herz und eine Seele gewesen, sie waren ja auch nur ein Jahr auseinander. Doch mit den Jahren war er immer mundfauler geworden und ließ sie nicht mehr an seinem Leben teilhaben. Aber was war mit ihr? Ließ sie ihn noch in ihr Leben?

»Kann ich dir einen Kaffee bringen, Lore?« Sie musste sich räuspern, weil ihre Stimme plötzlich ganz belegt war.

Ihre Freundin blätterte in einer Illustrierten. »Lieb von dir, danke. Aber besser nicht. Ich vertrage im Moment nur Tee.«

»Ich kann dir auch einen Tee machen.«

»Nicht nötig. Geh nur.« Hannelore scheuchte sie mit einer übertriebenen Handbewegung fort. »Du hast sicher Wichtigeres zu tun, als mich bei Laune zu halten.«

Wenn es mal so wäre , dachte Gisela bekümmert. Ich wünschte, hier würde mal wieder so richtig Trubel herrschen.

»Sehen wir uns Sonntag?«, fragte sie betont heiter.

Sie hatten sich angewöhnt, zusammen Raumschiff Orion im Fernsehen zu schauen.

»Aber sicher. Wilfried macht sich ohnehin nichts aus dem ›Blödsinn‹, wie er es nennt.«

»Er weiß eben nicht, was gut ist.«

»Wie recht du hast«, erwiderte ihre Freundin trocken.


Kurz darauf kam Ruth mit eiligen Schritten herein. »Tut mir leid, ich weiß, ich bin spät. Aber Doktor Klement ist immer so schrecklich pingelig.« Sie zog ihren Mantel aus und schlüpfte in den Kittel. »Ist Kundschaft da?« Es klang hoffnungsvoll.

»Hannelore wartet auf dich.«

»Auf mich?«, fragte sie überrascht.

»Marianne hat gleich noch Frau Langenberg, und ich dachte … Na, du hast doch heute niemanden mehr.«

»Überarbeitet bin ich jedenfalls nicht, wenn du das meinst.«

»Nun sei doch nicht gleich so angefasst.«

»Wieso angefasst?« Ruth schaute sie irritiert an. »Ich habe nur gesagt, dass ich nicht überarbeitet bin. Und das stimmt nun mal. Es verirrt sich ja kaum noch jemand hierher.«

»Du vergisst unsere treuen Kunden, liebe Ruth.«

»Nein, die vergesse ich ganz bestimmt nicht. Sie …« Ruth winkte ab. »Schon gut. Ich kümmere mich um Hannelore.«

Gisela blieb gedankenverloren stehen und trommelte mit ihren langen, rot lackierten Nägeln auf dem Tresen.

Marianne kam mit ihrer Kundin und half ihr in den Mantel. »Bis nächstes Mal, Frau Herwig.« Sie wartete, bis die Kundin bezahlt hatte und gegangen war, dann sagte sie: »Alles in Ordnung, Mama? Du bist ganz blass.«

»Blass?«

»Schau in den Spiegel.«

Gisela drehte sich um und erschrak vor ihrem eigenen Spiegelbild. Grundgütiger! Sie sah aus wie eine alte, vergrämte Frau, dabei war sie erst einundvierzig.

»Mir geht’s gut, Marianne«, versicherte sie. »Musst du dich nicht um Frau Langenberg kümmern?«

»Bin schon weg.«

Gisela lehnte sich an den Tresen und rieb sich die Stirn. Wann war sie das letzte Mal fröhlich und beschwingt gewesen, unbefangen und unbeschwert? Sie erinnerte sich nicht.

Sie schaffte es einfach nicht, mit Dietmars Tod abzuschließen und weiterzumachen. Und das Seltsame war: Sie wusste nicht mal, ob sie das überhaupt wollte.


Nach Feierabend drehte sie das Schild in der Tür um, als Kurt zu ihr kam. Schmächtig und eingefallen sah er mit einem Mal aus, dabei war er ein Baum von einem Mann. »Was ist mit dir? Du läufst mit einem Gesicht herum …«

»Das sagst ausgerechnet du?« Er klang müde.

»Was soll das jetzt wieder heißen?« Sie funkelte ihn an. »Reiß dich wenigstens vor der Kundschaft zusammen.«

»Als würde ich das nicht tun, Gisela. Keine Sorge, die sieht mich nur strahlend und bester Laune.« Es klang hämisch.

»Ach ja?«, fragte sie genauso hämisch. »Ach, Kurt …«, sagte sie dann.

Früher hatte er seine Gedanken mitgeteilt, sie mit einbezogen, auch mal um Rat gefragt – und sogar auf sie gehört. Früher. Gott, war dieses Früher lange her! Ein ganzes Leben, so kam es ihr vor.

Er legte sein Trinkgeld – genau fünfundvierzig Pfennig – auf den Tisch und zog seinen Kittel aus. Mit unbewegter Miene nahm er den Mantel von der Garderobe, den Rücken ihr zugewandt. »Ich hab übrigens die Verlobung gelöst«, sagte er wie nebenher.

»Wie bitte? Mit Heidelinde?«

»Nein, ich war nebenbei noch mit zwei anderen Frauen verlobt. Natürlich mit Heidelinde.«

Ihr fiel das Geldstück aus der Hand, das sie ins Sparschwein stecken wollte. Und weil ihre Hand zitterte, stieß sie gegen das Schweinchen, das auf die Erde fiel und in ein gutes Dutzend Teile zerbrach. »Was werden die Leute jetzt sagen? Sie haben sich sowieso schon das Maul zerrissen, weil Heidelinde bei dir übernachtet hat, obwohl ihr nicht verheiratet seid.«

»Ach ja? Davon ist mir nichts zu Ohren gekommen.«

»Mir schon. Und jetzt das. Weißt du, wie ich deinen Lebenswandel finde, Kurt?«

Er drehte sich zu ihr um. »Nein, aber es interessiert mich brennend, Gisela.«

»Liederlich.«

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er nicht überrascht.

»Ständig hast du neue Freundinnen, mit keiner hältst du’s lange aus. Oder ist es umgekehrt, Kurt?«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute sie herausfordernd an. »Ich weiß gar nicht, wieso ich mir das anhöre.«

Sie spürte heftige Wut aufsteigen, und sie glaubte, sich nicht mehr lange beherrschen zu können. Was sie jedoch verwirrte, war die Tatsache, dass sie eine unbändige Lust hatte, mit ihm zu streiten. Sie wollte ihm Dinge an den Kopf werfen, die sie später sehr wahrscheinlich bereuen würde. Sie erschrak über sich selbst. Das war doch nicht sie!

Kurt bückte sich, um die Scherben einzusammeln.

»Nicht anfassen!« Ihre Stimme war schrill. »Ich mache das schon.« Mit zittrigen Händen fegte sie die Scherben zusammen. »Manchmal muss man sich zusammenraufen, Kurt. Glaubst du etwa, bei Dietmar und mir war immer alles eitel Sonnenschein? Aber wir haben uns zusammengerissen, uns umeinander bemüht, jedes Mal wieder.« Und ihr war es nie schwergefallen.

»Vielleicht will ich mich ja gar nicht zusammenreißen.«

»Was willst du dann?«, fragte sie ihn verständnislos.

»Mich mit einer Frau wohlfühlen.«

»Wohlfühlen, auch so ein neumodischer Tinnef. Weißt du, was unsere Mutter gesagt hat? ›Erst, wenn man zusammen durch den Scheuersack gegangen ist, weiß man, was man an dem anderen hat.‹«

Kurt sah sie mit eigenartigem Blick an.

Verstört , dachte sie, während sie die Scherben in den Mülleimer unter dem Tresen schüttete. Er sieht verstört aus. Meinetwegen?

Mit einem Mal fühlte sie sich ganz elend. Manchmal ertrug sie sich selbst nicht, sie verstand nicht, was in ihr vorging. War sie traurig oder wütend? Aufgebracht oder fassungslos? Enttäuscht oder einfach nur schrecklich traurig und niedergeschlagen? Sie fand keine Worte für das, was sie fühlte. Sie fühlte so vieles – und alle Empfindungen, Emotionen strömten gleichzeitig auf sie ein.

»Geh nach Hause, Kurt.« Um ein Haar hätte sie geweint, laut aufgeschluchzt. »Lass mich allein, ja?«

Er war so schnell aus der Tür, dass sie ihn nicht mal mehr um Verzeihung bitten konnte.