13.

Marianne


Es war ein schwülheißer Tag gewesen, und sie hatte sich am Abend so oft umgezogen, dass ihr der Schweiß ausgebrochen war. Jedes einzelne Kleidungsstück war ihr zu wenig sommerlich, sie brauchte dringend ein paar neue Teile. Ärmellose Blusen, luftige Röcke, dünne Strumpfhosen, weil sie nicht gern mit nackten Beinen unterwegs war.

Schließlich war sie in ein kurzes tiefrotes Trägerkleid mit weißem Kragen geschlüpft, darunter eine dünne Strumpfhose, eine Nuance heller als das Kleid. Beides war perfekt aufeinander abgestimmt.

Um sieben am Abend hatte sie Doris abgeholt, und sie hatten in einem Lokal im Steintor einen Cocktail getrunken. Die anderen würden in der Lila Eule, einem Tanzclub, zu ihnen stoßen. Zumindest hatten sie es so vereinbart. Häufig aber gingen die Männer ihre eigenen Wege und taten hinterher so, als hätten sie die Vereinbarung vollkommen vergessen.

Marianne war an diesem Abend aufgekratzt, als hätte sie einen Schwips, dabei hatte sie bisher nur den einen Cocktail getrunken. Ein sehr angenehmes Hochgefühl vibrierte in ihr, und sie genoss die bewundernden Blicke der jungen Männer, während sie ausgelassen tanzte.

Sie flirtete gern, warum auch nicht? Sie war nicht auf der Suche nach einem festen Freund, dazu schätzte sie ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu sehr. Ein fester Freund bedeutete immer Eifersucht, Rechtfertigung und Erklärung bis hin zu Notlügen.

Am Rand der Tanzfläche stand ein gut aussehender Mann mit einem Glas in der Hand. Er trug einen modischen Rollkragenpullover, dazu eine helle Hose, das braune Haar lang und an einer Seite hinters Ohr geschoben, die Koteletten ebenfalls lang.

Er war ihr schon aufgefallen, als sie auf die Tanzfläche gegangen war. Wo Doris war, wusste sie nicht. Wahrscheinlich saß sie an irgendeinem Tisch und diskutierte mit Leuten, die sie gerade erst kennengelernt hatte.

Marianne tanzte mit fliegendem Haar an dem Mann vorbei.

Er grinste und hob sein Glas.

›No milk today‹ wurde aufgelegt, und sie warf die Arme in die Luft und drehte sich im Kreis. Der Mann beobachtete sie, das spürte sie. Sie richtete es so ein, dass ihr Haar ihn berührte, als sie an ihm vorbeitanzte. Er lächelte, und sie lächelte zurück.

Dann hob er plötzlich die Hand und winkte sie zu sich.

Sie war etwas erschrocken, Blickkontakt und ein harmloser Flirt waren das eine, mit ihm zu reden das andere.

Schüchtern ging sie zu ihm.

»Hi. Du tanzt wirklich super.« Er sprach mit englischem Akzent.

»Danke.«

»Ich bin Anthony. Und du?«

»Marianne.«

»Bist du von hier?«

Sie nickte und überlegte, einfach wieder zu gehen.

»Wie alt bist du?«

»Fast zweiundzwanzig.«

»Ich komme aus London«, sagte er laut. »Ich bin Fotograf.« Er griff in seine Hosentasche und zog ein Kärtchen hervor. »Hier, meine Visitenkarte.«

Marianne wusste nicht, was das sollte. »Ja, und?«

»Du hast ein sehr hübsches Gesicht und eine besondere Ausstrahlung. Ich sehe dich auf dem Titelbild einer Illustrierten.«

Sie lachte. »Ja, sicher. Wieso sprichst du überhaupt so gut Deutsch?«

»Meine Mutter ist Deutsche. Ich mein’s ernst, Mary-Ann.«

Mary-Ann. Sie musste wieder lachen.

Er legte den Kopf schief, nahm ihre Hand und zog sie mit sich.

Sie sträubte sich. »Was fällt dir ein! Lass das gefälligst!«

»Hey, ganz ruhig.« Er blieb stehen und sah sie ernst an. »Ich habe nicht vor, dich zu entführen und dir irgendwas anzutun. Vertrau mir.«

»Wieso sollte ich dir vertrauen? Ich kenne dich doch gar nicht.«

»Wenn du wütend bist, siehst du auch verflucht hübsch aus. Ich wünschte, ich könnte dir zeigen, was ich in dir sehe.«

»Und deshalb versuchst du, mich irgendwohin zu zerren?«

»Ich wollte dir im Spiegel zeigen, wer du bist.«

Seine Worte berührten etwas in ihr, und ihr Ärger legte sich ein wenig. »Wer bin ich denn deiner Meinung nach?«

»Das zukünftige Mannequin.«

Marianne lachte wieder. »Mannequin?«

»Du könntest so berühmt werden wie Twiggy. Die wirst du doch kennen, oder?«

»Natürlich. Jeder kennt sie.«

Anthony nickte. »Genau. Und jeder würde auch dich bald kennen.«

Eine Weile sagte sie nichts, weil sie viel zu verwirrt war. »Ruf die untere Nummer auf meiner Karte an«, schlug er schließlich vor. »Das ist die von Judy, meiner Agentin. Sie wird dir bestätigen, dass ich kein Gauner bin. Ich bin noch bis morgen Nachmittag in Bremen, dann fliege ich zurück nach London.« Als sie immer noch nichts sagte, sprach er weiter. »Du hast genau die richtige Größe, die richtige Figur, und dein Gesicht …« Er lächelte. » … ist wunderschön. Du könntest Karriere machen, Mary-Ann. Wenn du willst.«

»Und was …« Sie musste sich räuspern. »Und was müsste ich dafür tun?«

»Mit nach London kommen.«

»London.« Sie schluckte.

»Denk drüber nach, aber nicht zu lange. Und dann ruf mich an.«

In ihrem Kopf arbeitete es, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. London! Aber sie konnte doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Oder doch? Was, wenn sich ihr gerade eine Chance bot, die sie unbedingt ergreifen sollte? Weil es nur diese eine Chance geben würde?

Anthony wollte gehen, und sie hielt ihn am Arm fest. »Warte! Was, wenn ich Ja sage?«

»Dann würde ich in London alles in die Wege leiten, der Agentur Bescheid geben, die dich unter Vertrag nimmt, ein Apartment mieten …«

»Moment. Die Agentur, die mich unter Vertrag nimmt?« Ihr Herz pochte wild vor Aufregung. Plötzlich wurde einiges klarer, verständlicher. Anthony schien es wirklich ernst zu meinen.

»Okay, ich erklär’s dir genauer. Hätte ich vielleicht früher tun sollen. Ich war nur so … baff, dass ich ausgerechnet in diesem Schuppen das Gesicht entdecke. Hör zu, Mary-Ann, ich bin Fotograf, aber ich bin auch ein Scout. Schon mal gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ein Scout ist immer auf der Suche nach etwas Besonderem, in meinem Fall sind das besondere Gesichter. Und wenn mir eins auffällt, spreche ich das Mädchen an. Und wenn sie einwilligt, empfehle ich sie der Agentur, die sich dann um alles Weitere kümmert.« Er machte eine Pause und betrachtete sie. »Wirst du darüber nachdenken?«

Sie nickte zögernd.

»Gut. Okay.« Er stupste sie freundschaftlich an. »Und du rufst mich an?«

Wieder nickte sie. Sie war wie berauscht, plötzlich fügte sich alles zusammen, und sie sah sich bereits auf einem Laufsteg gehen. Sie hatte insgeheim immer gehofft, dass sie eines Tages die Gelegenheit bekommen würde, entweder in einem schicken Frisiersalon oder vielleicht doch in einem Modegeschäft arbeiten zu können. Sie hätte es ihrer Mutter erklärt, die hätte es bestenfalls verstanden, und sie hätte Salon Fellbach den Rücken gekehrt. Nun vor einem Fotografen aus London zu stehen, der in ihr etwas sah, das sie selbst noch nie in sich gesehen hatte und wohl auch nie gesehen hätte, war sehr wahrscheinlich das, was man Schicksal nannte.

»Ja, ich rufe dich an, Anthony«, bekräftigte sie und fühlte sich mit einem Mal älter, reifer, erwachsener. Sie würde etwas tun, was sie sich nie zuvor zugetraut hätte.

Er deutete auf die Visitenkarte. »Judy, die Agentin, spricht übrigens ein bisschen Deutsch.« Er nickte ihr zu, lächelte und verschwand.

Marianne starrte auf die Karte in ihrer Hand. Hätte sie gleich zusagen sollen? Hätte sie einfach ihren Bauch entscheiden lassen sollen, etwas, was sie noch nie getan hatte? Sie war immer so zögerlich und träge gewesen.

»Was hast du denn da?« Doris stand plötzlich neben ihr und nahm ihr die Karte aus der Hand. »Fotograf? Was soll das, Marianne?«

»Er hat mich angesprochen. Er will mich mit nach London nehmen.«

Doris lachte lauthals. »Der will Nacktfotos machen, was denn sonst? Sei doch nicht so doof und glaub dem auch nur ein Wort.«

»Er sagt, ich kann als Mannequin arbeiten. Es gibt sogar eine Agentur, die mich unter Vertrag nimmt.« Es auszusprechen fühlte sich nur noch halb so verrückt an.

Doris grinste. »Na klar sagt er das. Du bist ihm auf den Leim gegangen, Marianne. Menschenskind, du bist doch sonst nicht so gutgläubig.«

Marianne drehte sich um und ging in Richtung Garderobe. Handtasche und Häkeljacke hatte sie dort abgegeben.

»Wo willst du denn jetzt hin?« Doris kam hinter ihr her.

»Ich muss mit jemandem reden, der mich nicht für doof hält.«

»Jetzt sei doch nicht sauer, meine Güte. Komm, ich spendier’ dir was zu trinken, und dann erzählst du mir alles ganz in Ruhe.«


Sie hätte wirklich einfach gehen sollen, doch sie hatte Doris’ Drängen nachgegeben. »Und du glaubst, er ist kein Betrüger oder so was?«, sagte ihre Freundin, als sie alles haarklein berichtet hatte.

»Anfangs schon. Ich werde diese Judy anrufen, seine Agentin. Sie soll mir bestätigen, dass er ein … anständiger Kerl ist.«

»Anständig.« Doris kicherte. »Sehr anständig finde ich es nicht, dass er durch die Gegend zieht und junge Mädchen nach London verschleppen will. Und Mannequin …« Sie schnaubte. »Kannst du dir wirklich vorstellen, in einem komischen Fummel über einen Laufsteg zu stolzieren?«

»Das sind keine Fummel, Doris, das ist Mode.«

Ihr ging durch den Kopf, dass sie früher davon geträumt hatte, schicke Kleidung zu verkaufen. Und nun bekäme sie die Chance, sie zu tragen und vorzuführen. »Und ja, ich kann es mir vorstellen«, sagte sie schließlich mehr zu sich selbst.

Doris starrte sie an, als hätte sie gesagt, sie würde auch splitternackt über den Laufsteg gehen.

Eine Weile schwiegen sie, bis Doris seufzte. »London ist ganz schön weit weg.«

»Ich glaube, es ist eine große Chance. Die bekommt man vielleicht nur einmal im Leben. Und ich wäre blöd, wenn ich sie nicht ergreifen würde.«

»Du hast dich also entschieden?«

»Ich glaub schon.« Marianne stand auf und küsste sie auf die Wange.

»Rufst du mich an?«

Sie musste lachen. »Wie oft ich das heute Abend schon gehört habe … Bis dann, Doris.«

Als die schwere Tür hinter ihr zufiel und sie auf der Straße stand, hob sie das Gesicht in den dunklen Himmel, an dem nur eine Handvoll Sterne funkelten.

War das der berühmte Startschuss in ein neues Leben? War das der Moment, auf den sie insgeheim zwar gewartet, vor dem sie aber auch Angst gehabt hatte? Weil sie eine Entscheidung treffen müsste, die ihr ganzes Leben verändern würde?

Marianne schlüpfte in ihre lange Häkeljacke und machte sich auf den Weg zu Ruth. Sie musste unbedingt mit jemandem reden, der sie verstand.